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"Ein guter Tag für Deutschland" (02.07.2009)
"Ein guter Tag für Deutschland"
Das Bundesverfassungsgericht hat heute entschieden, dass der Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist.Klaus HÄNSCH, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und SPD-Abgeordneter, zeigte sich über den Richterspruch sehr erfreut: "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist gut für Deutschland. Es wahrt die europäische Handlungsfähigkeit unseres Landes. Alles andere wäre gegen die deutschen Interessen in Europa gewesen. Es hat die Offenheit der deutschen Verfassung für Europa ausdrücklich bestätigt."
Die Entscheidungsgründe ließen erkennen, wie streng das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon untersucht hätte. Klaus HÄNSCH: "Der Vertrag hat diese Prüfung glänzend bestanden." Nicht der Reform-Vertrag, sondern das von Bundestag und Bundesrat beschlossene Begleitgesetz verstoße gegen das Grundgesetz. Nicht Brüssel, sondern Berlin müsse nachkorrigieren.
Der SPD-Europaabgeordnete begrüßte zudem, dass das Bundesverfassungsgericht der künftigen Entwicklung der Europäischen Union klare Grenzen gesetzt hätte. "Das Urteil lässt sowohl der deutschen als auch der europäischen Politik Spielraum und gibt ihr damit zugleich die Sicherheit, dass die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im Kern nicht angetastet wird."
Das Bundesverfassungsgericht, so HÄNSCH weiter, hätte "eindeutig und richtungweisend" entschieden. "Es hat den gleichen Weitblick und die gleiche Vorsicht gezeigt, von denen der Konvent sich bei der Ausarbeitung des Verfassungsvertrages 2003 hat leiten lassen."
Klaus HÄNSCH war Mitglied des Präsidiums des Verfassungskonvents.
Interview mit der Deutschen Welle anlässlich der internationalen Geberkonferenz für den Gazastreifen im ägyptischen Scharm el Scheich (03.03.2009)
Aber der Gaza-Streifen wird von der radikal-islamischen Hamas kontrolliert, die an der Konferenz in Scharm el Scheich nicht teilnehmen durfte. Wie soll denn das Geld bei den Menschen dort ankommen?
Ich denke, dass es möglich ist, das über die Vereinten Nationen und die Organisation Unrwa (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) zu machen. So ist es ja auch in der Vergangenheit schon gelaufen. Es ist richtig, dafür zu sorgen, dass das Geld nicht in die Hände der Hamas kommt und dann für Waffen ausgegeben wird.
Wie stehen Sie denn dazu, die Hamas bei Gesprächen grundsätzlich zum Nahost-Friedensprozess einzubeziehen? Ihr Kollege Martin Schulz von den Sozialdemokraten ist beispielsweise dafür.
Ich sehe das nicht so einfach, weil die Einbeziehung unter gegenwärtigen Verhältnissen bedeuten würde, dass man Mahmud Abbas abwertet und nur deutlich macht, dass der, der schießt, eines Tages auch am Verhandlungstisch sitzt und sich hineinschießen kann. Ich glaube, dass es richtig ist, dass beide Seite der Palästinenser - also Westjordanland und Gaza - sich zunächst einmal einigen müssen, die Fatah und die Hamas. Und wenn es dabei zu der Einigung kommt, dass auch die Hamas mit am Tisch sitzen soll, aber in einer Palästinenserdelegation, dann ist dagegen nichts einzuwenden.
Jetzt spielen Sie den Ball zu den Palästinensern. Und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sagt aber, was die palästinensische Regierung im Gaza-Streifen in den letzten 15 Jahren mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufgebaut hat, das hat Israel nun zerstört. Das ist ja eine klare Anklage an Israel und auch die Aufforderung, in diesem Zusammenhang mehr auf Israel einzuwirken.
Es ist richtig, dass wir auf Israel einwirken müssen. Es ist auch richtig, dass Israel bereit sein muss, den Friedensprozess wieder aufzunehmen. Das steht ja im Augenblick, im Zuge der Regierungsbildung und der neuen Mehrheiten in Israel, in Frage. Da ist internationaler Druck schon angemessen. Und der internationale Druck muss sich vor allem darauf richten, dass die Israelis aufhören mit der Siedlungspolitik im Westjordanland. Das muss eingestellt werden, um die Fatah-Regierung im Westjordanland gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung in ihren Friedensbemühungen zu unterstützen.
EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner hat betont, wie wichtig ein Zugang von Israel zum Gaza-Streifen ist, um auch die Hilfe in den Gaza-Streifen zu bringen. Hätten da nicht klarere Bedingungen - auch für die Auszahlung des Geldes - formuliert werden müssen?
Ich weiß nicht, wie man das eine mit dem anderen verbinden kann. Es ist doch eine ganz klare, notwendig technische Forderung, dass die Hilfen, die wir bieten wollen - übrigens nicht nur die EU, sondern auch arabische Staaten - auch tatsächlich in den Gaza-Streifen hineinkommen. Und das ist gegenwärtig bei dieser Teilöffnung bei weitem nicht der Fall. Die Öffnung der Grenze ist eine Voraussetzung dafür, dass überhaupt auch humanitär geholfen werden kann.
Müsste man da nicht stärker auf Israel einwirken, dass das auch passiert?
Das ist ja ein Gegenstand der gegenwärtigen Bemühungen. Das gehört mit zu dem Friedensprozess, der zwischen Palästinensern und Israel wieder neu aufgenommen werden muss. Es ist völlig klar: Humanitäre Hilfe muss durchgehen. Die Grenzen müssen für zivile Güter und für humanitäre Hilfe geöffnet werden und das Waffenhandeln und Hineinschmuggeln in den Gaza-Streifen muss aufhören. Auch das ist notwendig, dass sich die internationale Gemeinschaft da engagiert.
Das Interview führte Sabine Faber
Streitgespräch zwischen Gabi Zimmer (PDS/Linke) und Klaus Hänsch (SPD) über den Vertrag von Lissabon. (20.05.2008)
Zimmer: Kein Widerspruch.
Hänsch: Der Vertrag ist von der Lesbarkeit her eine Zumutung, vom Inhalt nicht. Da bringt er die EU ein großes Stück voran.
Frage: Herr Hänsch, Sie waren Mitglied im Präsidium des Konvents, der die Verfassung ausarbeitete, aus der dann ein Mini-Vertrag wurde. War's das, oder werden die Europäer in absehbarer Zukunft doch noch eine Verfassung bekommen?
Hänsch: Das ist kein Mini-Vertrag. Alle wesentlichen Teile der Verfassung sind darin eingegangen. Ich kann nicht sehen, dass die Regierungen und Parlamente der EU in absehbarer Zeit eine neue Vertragsreform unternehmen werden.
Frage: Ganz summarisch: Ist Lissabon besser als Nizza?
Hänsch: 20, 30, 40 Mal besser als Nizza!
Zimmer: Besser als Nizza, aber schlechter als notwendig.
Frage: Sie lehnen den Vertrag ab, obwohl Sie sagen: ein Fortschritt gegenüber dem, was wir haben?
Zimmer: Ja. Das Entscheidende ist: Der Vertrag versperrt den Weg zu einer wirklichen Verfassung.
Frage: Frau Zimmer, Ihre Partei kritisiert den Vertrag als Schritt zum militärischen Kerneuropa, zur Militärunion. Es gibt aber schon eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Rüstungsagentur und Militärausschuss. Schreien Sie nicht einem Zug hinterher, der abgefahren ist?
Zimmer: Überhaupt nicht. Wenn ich etwas für falsch halte, muss ich auf Veränderung drängen. Wenn sich die EU auf einer solchen Grundlage definiert, muss ich sagen: Ändert das, sonst kriegt ihr unsere Zustimmung nicht. Von der EU wird etwas anderes erwartet: eine klare Ausrichtung auf das friedliche Miteinander der Völker. Nicht der Anspruch, militärisch mit den USA zu konkurrieren. Außerdem fehlt es an der parlamentarischen Kontrolle.
Hänsch: Die EU braucht eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir müssen in der Lage sein, überall in der Welt, wo Sicherheit bedroht ist und Menschen durch Mord und Völkermord bedroht sind, einzugreifen. Dazu muss sich die Europäische Union die Instrumente schaffen. Deren Einsatz ist strikt gebunden an die UN-Charta und damit völkerrechtlich eingehegt. Und: Über den Einsatz deutscher Soldaten wird in Deutschland entschieden.
Frage: Der deutsche Parlamentsvorbehalt ...
Zimmer ... wird ausgehebelt! Bei Eilentscheidungen sind alle zur Loyalität und zur Mitfinanzierung verpflichtet, auch wenn sie gegen den Einsatz sind. Nur mit einer Stimmenthaltung kann die Bundesregierung dafür sorgen, dass der Bundestag überhaupt noch gefragt wird.
Hänsch: Die Bundeswehr bleibt eine Parlamentsarmee. Das kann durch den Vertrag nicht ausgehebelt werden. Das Grundgesetz bleibt gültig, ein Angriffskrieg bleibt ausdrücklich verboten.
Zimmer: Das kommt doch immer auf die Auslegung an. Wer definiert denn zum Beispiel, was „europäisches Sicherheitsinteresse" ist, zum Beispiel bei der Energieversorgung? Ich habe keinen Bedarf an einer europäischen Armee oder Einsatztruppen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Einsatz nötig wird, kann man sich unter Führung der UN daran beteiligen.
Hänsch: Von einer europäischen Armee steht kein Wort im Vertrag!
Frage: Es steht da aber, dass die Entwicklung „zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann".
Hänsch: Kann! Dazu ist ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedstaaten, also auch der Bundesrepublik, erforderlich.
Frage: Sehen Sie perspektivisch eine Notwendigkeit für eine europäische Armee?
Hänsch: In den nächsten 10. 20 Jahren ist das weder möglich noch nötig.
Zimmer: Und was ist mit der Europäischen Rüstungsagentur? Da frage ich mich, ob die EU die Agentur kontrolliert oder umgekehrt. Sie hat das Recht zu entscheiden, was militärisch nötig ist und wo nachgelegt werden muss.
Hänsch: Die Agentur hat keine Entscheidungsbefugnisse. Entscheidungen über Rüstung und Ausgaben für Rüstung liegen allein bei den Mitgliedstaaten.
Herr Hänsch, der Lissabonner Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Im Grundgesetz steht sowas nicht. Ist das nicht zugleich ein Freifahrtschein für Rüstungsexporte?
Hänsch: Das ist kein Freifahrtschein. Aber wenn ich es für notwendig halte, dass Soldaten der EU in Krisensituationen eingesetzt werden können, muss ich dafür sorgen, dass sie das beste Material zur Verfügung haben. Über Rüstungsexporte oder deren Einschränkungen bestimmt nicht der Vertrag, sondern die Regierungen.
Frage: Frau Zimmer, ist das tatsächlich ein Gewinn, wenn alles Militärische unter rein nationaler Regie verbleibt?
Zimmer: Es sollte in nationaler Regie verbleiben, mit einer klaren Friedensausrichtung. Die europäischen Staaten haben aufgrund ihrer Geschichte ein sehr unterschiedliches Interesse am Einsatz ihrer Verteidigungsmittel. Wenn ich ihnen das wegnehme, nehme ich ein Stück Friedensfähigkeit weg, zugunsten irgendwelcher angeblicher europäischer Interessen, etwa bei einem Streit um Energieversorgung mit Russland. Ich möchte nicht, dass ein Vertrag eine solche Option überhaupt möglich macht.
Hänsch: Die EU nimmt den Mitgliedstaaten nichts weg, sondern diese übertragen etwas auf die EU. Der Generalsekretär der UN hat sich bereits mehrfach an die EU - nicht an einzelne Mitgliedstaaten - mit der Bitte um militärische Hilfe gewandt, zum Beispiel im Kongo. Und was Russland anlangt - das war einer sichersten Energie- Lieferanten schon zu UdSSR-Zeiten.
Frage: Ein Vertrag, der die EU auf soziale Marktwirtschaft verpflichtet, Vollbeschäftigung und Gleichheit zum Ziel erklärt und den freien Wettbewerb zum Instrument zurückstuft, kann nicht unsozial sein. Richtig?
Zimmer: Nicht richtig. Die Grundrechtecharta formuliert Ziele, die ich unterstütze, die aber oft nicht individuell einklagbar sind. Da wurde eine Chance vertan, die Identifikation mit der EU zu unterstützen. Außerdem lässt die Rechtsprechung des EU-Gerichts befürchten, dass bei der Auslegung die Interessen des freien Binnenmarkts über die Schutzrechte der Beschäftigten gestellt werden.
Hänsch: Der Vertrag lässt alle Möglichkeiten offen, eine sozial gerechtere Politik in der EU zu machen. Dafür brauchen wir aber Mehrheiten - im EU-Parlament wie in den Mitgliedstaaten. Wenn die Liberalen etwa „die wohlfahrtsstaatlichen Elemente" des Vertrags kritisieren, sind wir offenbar auf dem richtigen Weg.
Frage: Herr Hänsch, haben Sie sozialpolitische Bauchschmerzen mit dem Lissabon-Vertrag? Oder ist das eine prima sozialdemokratische Rechtsgrundlage?
Hänsch: Hätte ich den Vertrag allein formulieren können, wäre er sozialdemokratisch. Aber es ist nichts drin, das mir wirklich Bauchschmerzen macht. Die Grundlage ist da - ich brauche bloß die Mehrheiten.
Frage: Die Mehrheiten in den EU-Gremien sind gegen die Linke. Ist unter diesen Umständen der Vertrag nicht mehr als die Linke erwarten durfte?
Zimmer: Es ist richtig, dass die Linke mit ihren Positionen in der Minderheit ist. Aber das macht die Kritik nicht falsch. Der Lissabon-Vertrag hat brauchbare Bestandteile - zusätzliche Rechte für das Parlament zum Beispiel. Aber in der Abwägung zwischen dem, was ich unterstütze, und dem, was ich nicht unterstützen kann, neigt sich die Waage zu einem klaren Nein.
Frage: Was leistet der Vertrag beim Abbau des Demokratiedefizits der Union?
Zimmer: Sein Zustandekommen sendet das falsche Signal an die Bürgerinnen und Bürger: Ihr habt euch erdreistet, in zwei Ländern gegen die Verfassung zu stimmen. Also nehmen wir euch - außer in Irland - das Recht auf Mitsprache. Die EU bleibt eine Union der Regierungen. Das Bürgerbegehren ist ein richtiger Schritt, aber die Umsetzung bleibt vage. Und bei Organen wie der Rüstungsagentur fehlt die parlamentarische Kontrolle.
Hänsch: Es ist demokratisch, dass jedes Land nach seiner eigenen Verfassung über den Vertrag entscheidet. Die EU ist keine Demokratie-Lehrmeisterin. Bis auf wenige Ausnahmen wird das EU-Parlament gleichberechtigter Gesetzgeber - ein Gewinn für die Demokratie, ebenso wie das neue Instrument des Bürgerbegehrens. Auch die nationalen Parlamente bekommen ein stärkeres Mitsprache-Recht.
Frage: Wann bekommen wir das erste EU-Bürgerbegehren, und was könnte der Gegenstand sein?
Zimmer: Beispielsweise die Frage, wie weit die Bürgerinnen und Bürger über die Grundlagen ihrer Union demokratisch entscheiden können. Solche Initiativen werden in Kürze gestartet werden.
Hänsch: Das wird bald nach Inkrafttreten des Vertrags passieren. Die Bürgerbegehren können aber nicht auf dem Weg über die EU die nationalen Verfassungen umgehen. Sie müssen sich auf die europäische Politik konzentrieren. Die Bürger könnten sich etwa für oder gegen die Kernkraft aussprechen. Die Konsequenz müssen aber die Mitgliedstaaten ziehen, weil die EU das nicht entscheiden darf.
Frage: Vollenden Sie bitte diesen Satz: „Wenn dieser Vertrag Recht wird, dann werden Europas Bürger ...
Zimmer: .. dann wird den europäischen Bürgerinnen und Bürgern die Chance genommen, sich mit dem Projekt Europäische Union zu identifizieren."
Hänsch: ... dann werden Europas Bürger in einer handlungsfähigeren und demokratischeren Union leben, die auch mit 27 Mitgliedstaaten eine Zukunft hat"
Redaktionshinweis: Das Gespräch führte Knut Pries. Erschienen u.a. in WAZ, Kölnische Rundschau, Ostthüringer Zeitung (20.5.)
Beitrag für die Sonderseite zum EU-Gipfel der Nordwest-Zeitung in Oldenburg (19.06.2007)
Die EU würde übersichtlicher. Die Bürgerinnen und Bürger können klarer erkennen, wo die Union etwas zu sagen hat und wo nicht. Und er schreibt genauer fest, wer was wo und wann mit welcher Berechtigung in Brüssel und Straßburg entscheidet. Mehr Klarheit bedeutet mehr Verantwortlichkeit. Das direkt gewählte Europäische Parlament wird gestärkt. Dadurch bekommt die Wahlentscheidung der Bürger ein größeres Gewicht. Der neue Vertrag verschafft den Bürgerinnen und Bürgern in der EU die Möglichkeit, sich mit europaweiten Volksbegehren auch direkt in die Brüsseler Entscheidungsprozesse einzuschalten. Das ist ein deutliches Mehr an Demokratie.
Bei den Abstimmungen im Ministerrat bekommt die Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten ein größeres Gewicht. Mit dem Versuch, diese Reform rückgängig zu machen, diskreditiert sich Polen unter dem Gesichtspunkt der Demokratie selbst.
Der Verfassungsvertrag macht die EU-Grundrechte-Charta für die EU-Institutionen verbindlich - ob direkt durch den Vertragstext oder durch einen „Querverweis", ist zweitrangig. Die Charta macht deutlich, dass wir Europa nicht nur für die Freiheiten des Marktes, sondern auch für die Freiheitsrechte der Bürger einigen. Der Verfassungsvertrag ermöglicht eine wirksamere Verfolgung und angemessenere Bestrafung schwerer grenzüberschreitender Verbrechen. Das wird die Sicherheit für die Bürger erhöhen.
Die Union wird die Interessen der Europäer weltweit mit größerem Nachdruck vertreten können. Bei europaweiten Meinungsumfragen gaben 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger an, dass sie eine Union wollen, die in der Welt mit einer Stimme spricht. Der Kampf gegen den weltweiten Klimawandel, dessen Folgen jeder Einzelne in Europa zu spüren bekommt, kann besser gemeinsam organisiert und mit größerem Nachdruck geführt werden.
Wenn es der Bundeskanzlerin als Vorsitzende des Europäischen Rats gelingt, den Weg für einen zweiten Anlauf freizuschaufeln, kann die große Erfolgsgeschichte der Einigung Europas fortgesetzt werden. Der neue Vertrag würde die Europäische Union an ihre neue kontinentale Dimension anpassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Europäer in einer sich rasch ändernden Welt in Augenhöhe mit den neuen Mächten und Machtblöcken selbstbestimmt leben können.
Den Mächtigen der Welt mag eine große Europäische Union mit dem politischen Gewicht eines Luftballons gerade recht sein - den Bürgern nutzt sie nichts. Mag sein, dass ein Scheitern des Gipfels bei den Bürgerinnen und Bürgern nur ein leichtes politisches Unwohlsein hervorruft. Aber es wird schwere Spätfolgen haben - nicht nur für die Zukunft der Europäischen Union, sondern gerade auch für die Bürgerinnen und Bürger.
A Reply to Roman Herzog and Lüder Gerken (Juli 2007)
This is heavy stuff. It is presented to us by authors who are not known to be Euro-phobes or populists. They do not lose themselves in well-meaning clouds of criticism concerning the length of the Constitution, or in putting the blame on ‘the people in Brussels'. Their concerns have to be taken seriously. That is why their suggestions need to be addressed, both as to principle and detail.
For Herzog and Gerken, the central evil is ‘inappropriate centralization'. All elements of national democracy are absorbed by this evil and turned into Euro-scepticism and agony on the part of the citizens. In Germany, this absorption power has caused the notorious 84 to 16 ratio between the European and national origin of legislation, as the authors claim. The problem with this analysis is that it compares apples not only with oranges, but also with a whole basket full of fruit. The numerical proportion given above concerns all EU legislation and all German national legislation, whereas its place in the chain of argument of Herzog and Gerken suggests that it concerns the relationship between inappropriate European centralization (84%) and appropriate national legislation (16%). While the authors surely did not intend to say that all European Union legislation concerns inappropriate centralization, the manner in which this was presented may nevertheless strengthen prejudices.
However, even if one does not accept the dramatized account of Herzog and Gerken, one cannot deny that the European Union regulates more than is absolutely necessary, and by this centralizes inappropriately. Doubtless, this is one of the reasons of the diagnosed dangers for democracy and lack of acceptance of the Union in the member states. Nevertheless, it is highly questionable whether the institutional proposals of the two authors are better medicine than the provisions of the European Constitution. The question needs to be asked: are their proposals capable of producing the clarity, transparency and control of European legislation, which is needed to make the citizens better understand and accept the Union?
In order to avoid inappropriate centralization, the European Constitution should contain a closed list of Union competences, but instead it introduces the ‘mixed competencies' (they probably mean ‘shared competences', which is not only a linguistic difference, see the Articles I-12(2) and I-14)), which opens up a floodgate for an even more dynamic assumption of competences, according to Herzog and Gerken. It is true that in the European Constitution the powers transferred by the member states still serve the relatively broadly conceived political goals of the Union. In the past, this has led to some broadening of competences in favor of the Union, and allowed the Union to adopt measures where national measures would have sufficed. But why then did a huge majority of the Convention, and after that even the Intergovernmental Conference, not give in to the demand for a closed list of Union competences? The answer is as easy as it is fundamental: the Union is no State. Unlike its member states, the Union always has to prove its very existence. For this, the Union's common values and goals are essential. The Union is, and will always be, a creature made by its member states to solve common problems. That is what its competencies have to be geared to and therefore the Union needs to be flexible.
In order to stop the inappropriate and creeping centralization, the authors say that the European Council should have the power to refer policy matters from the European level back to the national level. Member states can already do that today - by changing the treaty by unanimity. According to Herzog and Gerken, in the future, it should be able to do so with a majority vote. That is surprising, as it has been undisputed up until today that such a ‘Kompetenz-Kompetenz' lies with all member states together, and not with a majority of them. Accordingly, the Herren der Verträge have to agree unanimously on the broadening or diminution of Union competences. Should the competences really be (re-)transferred back to the member states, even if some of them may not want to exercise them (anymore)? It is acceptable to go forwards with a foot on the brake, but highly questionable to step on the gas while driving backwards. That is a sure way to drive your vehicle against the wall.
Herzog and Gerken identify as one of the sources of inappropriate centralization the introduction of legislation via the backdoor of the Council of Ministers, as well as the so-called package deals. The Constitution indeed does not provide for an effective institutional tool to prevent this. But how could it? Package deals are inevitable where different interests have to be joined. The game to obtain via Brussels something that one cannot obtain on the national level is well-known and frequently used by all member states. In Germany, it is particularly well developed, because not only does the federal ministry play it, but also the sixteen state governments. Why should European constitutional law stem a process that can be stemmed by Germany itself through improved national consultation and voting procedures? Instead of searching for national tools to improve political intelligence, temperance and leadership in European affairs, Herzog and Gerken call for institutional relief on the European level.
The Council of Ministers should become a parliamentary chamber in a classical two-chamber system with the constitutional duty to prevent inappropriate centralization. In practical terms, this implies that its active rights to shape legislation are diminished; the Council would be reduced to a ‘Veto-Chamber'. In fact, the right to engineer (not only to prevent) Union legislation compensates the national executives via the Council of Ministers for the transfer of national sovereign rights to the Union. The Council of Ministers, composed of democratically legitimated representatives of the national governments, is indispensable as one of two sources of legitimacy in the bipolar Union. That is at least how the Bundesverfassungsgericht saw it in its ‘Maastricht Urteil'. Even a strengthened European
Parliament could not replace the Council of Ministers in this respect. The Constitution strengthens the former significantly, but it certainly should not be the sole and all-deciding legislature of the Union. As long as the European Union remains a ‘federation of States' and the representation of its citizens in Parliament is distorted to the detriment of the bigger member states, it will not be possible to elevate the Parliament over the Council of Ministers. European Union law requires both the authority of the directly elected European Parliament and that of the democratically appointed governments in the Council of Ministers. By suggesting to limit the legislative competences of the Council of Ministers, the ideas of Herzog and Gerken do not lead to more, but to less parliamentary legitimacy of European legislation.
Executive authorities, according to Herzog and Gerken, essentially make European legislation. By this they correctly refer not to the Commission, but to the governments of the member states in the Council of Ministers. They argue that this reduces the separation of powers and, with it, parliamentary democracy in the member states. Indeed, a considerable amount of German law is made by the Council, albeit with the participation of the German government. Certainly, the principle of separation of powers is common to the member states. At the same time, it has not been realized purely and completely anywhere - least of all in the Federal Republic of Germany. A reference to the involvement of the state governments in the Federal legislation through the German Bundesrat, the compatibility of the ministerial office and parliamentary mandate, as well as the parliamentary election of the judges to the German supreme courts (in which ‘inappropriate' motives also play a role), should suffice to point this out.
It is true that this cannot be a vindication to further reduce the separation of powers through the European Union. But as long as our country adheres to the European Union as part of a federal order and a legislative community - which our German Basic Law authorizes and even encourages - it must not only be accepted that the system is different from our federal system in Germany, but also that it influences our constitutional principles. In line with this, the German Bundesverfassungsgericht declared in its ‘Maastricht Urteil' that it is constitutionally acceptable if the democratic legitimization in the European Union takes on different forms than in Germany as long as an equivalent level of legitimization is guaranteed. All this is more likely to be achieved by the European Constitution than by the reform proposals of Herzog and Gerken.
In order to illustrate the ‘roundup' of the national parliaments, Herzog and Gerken refer to the so-called ‘passerelle' clause in the proposed Constitution, which gives the heads of state and government of the member states the right to decide unanimously that certain matters or certain cases, which according to the European Constitution have to be decided with unanimity, may be decided by a qualified majority vote (Article IV-444). Such a decision surely leads to an expansion of competences on the European level, according to the authors. Indeed, the Constitution does not provide for ratification of such a decision by all national parliaments - but it grants each of them a right to veto. Herzog and Gerken argue that it is much harder for these parliaments ‘to topple a decision already taken by the heads of state and government'. This is a mistake. The Constitution explicitly states that the heads of state and government can take no decision until a six-month period has lapsed without any objection from one of the national parliaments (section 3). Ratification would come after such a decision - the right to veto precludes it from being taken. Therefore, the role of the national parliaments is even strengthened, not diminished. However, first and foremost: nothing and no body in the Union can hinder the German Bundestag to oblige the German government to agree to the use of the passerelle-clause only after its explicit authorization. This was, by the way, adequately regulated by the Bundestag in its Act authorizing the ratification of the Constitution. Those things that can be better regulated in the member state should not be prescribed by the European Union. The Constitution justly avoids interfering in the relationships between national executives and legislatures, and by that in the constitutional structure of the member states.
Legitimate as it may be to limit the discussion to the dangers of ‘inappropriate centralization' and its impact on national democracy, especially the separation of powers, these aspects are not sufficient for a fundamental inventory check of Europe and its Constitution, as Herzog and Gerken suggest. That has to go further, because the Union is not a state. It is a Union of states. And this is what it will always be. A national model of democracy just does not fit the Union.
The loss of competences complained of by Herzog and Gerken has less to do with the transfer of powers to the European Union than with the loss of national power to control developments concerning globalization, the environment, climate-change, health and consumer protection, security and many others matters. In these areas, the member states long ago lost their grip on the problems and their solutions, which require trans-border decisions. If, against this background of the factual loss of sovereignty for all states in Europe, we build democracy only on national institutions, we are just faking participation and control of our citizens. The European Union does not undermine national democracy. Quite the contrary, without the Union, national democracy probably would have vanished altogether. The Union is a guarantee for national participation in dealing with global problems and their repercussions on the national states.
National democracy as it has developed over the past 200 years in Europe is precious. No reasonable politician, whether he counts himself in Brussels and Strasbourg among the ‘federalists' or the ‘intergovernmentalists', or is agnostic in this matter, would recklessly sacrifice it for any European construction. In order to legitimize and limit political power, the European Constitution establishes a system of ‘checks and balances' in the European Union which is appropriate for a federation of states. By doing so, it pursues the same goal that the national separation of powers seeks to achieve. It fits with the ‘homogeneity principle', which requires a democratic level in the European Union comparable to that in Germany.
The Constitution does not turn a blind eye on the centralization tendencies. And it provides for instruments that are more suitable for a federation of states than the proposals of Herzog and Gerken. For example, it requires unanimity in the Council in order to trigger the so-called flexibility-clause (Article I-18). This means that Germany has a veto right. In contrast to the current treaties, under the Constitution, its application is subject to the control of the national parliaments (section 2). It prevents the undermining of the conferred competences by explicitly prohibiting that measures based on the Article entail harmonization of member states' laws where the Constitution excludes this (section 3).
National parliaments not only have the usual rights of ratification, inter alia, when it comes to Treaty changes or the funding of the Union, but they also obtain a role in the European legislative procedure. The Constitution will give them the power of controlling compliance with the principle of subsidiarity. That gives them an instrument to counter inappropriate centralization. By using it, indirectly they can also shape European legislation (the Länder parliaments in Germany have no such power!). It is plainly untrue that their reproach that the subsidiarity principle has been breached only entails non-mandatory consequences. If a reproof has no consequences during the ongoing legislative procedure, the parliaments have the right to file a complaint with the European Court of Justice via their respective governments. Additionally, Herzog and Gerken call for a veto for every national parliament in the ongoing procedure, as well as a right of review for every single German state. Finally they demand, for whatever legislation in such circumstances still can come about, the establishment of a ‘Court for Competency Issues', which they think will be independent because it should be made up of members from the constitutional courts of the member states. This would not fence in the capacity of action of European politics, but simply annul it.
Herzog and Gerken fundamentally mistrust the European Court of Justice. As all Union institutions - they hold - it is determined to make its contribution to ‘the development of an ever closer union' (Article 1(5) EU) - that means: to centralization. Their mistrust is nourished by judgments that amazed the ‘experts' - as if this does not occur at times with judgments of national supreme courts. Whilst scolding the Court of Justice, however, they miss one important modification: the Constitution deliberately abolishes the notion of ‘ever closer union'. In its preamble, it states that ‘the peoples of Europe are determined to transcend their former divisions and, united ever more closely, to forge a common destiny'. That is far more than semantics. It is a different perspective. The European Court of Justice has to be aware of this in the future.
Furthermore, the Constitution explicitly obliges the Union to respect ‘the equality of Member States before the constitution as well as their national identities, inherent in their fundamental structures, political and constitutional, inclusive of regional and local self-government. It shall respect their essential State functions, including ensuring the territorial integrity of the State, maintaining law and order and safeguarding national security' (Article I-5(1)). This shall and will guide the Court of Justice in its future development of European law. Against this background, there is no need for a ‘Court for Competency Issues' parallel to the Court of Justice.
The proposals of Herzog and Gerken will by no means make the European Union more transparent. They will not make it easier for its citizens to detect who is responsible for which policy in the Union. It is also unlikely that they effectively reduce the scepticism of many citizens. On the contrary, their proposals transform the sensible system of checks and balances, which the Constitution holds for the ‘Union of states and citizens', into one which leads to complete inability to act, without really improving the democratic influence for its citizens. They lead them on the wrong track into a dead-end.
Lieber eine kleinere als eine gelähmte EU (13.04.2007)
Artikel für das Internetforum der Zeitung „Welt Online"
HINWEIS: Diesen Text und die Möglichkeit ein Kommentar abzugeben finden Sie bei Welt-Online. zum Internetforum der Welt-online...Die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden haben den Verfassungsvertrag in zwei von 27 EU-Mitgliedstaaten scheitern lassen. In der Regierungskonferenz im Herbst steht mehr auf dem Spiel. Finden die 27 EU-Mitgliedstaaten keine gemeinsame Lösung, hat das eine ganz andere politische Dimension. Dann scheitert der Vertrag nicht an zwei Ländern, sondern an allen. Das legt die Axt an die Wurzel des großen Projekts „einiges Europa". Die Bundeskanzlerin hat Recht: "Die Welt wartet nicht auf Europa." Wenn wir so weiter machen, hat die Welt von Europa auch nichts zu erwarten.
Die Institutionen und Entscheidungsverfahren der Europäischen Union sind vor 50 Jahren für eine Wirtschaftsgemeinschaft von sechs Staaten geschaffen worden. Sie sind für die heutige politische Union mit 27 Mitgliedstaaten unter den Gesichtspunkten der Effizienz und der Demokratie untauglich geworden. Durch den Verfassungsvertrag würden sie so reformiert, daß die größer gewordene Union nach innen handlungsfähig bleibt, nach außen handlungsfähiger wird und ihre Entscheidungen auf einer breiteren demokratischen Grundlage stehen.
Eine große Union mit dem politischen Gewicht eines Luftballons mag den Mächtigen der Welt recht sein - den Europäern nutzt sie nichts. Ohne substantielle Reform wird die Union zerfallen, nicht mit einem lauten Knall, aber mit einem leisem Wimmern, wie T.S. Eliot sagen würde. An der Unfähigkeit auf neue Verhältnisse durch Anpassung ihrer inneren Strukturen zu reagieren, sind schon Staaten zerbrochen, die festgefügter waren als es der Staatenverbund der EU je sein kann.
Noch ist es nicht so weit. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten Erstaunliches erreicht: Der EU-Verfassungsvertrag, hier und da mit klammheimlicher Freude schon für tot erklärt, steht wieder zur Debatte. Beschädigt zwar, aber durchaus lebendig. 25 von 27 Mitgliedstaaten halten ihn weiterhin für notwendig, unter ihnen auch die „Neinsager" Frankreich und, wenn auch zurückhaltender, die Niederlande. Das gilt zumindest für den Teil I mit den Institutionen und Entscheidungsverfahren.
Die Chancen, wenigstens die Substanz des Vertrages zu erhalten, sind gestiegen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel sind noch viele Hindernisse zu überwinden und immer noch ist es unklar, wo er letztlich endet. Unverändert kann der Vertrag den Parlamenten in Frankreich und den Niederlanden kaum vorgelegt werden - schon gar nicht zu einem zweiten Referendum. Andererseits haben 18 Staaten den Vertrag, so wie er ist, bereits ratifiziert. Ob sie alle auch einen neuen ratifizieren würden, ist durchaus nicht sicher.
Das erste Kunststück der kommenden Monate wird also darin bestehen, einen Konsens über formale und inhaltliche Änderungen am Verfassungsvertrag zu erreichen, ohne in Neuverhandlungen über das Ganze abzugleiten. Gelingt das nicht, werden zweifellos alle Mitgliedstaaten neue Wünsche und Forderungen auf den Tisch legen . Das sprengt den Zeitrahmen und programmiert das Scheitern der Regierungskonferenz.
Das zweite Kunststück besteht darin, die Lösung so aussehen zu lassen, daß die französische und die niederländische Regierung sagen können, der Vertrag sei in wichtigen Punkten ein neuer und die Regierungen der 18 Ratifikationsstaaten, er sei im wesentlichen der alte. Also wird der Vertrag einerseits abgespeckt werden z.B. bei der Nomenklatur („Verfassung") und den Symbolen (Fahne, Hymne usw.) sowie den aus dem Nizza-Vertrag übernommenen Teilen. Andererseits wird er durch einige erläuternde Zielbeschreibungen, etwa im Blick auf den Klimaschutz oder die soziale Dimension angereichert werden.
Welche Form, welchen Inhalt und welchen Namen der künftige EU-Grundvertrag auch immer annimmt - er wird im ganzen wie im einzelnen das Ergebnis einer komplizierten Kompromißsuche sein. Die Verfassungsfreunde werden dafür weit gehen müssen. Möglicherweise sogar so weit, „opt-outs" einzelner Staaten in bestimmten Politikbereichen zu akzeptieren. Aber der Preis, den Vertrag seiner Substanz, also der Teile I und II zu berauben, darf für keinen Kompromiß gezahlt werden. Zum einen wäre ein solcher Vertrag überflüssig. Zum anderen sichert in Staaten, die ohnehin ratifikationsunwillig sind, kein Kompromiß - schon gar nicht einer über institutionelle Fragen - eine Mehrheit im Parlament oder in einem Referendum.
Das Ziel bleibt, daß sich bis Ende 2007 alle 27 EU-Mitgliedstaaten auf einen EU-Grundvertrag einigen und alle ihn bis Anfang 2009 ratifizieren. Das ist aus vertragsrechtlichen wie aus europapolitischen Gründen richtig. Wenn aber der Versuch mißlingt, das fast Unmögliche zu schaffen, muß das fast Undenkbare gedacht werden: Der Austritt der Unwilligen und das Vorangehen der Willigen. Ein Land, das nicht mehr willens oder in der Lage ist, die EU auf dem Kompromißweg weiterzuentwickeln, weil es auf der Durchsetzung allein seiner Vorstellung von Gestalt und Aufgabe der künftigen Union beharrt, muß sich selbst fragen, ob es überhaupt noch dazugehören will.
Natürlich kann die Union keinen Mitgliedstaat „hinauswerfen", selbst dann nicht, wenn er sich als völlig kompromißunfähig erwiesen hat. Die geltenden Verträge lassen das nicht zu. Aber eine Art „Bundeszwang", ein Land, das austreten will, in der EU festzuhalten, gibt es auch nicht. Gewaltanwendung verbietet sich ohnehin. Ein in Kraft getretener Verfassungsvertrag würde im übrigen im Unterschied zu den Römischen Verträgen eine Austrittsklausel enthalten. Der Verfassungskonvent hatte dafür mehrere Gründe: Der wichtigste war, den realen Machtverhältnissen zwischen Union und Mitgliedstaaten auch vertragsrechtlich Ausdruck zu verleihen.
Angesichts der Lage, in der sich die Union in Europa und in der Welt befindet und der riesigen Herausforderungen, vor denen die Union steht, müssen sich alle Mitgliedstaaten neu darüber klar werden: „Wollen wir bleiben oder gehen?" Diese Frage muß mit besonderem Nachdruck dort gestellt werden, wo ein Referendum über den Vertrag stattfinden soll oder muß. Die Bürger würden dann mit dem Wissen entscheiden, daß nicht nur ein „Ja", sondern auch ein „Nein" Konsequenzen hat, und zwar für ihr eigenes Land. Bisher hat ja das „Nein" eines Landes nur Folgen für alle „Ja"- sagenden.
Kein Zweifel, jeder Austritt würde die Union beschädigen. Aber der Schaden für die Handlungsfähigkeit und die innere Solidarität der Union ist noch größer, wenn ein Mitgliedstaat ständig mit einem Bein in der Union mit dem anderen draußen stehen will. Die Gründe für die Einheit Europas haben sich in den letzten 50 Jahren verändert, aber sie sind nicht schwächer geworden. Da die Welt nicht wartet, bis die große Union sich einig ist, kann der Tag kommen, an dem die Probleme sich ihre Lösungen in einer kleineren Union suchen.
Klaus Hänsch, Mitglied und ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments
Briten, Polen und Tschechen bremsen (06.04.2007)
Gespräch mit onruhr in Düssledorf zur Metropole Ruhr und zur derzeitigen Situation der EU.
onruhr: Bei öffentlichen Veranstaltungen wird häufig argumentiert, das Ruhrgebiet sei Europa im Kleinen, habe durch Integration und Gemeinschaftskraft entwickelt, was Europa noch zum Ziel hat. Teilen Sie die Auffassung?
Hänsch: Das Ruhrgebiet hat sich tatsächlich aus der Verschmelzung der deutschen Bevölkerung mit Zuwanderern vor allem aus Italien und Polen, aber auch aus anderen Ländern Europas und der Welt, entwickelt. Aus Zuwanderern sind Deutsche geworden - jedenfalls in ihrer Mehrheit. Die EU hat dagegen nicht das Ziel, die verschiedenen Völker zu einem europäischen Volk zu verschmelzen. Wir werden Polen, Franzosen, Spanier, Italiener usw. und natürlich werden wir im vereinigten Europa Deutsche bleiben. Die EU verschmilzt die Völker nicht, sondern vereinigt ihre Staaten.
onruhr: Ähnlich wie in Europa gibt es in der Metropole Rhein-Ruhr immer noch „kleine Königreiche", die ihren Nutzen aus dem größten Ballungsraum des Kontinents ziehen, aber wenig zur Ein- und gegebenenfalls Unterordnung bereit sind. Sie, Herr Hänsch, forderten nach dem Berlin-Gipfel die Möglichkeit für Extravagante, „auch Austreten oder gar nicht erst Eintreten zu dürfen". Gibt es spezielle Länder, die Sie meinen?
Hänsch: Eines vorweg: Es geht in der EU nie um Unterordnung, sondern immer nur um Einordnung. Daß Länder, die sich nicht einordnen wollen oder können, nicht beitreten dürfen, ist bereits heute so. Mir geht es um solche EU-Mitgliedstaaten, welche die anderen an der weiteren Stärkung Europas hindern. Die sollten sich überlegen, ob sie nicht lieber austreten wollen. Das gilt grundsätzlich für alle - im Augenblick aber neben Frankreich und den Niederlanden vor allem für Großbritannien, Polen und Tschechien. Auf die Dauer kann man nicht ständig mit einem Bein in der EU stehen und mit dem anderen draußen.
onruhr: Würden sie dies im Geiste des Vorankommens auch für unsere Region im Kleinen so sehen?
Hänsch: Nein. Die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und Verbindungen auf regionaler und kommunaler Ebene sind sehr verschieden von denen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
onruhr: EU-Politik „kommt immer noch nicht richtig bei den Menschen an", heißt es. Wäre nicht gerade die Metropole Rhein-Ruhr mit ihren 11 Millionen Menschen prädestiniert, durch intensivere Information und „Werbung" für die Idee Europas zu einem „Fanblock" in Deutschland zu werden?
Hänsch: Ja, natürlich. Die Metropole Rhein-Ruhr liegt so zentral in der EU wie keine zweite Wirtschafts- und Industrieregion. Unsere Verbindungen zu den Kunden in anderen Ländern wie Belgien, den Niederlanden, Frankreich und auch Großbritannien sind viel kürzer als z.B. nach Ostdeutschland. Vom freien und schnellen Zugang zu diesen Märkten profitiert unsere Region in ganz besonderem Maße. Aber nicht nur das: Wo wir die Umstrukturierung von der traditionellen Industrie wie Kohle und Stahl zu modernen Industrien wie Technologie und Dienstleistungen noch nicht geschafft haben, hilft die EU mit erheblichen Fördermitteln. Das waren zwischen 2000 und 2006 immerhin 1,2 Milliarden EURO für den Bereich des Regionalverbandes Ruhr.
onruhr: Die größte Chance für die durch weltweit wohl einzigartigen Strukturwandel strapazierte Region liegt in der „Ruhr 2010", der Kulturhauptstadt. Was raten Sie, sollte getan werden, damit der Funke vom Kulturellen auf Wirtschaft und Soziales überspringt?
Hänsch: Nicht nur Essen selbst als Kulturhauptstadt Europas, sondern das gesamte Ruhrgebiet muß sich mit dieser Aufgabe identifizieren. Es muß sie ernst nehmen und mitmachen. Damit meine ich nicht die Arbeit der eingesetzten Taskforce. Ich meine das emotionale Engagement der Städte und der Bürger im Ruhrgebiet. Nur wenn das vorhanden ist, wird der Funke überspringen.
onruhr: Die Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität über Außenpolitik und Wirtschaft hinaus soll durch eine Verfassung für Europa gestärkt werden. Wir im Ruhrgebiet suchen auch nach einer Identität, nach einem Markenzeichen, das der Bedeutung der Metropole gerecht wird. Haben Sie Ideen?
Hänsch: Identität kann man nicht verordnen. Sie erwächst aus der Erinnerung an die Leiden und Erfolge einer gemeinsamen Vergangenheit und aus gemeinsamen Projekten für die Zukunft. Uns verbindet die Erinnerung an Kohle und Stahl, an den Wiederaufbau aus den Trümmern des Krieges. Kulturhauptstadt Europas mit Essen als Zentrum ist ein gemeinsames Projekt für die Zukunft. Eine „Olympiade Ruhr" wäre ein anderes. Vor allem aber wird es der erfolgreiche Versuch sein, durch die Modernisierung der Arbeit und das Feiern gemeinsame Erfolge in Menschen mit unterschiedlicher Herkunft ein „Wir-Gefühl" zu entwickeln. Ein Patentrezept habe ich nicht, aber es gibt auch keines.
Don't ignore EU, Canada told; Europe can be a crucial ally in fighting common adversaries, ex-EU chief says (29.03.2007)
Vancouver Sun
Thursday, March 29, 2007
Page: A8
Section: News
Byline: Peter O'Neil
Dateline: OTTAWA
Source: Vancouver Sun
OTTAWA -- Former European Parliament president Klaus Hansch,
who saw the worst of a divided Europe as a six-year-old fleeing
Russian artillery at the end of the Second World War, says Canada
needs to recognize that a united Europe is emerging as an
influential global power.
Hansch, here to mark the European Union's 50th anniversary, said
the EU and Canada are guilty of ignoring each other.
He said Canadians in particular are in danger of becoming as
Europhobic as the British as a result of hostile media coverage of
Europe by publications such as The Economist -- whose loyal Canadian
readers have included Prime Minister Stephen Harper.
That is a mistake, he warned, because the EU -- portrayed by the
British media as a bloated, anti-democratic superstate -- has been a
success story in creating an economically powerful union of 27
countries with a population just under half a billion.
Europe, he said, can be a crucial Canadian ally in fighting common
adversaries such as religious fundamentalism, international
terrorism, global poverty and climate change.
"Our shared values argue for close dialogue and continuous
cooperation in international affairs between the EU and Canada," he
told an Ottawa audience.
In an interview between speeches in Ottawa and Montreal, Hansch
said Europe has an image problem in Canada.
"You look at Europe a little bit too much with British eyes," he
said.
The media Euroskeptics, particularly from Britain, draw a
caricature of the EU as an out-of-control, undemocratic superstate
plagued by useless rules, he said.
"As with all caricatures, some points are true. But the whole
picture is wrong."
He cited as successes the international recognition of the Euro
currency and the general economic growth throughout Europe for all
partners.
"The common market is a success for all of us, Britain included,
and they know it," he said, referring to the continent's greatest
skeptic, which is an EU member but has refused to adopt the Euro as
its currency.
"Wer öffentlich sondiert, tötet die Verfassung" (14.03.2007)
Interview für die TAZ, Interview fürhte Nicole Messmer
TAZ: Herr Hänsch, es sind nur noch zehn Tage bis die Berliner Erklärung veröffentlicht wird. Doch kein Mensch weiß bisher, was drinstehen soll.
Klaus Hänsch: Das ist in kritischen Phasen der EU eigentlich normal. Einen Text wird es sicher erst ein bis zwei Tage vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs geben.
Aber es wird doch immer die mangelnde europäische Öffentlichkeit beklagt. Ein bißchen mehr Transparenz beim Verfassen der Erklärung würde da nicht schaden.
Es ist eine Erklärung, auf die sich die Staats- und Regierungschefs - im Namen ihrer Völker allerdings - einigen. Ich glaube nicht, daß es sehr sinnvoll ist, eine Art Bürgerkomitee einzurichten, das die einzelnen Sätze redigiert.
Das heißt, Sie haben Verständnis für die Strategie, in weitgehend geheimen Treffen mit den Repräsentanten der Mitgliedsstaaten über die Zukunft Europas zu verhandeln?
Das sind ja keine Geheimverhandlungen, sondern es ist der Versuch, zu sondieren, was sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten überhaupt vorstellen können. Diesen Sondierungsprozeß in der Öffentlichkeit zu führen, hieße, das Projekt Verfassung zu töten.
Was sollte in der Berliner Erklärung stehen?
Sie muß die Leistung in den letzten 50 Jahren würdigen: Die Wiedervereinigung Europas, den Binnenmarkt, den Euro, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Grund genug, darauf hinzuweisen, daß die europäische Einigung die Erfolgsstory des vergangenen und des beginnenden Jahrhunderts ist. Zugleich jedoch hat sich die Triebkraft für die europäische Einigung verändert, sie muß sich jetzt mehr nach außen orientieren. Die EU ist unsere Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung. Die EU ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Wer wirtschaftlich ein Riese ist und politisch ein Zwerg bleiben will, der handelt nicht bescheiden, sondern verantwortungslos.
Die Erklärung sollte den Anstoß geben für eine neue Verfassungsdebatte. Jetzt taucht das Wort Verfassung vermutlich nicht einmal auf.
Wenn es eine klare Festlegung der 27 EU-Staaten gibt, den Verfassungsprozeß weiterzuführen, dann sollte das auch in der Erklärung stehen. Wenn diese Einigung nicht erzielt werden kann, dann ist es besser, nichts zur Verfassung in die Erklärung zu schreiben, als etwas, was eine Bremse darstellen könnte.
Wird es Angela Merkel gelingen, eine Lösung der Verfassungsfrage zu finden?
Ich bin optimistisch. Ich halte es für die richtige Strategie, eine kurze Regierungskonferenz abzuhalten und dabei die Substanz vor allem des ersten Teils der Verfassung zu erhalten. Das Umfeld hat sich verbessert: Es gibt inzwischen 25 Staaten, die erstens dafür eintreten, eine schnelle Lösung zu finden, und die zweitens dafür eintreten, am Verfassungsvertrag möglichst wenig zu ändern.
Ein Kompromißvorschlag lautet, die Verfassung ganz einfach nicht mehr Verfassung zu nennen.
Als Europaabgeordneter eines Landes, das den Verfassungsvertrag ratifiziert hat, halte ich am Begriff Verfassung fest. Wenn sich aber herausstellen sollte, daß es zur Lösung beiträgt, auf das Wort Verfassung zu verzichten, dann geht Substanz vor Namen.
Vor 52 Jahren wurde von den Vertretern Italiens, Frankreichs, Deutschlands und den Benelux-Staaten die Erklärung von Messina, die als Grundstein für die Gründung der EU gilt, verabschiedet. Hatten die Politiker damals noch mehr Mut?
Auch in Messina gab es Schwierigkeiten, die erst in den letzten Sitzungen überwunden wurden. Ein britischer Beobachter kommentierte damals: "Ich verlasse Messina zufrieden. Wenn sie das Treffen fortsetzen, werden sie keine Einigung finden. Selbst wenn sie eine Einigung finden, wird kein Ergebnis dabei herauskommen. Und selbst wenn etwas dabei herauskommt, wird es ein Desaster sein." Dreizehn Jahre später ist das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union geworden und bis heute haben sich weitere 20 Staaten dem prognostizierten Desaster angeschlossen.
Erschienen in der TAZ Nr. 8225 vom 14.3.2007, Seite 5, 113 Interview Nicole Messmer.
Eine Entgegnung auf Roman Herzog / Lüder Gerken in der WELT am SONNTAG 14. Januar 2007 (27.1.2007)
erschienen auf: www.welt.de am 27.1.2007
Die Einigung Europas in der Form der Europäischen Union bringt unsere Demokratie in Gefahr. Auch wird der EU-Verfassungsvertrag den "substanziellen Aushöhlungsprozeß" der verfassungsmäßigen Organe in den Mitgliedstaaten, vor allem der Parlamente, nicht verhindern. Er bekommt "den Mangel an Demokratie und Gewaltenteilung sowie die sachwidrige Zentralisierung "nicht in den Griff". Sein Scheitern in Frankreich und den Niederlanden eröffnet die Chance, der Union endlich wirklich sachdienliche, transparente und bürgernahe Strukturen zu verpassen. Das ist starker Tobak.Die Autoren, die ihn darreichen, stehen dafür, daß es sich nicht um europhoben Bürgerferne- und Demokratiedefizit-Populismus der üblich üblen Art handeln kann. Ihre Analysen und Vorschläge verlieren sich auch nicht in wohlfeilen Kritikwolken an der vermeintlichen (Über-)Länge des Verfassungstextes oder in allgemeinen Schuldzuweisungen an "die in Brüssel". Ihre Besorgnisse sind ernst zu nehmen. Gerade deshalb muß ihren Vorschlägen im Grundsatz und im Einzelnen entschieden widersprochen werden.
Das Zentrum der Gefahr sehen Herzog/ Gerken in der "sachfremden" Zentralisierung. Sie saugt mit der Zeit alle Elemente der nationalstaatlichen Demokratie in sich auf und speit sie als Bürgerferne, Bürgerängste und Europaskepsis wieder aus. Die Sogkraft soll bewirkt haben, daß es in Deutschland zwischen europäischer und nationaler Rechtsetzung 84 : 16 steht. In dieser Gegenüberstellung werden allerdings nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern der Inhalt eines ganzen Früchtekorbs miteinander verglichen.
Ärgerlicher ist es, daß es sich um das Zahlenverhältnis der gesamten EU-gemeinsamen Gesetzgebung zur national-deutschen handelt, während das Argumentationsschema des Aufsatzes suggeriert, daß es sich um das Verhältnis zwischen sachfremder europäischer Zentralisierung (84 Prozent) und sachdienlicher nationaler Gesetzgebung (16 Prozent) handelt. So bedienen die Autoren Vorurteile. Denn daß gemeinsame Rechtsetzung in der Union generell als sachfremde Zentralisierung abzulehnen sei, haben sie ja wohl nicht gemeint.
Auch wenn man der Dramatisierungsabsicht von Herzog/ Gerken nicht folgt, ist eine gewisse Tendenz nicht zu leugnen, auf der europäischen Ebene, "zentral" mehr, mithin "sachfremd", zu regeln als unbedingt notwendig. Und zweifellos folgt daraus zumindest ein Teil der diagnostizierten Gefahren für Demokratie und Akzeptanz der Union in den Mitgliedstaaten. Zu fragen ist allerdings, ob die institutionellen Vorschläge der beiden Autoren die gewünschte Abhilfe schaffen können oder nicht doch eher die Vorkehrungen des Verfassungsvertrages. Und: Ist die vorgeschlagene Abhilfe geeignet, die notwendige Übersichtlichkeit, Transparenz und Kontrolle der EU-Rechtsetzung so zu verbessern, daß die Bürger die Union besser verstehen und akzeptieren?
Zur Abwehr sachfremder Zentralisierung müßte der Verfassungsvertrag einen abgeschlossenen Kompetenzkatalog enthalten, fordern Herzog/ Gerken.. Stattdessen öffne er durch die Einführung der "gemischten Kompetenzen" (gemeint sind wohl die "geteilten" Kompetenzen, was nicht nur ein linguistischer Unterschied ist) ein "Einfallstor für eine noch dynamischere Aneignung von Zuständigkeiten". Richtig ist, daß der Verfassungsvertrag die bisherige Bindung der Kompetenzübertragung an die vertraglich festgelegten, relativ weit gefaßten Politikziele der Union nicht aufhebt. Das hat in der Vergangenheit hier und da zu Kompetenzerweiterungen zugunsten der Union geführt bzw. EU-Regelungen dort ermöglicht, wo es nationale auch getan hätten.
Warum hat zunächst eine große Mehrheit des Konvents und danach auch die Regierungskonferenz der Forderung nach einem abschließenden Kompetenzkatalog nicht nachgegeben? Die Antwort ist so einfach wie grundsätzlich: Die Union ist kein Staat. Ihr wohnt, anders als den Nationalstaaten, ein latenter Begründungszwang inne. Für sie sind gemeinsame Werte und gemeinsame Ziele konstitutiv. Sie ist und bleibt ein Geschöpf der Mitgliedstaaten zur Lösung gemeinsamer Probleme. Darauf müssen ihre Kompetenzen zugeschnitten werden. Dafür braucht sie eine gewisse Flexibilität.
Um der "sachwidrigen schleichenden Zentralisierung" Einhalt zu gebieten, soll der Europäische Rat künftig Zuständigkeiten der europäischen Ebene wieder entziehen und auf die nationale Ebene zurückverlagern können. Das kann er heute schon - einstimmig. Künftig soll er es mit Mehrheit beschließen dürfen. Das erstaunt. War es doch bisher unstrittig, daß die Kompetenz-Kompetenz bei allen Mitgliedstaaten und nicht bei einer Mehrheit von ihnen liegt. Folglich müssen die "Herren der Verträge" jede Erweiterung oder Verringerung von EU-Kompetenzen einstimmig beschließen. Soll künftig wirklich einem von ihnen eine Zuständigkeit (rück-)übertragen werden, die er nicht (mehr) will? Vorwärts mit dem Fuß auf der Bremse - schön und gut. Aber rückwärts mit Vollgas? Auch so kann man das Gefährt an die Wand fahren.
Als eine Quelle der fortschreitenden Zentralisierung auf der europäischen Ebene machen Herzog/Gerken "das Spiel über die Bande" aus, das "nationale Ministerien über den Ministerrat systematisch betreiben", sowie die Methode der "package deals". Der Vertrag bietet tatsächlich keine institutionelle Handhabe, das zu unterbinden - wie auch? Daß Verhandlungspakete geschnürt werden, ist unerläßlich wo unterschiedliche Interessen miteinander verbunden werden müssen.
Das Spiel, mit Hilfe Brüssels etwas durchzusetzen, was national nicht erreichbar ist, ist in allen Mitgliedstaaten bekannt und wird von allen gespielt. In Deutschland aber ist es besonders ausgeprägt, weil sich an ihm nicht nur die Bundesministerien, sondern auch noch die 16 Landesregierungen beteiligen. Warum soll eigentlich das EU-Verfassungsrecht etwas regeln, was man gerade auch in Deutschland durch bessere nationale Konsultations- und Abstimmungsverfahren eindämmen könnte?
Statt auf der nationalen Ebene nach Vorkehrungen zu suchen, die politische Einsicht und Mäßigung sowie bessere Führung in der Europapolitik erzwingen, rufen Herzog/Gerken nach institutioneller Abhilfe auf EU-Ebene: Der Rat soll zur zweiten Kammer eines klassischen Zweikammersystems umgebildet und "verfassungsmäßig darauf festgelegt werden, der "sachwidrigen Zentralisierung Einhalt zu gebieten". Das heißt in der Praxis, daß seine Rechte zur aktiven Mitgestaltung der Gesetzgebung geschmälert werden. Er würde auf eine Art Veto-Kammer reduziert.
Die gestaltende (nicht nur verhindernde) Mitwirkung der nationalen Exekutiven an der EU Rechtsetzung im Rat kompensiert die Übertragung von nationalen Hoheitsrechten auf die Union. Der Rat, zusammengesetzt aus demokratisch legitimierten Exekutiven, ist in der bipolaren Union als eine der beiden Legitimationsquellen des EU-Rechts unverzichtbar. So hat es das Bundesverfassungsgericht jedenfalls in seinem Maastricht-Urteil gesehen.
Auch ein stärkeres Europäisches Parlament kann ihn nicht ersetzen. Der Verfassungsvertrag stärkt es erheblich, aber es soll bewußt nicht die allein und alles entscheidende Legislative der Union werden. Solange die EU ein Staatenverbund bleibt und deshalb die Vertretung der Bürger im Parlament zu ungunsten der großen Mitgliedstaaten verzerrt ist, kann ihm nicht einmal ein genereller Vorrang vor dem Rat eingeräumt werden. EU-Recht bedarf beider Legitimationsstränge: über das direkt gewählte Europäische Parlament und über die demokratisch berufenen Regierungen im Rat. Indem das Konzept Herzog/Gerken den Ratsstrang um sein Gestaltungsrecht verkürzt, führt es nicht zu mehr, sondern zu weniger parlamentarischer Legitimation der Rechtssetzung in der EU.
Europäisches Recht werde (im Wesentlichen) durch die Exekutiven gesetzt. Und Herzog/ Gerken meinen damit zu Recht nicht die EU-Kommission, sondern die Regierungen der Mitgliedstaaten im Rat. Das hebele die Gewaltenteilung und damit die parlamentarische Demokratie in den Mitgliedstaaten aus. Tatsächlich wird ein nennenswerter Teil des in Deutschland geltenden Rechts durch die EU-Räte gesetzt und damit auch unter Beteiligung der deutschen Exekutive.
Gewiß ist Gewaltenteilung ein in allen EU- Mitgliedstaaten gültiges, anerkanntes Demokratieprinzip. Gleichwohl ist es nirgendwo sauber und durchgängig verwirklicht - in der Bundesrepublik Deutschland schon gar nicht. Ein Hinweis auf die Mitwirkung der Landesexekutiven an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat, die Kompatibilität von Ministeramt und Abgeordnetenmandat, die parlamentarische Richterwahl zu höchsten Bundesgerichten (bei der ja gewiß auch "sachfremde" Motive zur Geltung kommen) u.v.m. soll hier genügen.
Daß dies keine Rechfertigung dafür ist, das Gewaltenteilungsprinzip noch zusätzlich durch die Europäische Union auszuhebeln, sei zugestanden. Aber solange unser Land daran festhält, an der Einigung Europas als Teil einer föderalen Ordnung, einer Rechtssetzungsgemeinschaft also, mitzuwirken - wozu uns das Grundgesetz ermächtigt und ermutig - muß es auch akzeptieren, daß diese Ordnung nicht nur anders ist als die national-föderale Deutschlands, sondern auch Auswirkungen auf unsere Verfassungsprinzipien hat.
In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht es in seinem Maastricht-Urteil mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, wenn in der Europäischen Gemeinschaft die demokratische Legitimation nicht in der gleichen Form hergestellt wird wie in Deutschland - solange sie ein gleiches Legitimationsniveau wahrt. Das leistet der Verfassungsvertrag besser als das Reformkonzept Herzog/ Gerken.
Um die Aushebelung der nationalen Parlamente zu belegen, nehmen sich Herzog/ Gerken die sog. Passerelle- oder Brücken-Klausel des VVE vor. Sie erlaubt den Staats- und Regierungschefs einstimmig zu beschließen, daß der Rat in den Bereichen oder in bestimmten Fällen, in denen es nach dem Verfassungsvertrag zunächst noch bei der Einstimmigkeit bleibt, zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Ein solcher Beschluß zieht zweifellos eine Kompetenzerweiterung für die europäische Ebene nach sich.
Der Verfassungsvertrag sieht in der Tat nicht vor, daß dies von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden muß, aber er gibt jedem einzelnen von ihnen ein Vetorecht. Herzog/ Gerken behaupten, für die nationalen Parlamente sei es "eine erheblich höhere Hürde, einen bereits gefaßten Beschluß zu Fall zu bringen". Das ist unzutreffend. Der Verfassungstext sagt ausdrücklich, daß die Staats- und Regierungschefs erst beschließen können, wenn die sechsmonatige Frist ohne den Widerspruch eines Parlaments verstrichen ist. Eine Ratifizierung käme nach dem Beschluß, das Vetorecht gilt vor ihm. Die Rolle der nationalen Parlamente ist also gestärkt.
Vor allem aber: Niemand und Nichts in der EU hindert den Bundestag daran, die Bundesregierung zu verpflichten, einer Nutzung der Passerelle-Klausel nur nach seiner ausdrücklichen Genehmigung zuzustimmen. Der Bundestag hat das übrigens in seinem Begleitgesetz zur Ratifizierung des Verfassungsvertrages angemessen geregelt. Was in den Mitgliedstaaten - durchaus unterschiedlich - normiert werden kann, sollte nicht europäisch vorgeschrieben werden. Der Verfassungsvertrag vermeidet zu Recht einen Eingriff in die Beziehungen zwischen nationalen Exekutiven und Legislativen und damit in die Verfassungsstruktur der Mitgliedstaaten.
So legitim es ist, sich auf die Gefahren durch "sachwidrige Zentralisierung" und deren Auswirkungen auf die nationalstaatliche Demokratie, insbesondere auf die Gewaltenteilung, zu beschränken, eine "fundierte Bestandsaufnahme" Europas und des Verfassungsvertrages wie Herzog/ Gerken sie fordern, muß weiter greifen: Die Europäische Union ist kein Staat. Sie ist eine Union von Staaten. Das wird sie bleiben. Für eine solche Union paßt kein nationalstaatliches Demokratiemodell.
Die beklagten Kompetenzverluste sind weniger durch Übertragung auf die Europäische Union entstanden, als aus dem Verlust nationaler Gestaltungsmöglichkeiten auf Feldern wie globaler Markt, Umwelt, Klima, Gesundheits- und Verbraucherschutz, Sicherheit u.a. Dort haben sich die Probleme und ihnen adäquate Lösungen längst dem nationalen Zugriff entzogen und Entscheidungen notwendig gemacht, die über die nationalen Grenzen hinweg wirken.
Wenn wir vor dem Hintergrund dieses faktischen Souveränitätsverlusts aller Nationalstaaten in Europa die Demokratie allein auf die demokratisch legitimierten nationalen Institutionen stützen, gaukeln wir den Bürgern Mitwirkung und Kontrolle bloß vor. Die EU höhlt die nationale Demokratie nicht aus. Im Gegenteil: Ohne sie gäbe es sie möglicherweise gar nicht mehr. Die Union ist die Garantie für eine nationale Teilhabe an der Gestaltung globaler Probleme und ihrer Rückwirkungen auf den Nationalstaat.
Die Formen nationalstaatlicher Demokratie, die sich in den letzten zweihundert Jahren in Europa herausgebildet haben, sind ein kostbares Gut. Kein verantwortlicher Politiker, ob er sich in Brüssel und Straßburg zu den "Föderalisten" oder zu den "Intergouvernementalisten" zählt oder ob er in dieser Frage Agnostiker ist, wird es leichtfertig für irgendeine europäische Konstruktion opfern.
Dem Verfassungsvertrag kommt es darauf an, der Union ein System von checks and balances zur Legitimierung und Limitierung politischer Macht zu etablieren, das ihr als Staatenverbund angemessen ist. Damit verfolgt er das gleiche Ziel, das nationalstaatlich durch Gewaltenteilung erreicht werden soll. Er hält sich im Rahmen des Homogenitätsprinzips, das fordert, einen dem deutschen vergleichbaren demokratischen Standard in der EU zu schaffen.
Der Verfassungsvertrag ist durchaus nicht blind gegenüber den Zentralisierungstendenzen. Er hält allerdings Instrumente vor, die einem Staatenverbund angemessener sind, als die Herzog/Gerken-Vorschläge: So verlangt er für die Aktivierung der sog. Flexibilitätsklausel die Einstimmigkeit im Rat. Deutschland hat in dieser Frage also ein Vetorecht. Ihre Anwendung unterwirft er, anders als die geltenden Verträge, der Kontrolle durch die nationalen Parlamente. Er verhindert ein Aufweichen der Kompetenzordnung, indem er es ausdrücklich untersagt, sich mit EU-Regulierung dort einzuschleichen, wo Harmonisierung nach dem Verfassungsvertrag ausgeschlossen ist.
Die nationalen Parlamente haben nicht nur die üblichen Ratifizierungsrechte, u.a. bei Vertragsänderungen oder der Finanzierung der Union. Sie bekommen eine eigene Rolle in der europäischen Gesetzgebung. Der Verfassungsvertrag beteiligt sie künftig auch an der Kontrolle über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. So bekommen sie ein Instrument in die Hand, mit dem sie etwa auftretenden sachfremden Zentralisierungsversuchen entgegenwirken können. Indirekt können sie sich damit auch in die aktuelle Rechtsetzung auf der europäischen Ebene einmischen. (Einen solchen Einfluß haben die deutschen Landesparlamente auf Bundesebene nicht!).
Es stimmt einfach nicht, daß sie eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips nur "ohne zwingende Konsequenzen" rügen können. Sollte eine Rüge im laufenden Gesetzgebungsverfahren keine Konsequenzen zeitigen, haben sie über ihre jeweilige Regierung ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof.
Herzog/ Gerken fordern jetzt auch noch ein Vetorecht für jedes einzelne nationale Parlament im laufenden Verfahren und dazu Klagerechte für jedes einzelne deutsche Land. Schließlich wollen sie gegen das, was dann überhaupt noch als Gesetzgebung zustande kommt, einen eigenen Kompetenzgerichtshof ins Feld führen, den sie für "unabhängig" halten, weil er mit nationalen Richtern besetzt werden soll. Das wird die Handlungsfähigkeit der europäischen Politik nicht einhegen, sondern schlicht und einfach niederstrecken.
Dem Europäischen Gerichtshof mißtrauen Herzog/ Gerken grundsätzlich. Er sei eben, wie alle EU-Institutionen, darauf festgelegt, "an der Entwicklung einer immer engeren Union" mitzuwirken (Artikel 1 Absatz 5 EUV) - also an der Zentralisierung. Genährt sehen sie ihr Mißtrauen durch Urteile, die manchmal "das Erstaunen der Fachwelt" hervorriefen - als ob das nicht hin und wieder auch für die Entscheidungen nationaler oberster Gerichtshöfe gilt.
Während sie den Europäischen Gerichtshof schelten, entgeht ihnen allerdings eine wichtige Veränderung: Der Verfassungsvertrag streicht sehr bewußt den Begriff "immer engere Union" aus dem heutigen Vertragstext und spricht nur noch in der Präambel davon, daß "die Völker Europas .... entschlossen sind, ....immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten." Das ist weit mehr als Semantik. Es ist eine andere Perspektive. Der Europäische Gerichtshof wird sie künftig zu beachten haben.
Zudem verpflichtet der Verfassungsvertrag die Union ausdrücklich, die "nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur ... zum Ausdruck kommt", sowie "die grundlegenden Funktionen des Staates" zu achten. (Artikel I-5 Absatz 1 VVE) Das soll und wird auch den Europäischen Gerichtshof bei der richterlichen Fortentwicklung des europäischen Rechts leiten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner neuen Institution in der Gestalt eines Kompetenzgerichtshofs.
Was Herzog/ Gerken vorschlagen, macht die Union keineswegs übersichtlicher. Es läßt die Bürger nicht besser erkennen, wer für welche Politik in der EU verantwortlich ist. Daß es die Skepsis vieler Bürger gegen die EU wirklich verringert, ist sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Die Vorschläge verschieben das sensible System der checks and balances, das der Verfassungsvertrag für die "Union der Bürger und Staaten" vorsieht, in Richtung auf Handlungsunfähigkeit, ohne daß die Bürger wirklich an demokratischem Einfluß gewinnen. Sie führen sie auf dem Holzweg noch tiefer in die Sackgasse.
Osterweiterung kam nicht zu schnell! (12.01.2007)
Interview mit Quality News über Osterweiterung der EU, den EURO, Türkei und die institutionelle Entwicklung der Gemeinschaft.
Ex-Parlamentspräsident Klaus Hänsch: „Beitrittsversprechen an die Türkei war ein Fehler"„Ein großes Wunder" ist es für Dr. Klaus Hänsch, dass sich die Regierungen von 25 Ländern entschlossen haben, ihre Zukunft unauflöslich gemeinsam zu gestalten. An diesem Wunder wirkt er seit Jahrzehnten an prominenter Stelle mit - als eine der führenden Gestalten der Sozialdemokratie im Europäischen Parlament, vor allem als dessen Präsident in den Jahren 1994 bis 1997, in denen die Weichen für Osterweiterung und Euro-Einführung gestellt wurden.
Herr Dr. Hänsch, prägend für die Jahre seit 1993 war das Ja zur Osterweiterung, das Beitrittsversprechen für die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Ging diese Entwicklung nicht doch zu schnell?
Diese Meinung teile ich nicht! Die Erweiterung ist eine Erfolgsgeschichte, ökonomisch, sicherheitspolitisch und auch ökologisch. Von der Selbstbefreiung der Ost- und Mitteleuropäischen Staaten bis zum Beitritt 2004 sind 14 Jahre vergangen. Zehn Jahre lang haben wir intensiv verhandelt. Angesichts der historischen Dimension des Umschwungs in Europa war das nicht zu kurz. Davon zu sprechen, verbietet sich gerade für uns Deutsche. Als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl auf den Weg gebracht wurde, lagen der Krieg und der Zusammenbruch Nazi-Deutschlands gerade fünf Jahre zurück.
Haben die Bürgerkriege auf dem Balkan eine Rolle gespielt? Gab es die Sorge vor einem Rückfall Europas in nationalistische und ethnische Konflikte?
Die Balkankriege haben die Ost-Erweiterung nicht befördert und nicht behindert. Sie war allen Beteiligten so selbstverständlich, dass sie jedenfalls kommen musste. In anderer Hinsicht haben die Ereignisse auf dem Balkan aber Auswirkungen gehabt: Sie haben den Regierungen in der Union klar gemacht, wie dringend sie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik brauchen.
Was sagen Sie zu der These, die Osterweiterung und das Aufnahmeversprechen an die Türkei habe die Weiterentwicklung der Union zu einem Bundesstaat abgeschnitten?
Dem widerspreche ich entschieden! Die Bundesstaatsvision hatte sich schon mit dem Beitritt Großbritanniens und der skandinavischen Staaten erledigt. Die Osterweiterung hat das nur noch deutlicher gemacht. Die Integration Europas hatte längst eine eigene Richtung eingeschlagen. Aus der Union wird zwar kein Bundesstaat, aber sie ist heute schon weit mehr als ein lockerer Staatenbund. Für den sind die Verflechtungen bereits viel zu eng. Die Diskussion darüber, wie sich diese Union politisch weiterentwickeln will, ist heute angesichts der Verhandlungen mit der Türkei in vollem Gange. Hinter dem Beschluß die Türkei zum Beitrittskandidaten zu machen, steht die Idee, die Erweiterung als Instrument der EU-Außenpolitik zu benutzen. Das ist ein Fehler. Wenn wir die Türkei aufnehmen, mit welchem Argument wollen wir dann etwa der Ukraine oder Georgien und anderen den Beitritt verwehren? Dann würde sich die Union tatsächlich zu einem lockeren Staatenbund zurückverwandeln.
Den Durchbruch bei der institutionellen Weiterentwicklung gab es in den 90er Jahren nicht. Stattdessen Kompromisse auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die gerade eben das funktionieren der erweiterten Union sicherten ...
Ich sehe das ganz anders. Man muss sich anschauen, was seit Maastricht und der Euro-Einführung alles verändert worden ist. Sicher war der EU-Gipfel in Nizza 2000 ein Fehlschlag, wenn man den großen Durchbruch bei der Reform der Institutionen und Verfahren erwartet hatte. Die Enttäuschung ist vor dem Hintergrund des rasanten Umschwungs in Europa seit 1989 verständlich. Wir hatten politische Wunder in Osteuropa erlebt und wollten weitere im Westen sehen. Dabei ist die Tatsache, dass sich die Regierungen von 25 Staaten entschlossen haben, ihre Zukunft unauflöslich gemeinsam zu gestalten, schon an sich ein großes Wunder, ein Vorgang ohne historisches Vorbild. Wie auch immer die Verfassungsdiskussion ausgehen wird: Wenn die EU erhalten bleibt, haben wir mehr erreicht als die Schlagbaum-Säger der 50er Jahre zu träumen wagten.
Die Union hat sich erweitert, hat ihre Integration vertieft, ist wirtschaftlich erfolgreich - doch das Europa-Bewusstsein ihrer Bürger hat nicht Schritt gehalten. Warum hat das Interesse am Europäischen Parlament von Wahl zu Wahl abgenommen?
Das ist ein ernstes Problem. Die Realität Europas und das Bewusstsein der Bürger klaffen seit den 90er Jahren immer weiter auseinander. Das hat nicht nur mit der EU zu tun sondern mit einem tiefer liegenden Partizipations- und Demokratieproblem: Schauen Sie sich die Wahlbeteiligungen bei Kommunalwahlen, selbst bei Landtagswahlen an - da ist die Entwicklung ähnlich. Die europäische Politik hat allerdings auch eigene Fehler gemacht. Sie hat zu stark auf Harmonisierung statt auf gegenseitige Anerkennung von Gesetzen gesetzt. Sie verwechselt zu häufig Einheit mit Einheitlichkeit. Da hat die Union in der Vergangenheit übertrieben. Dafür trägt jede einzelne Regierung - auch die deutsche - ein hohes Maß Verantwortung.
Welche Bedeutung messen Sie der Euro-Einführung zu? Fördert das gemeinsame Geld europäisches Bewusstsein?
Da bin ich mir nicht sicher. Die Einführung ist eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Da gibt es keine nennenswerten Probleme, vor allem wenn man sie im Verhältnis zu den erreichten Vorteilen sieht. Die Bürger haben einerseits den Euro akzeptiert, weil er irgendwie zum vereinten Europa dazugehört. Auf der anderen Seite neigen sie dazu, allen Ärger, den sie mit dem immer zu knappen Geld haben, auf den Euro zu projizieren.
Was war für Sie ganz persönlich der politische Höhepunkt dieser Jahre?
Zweieinhalb Jahre Präsident des Europäischen Parlaments gewesen zu sein - und in dieser Zeit viel erreicht zu haben. Ich konnte eine Reform der Arbeit des Parlaments durchsetzen, die viele Unzuträglichkeiten abgeschafft und die Außendarstellung verbessert hat. Wir haben erreicht, dass sich jeder Kommissar vor seinem Amtsantritt einer öffentlichen Anhörung durch das Parlament stellen muss. Diese Befragung und die gegebenfalls darauf folgende Ablehnung eines Kandidaten gehört heute, obwohl nirgendwo festgeschrieben, zu den unumstrittenen Rechten des Parlaments. So gestaltet man Verfassungswirklichkeit in Europa. Nicht zuletzt: Unter meiner Präsidentschaft haben die Regierungen das Parlament erstmals wirklich als Partner und Kontrahenten wahrgenommen. Ohne die Mitentscheidungsbeschlüsse von Maastricht wäre das alles nicht möglich gewesen.
Interview der DPA zum Thema Zukunft des EU-Verfassungsvertrages. (12.01.2007)
Interview führte Herr Rafalski.
dpa: War die Arbeit des Konvents für eine Verfassung für Europa umsonst?
Hänsch: Die Arbeit des Konvents war keinesfalls umsonst, was
immer jetzt mit dem Verfassungsvertrag geschieht. Er wird der
Bezugspunkt für jede weitere Reform der Europäischen Union in der
Zukunft sein.Alle 25 europäischen Staats- und Regierungschefs haben den
Entwurf des Konvents ratifiziert. 17 von 27 Mitgliedstaaten haben
inzwischen zugestimmt. Das ist die Mehrheit der Staaten und die Mehrheit
der Bevölkerung in der EU.
dpa: Hätte man früher die Parlamente und die Bevölkerung einbeziehen sollen?
Hänsch:
Die nationalen Parlamente waren von Beginn an einbezogen. Das hat es
bisher bei keiner Vertragsreform in der EU gegeben. Die nationalen
Parlamentarier hatten die Mehrheit im Konvent. Der
Verfassungskonvent hatte eine breite öffentliche Diskussion
mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Nicht-Regierungsorganisationen aller
Art, mit Verbänden, Kirchen und was auch immer.
dpa: Ist es denkbar, dass der Konvent sich nochmal mit der Verfassung beschäftigt?
Hänsch: Ich halte es für notwendig, dass der Verfassungsvertrag in
seiner
Substanz erhalten bleibt. Bei substanziellen Änderungen müssten die
Staaten, die ihn schon ratifiziert haben, nochmal neu ratifizieren. Das
ist ein unsicherer Prozess. Deswegen darf es nicht zu substanziellen
Änderungen kommen. Für die Änderungen, die unter dieser Voraussetzung
möglich sind, brauchen wir keinen Verfassungskonvent. Sollten sich die
Regierungen aber doch auf substanzielle Änderungen einigen, wäre der
Verfassungskonvent nur dazu da, das abzusegnen. Dafür ist er
überflüssig.
dpa: Was ist denn die Substanz der Verfassung?
Hänsch: Die Substanz des Verfassungsvertrages sind einmal die Bestimmungen über die Institutionen und die Grundrechtecharta. Zum anderen gehören die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und über die innere Sicherheit dazu. Das sind die vier Bereiche, die aus meiner Sicht die Substanz des Verfassungsvertrages ausmachen. Daran sollte nicht gerüttelt werden.
dpa: Gehört dazu auch das Abstimmungsverfahren mit der doppelten, gewichteten Mehrheit nach Staaten und Bevölkerung?
Hänsch:
Ja, aber selbstverständlich. Es war schwierig genug, das durchzusetzen.
Es ist auch nicht nur eine deutsche Frage, sondern es ist eine Frage
der demokratischen Legitimation europäischer Entscheidungen, wenn die
Bevölkerungszahl in den Mitgliedstaaten ein größeres Gewicht bekommt.
dpa: Wie erklären Sie sich das Stimmungstief in Europa?
Hänsch:
Es gibt zweifelsohne eine gewachsene Skepsis gegenüber der Brüsseler
Politik. Die Unpopularität der Europäischen Union hat weniger mit der
Einigung Europas im Grundsätzlichen als mit einer bestimmten
EU-Gesetzgebung zu tun. Hier muss in der Tat die Europäische Union
darauf achten, dass sie weniger reguliert, dass sie den Mitgliedstaaten
genügend Raum lässt für die eigene Ausgestaltung gemeinsamer
europäischer Gesetze, dass sie nicht versucht, alles von Nordcap bis
nach Sizilien auf den gleichen Leisten zu schlagen.
Dennoch müssen wir aufpassen, dass wir nicht die Opfer unserer eigenen Propaganda werden. Es hat zwei Länder gegeben, die durch Volksabstimmung gezeigt haben, dass die Europäische Union insgesamt unpopulär ist. Es hat aber auch zwei Länder gegeben, die den Verfassungsvertrag angenommen haben per Volksabstimmung - also wäre sie populär.
dpa: Was halten Sie von einer Volksbefragung zur Verfassung etwa zusammen mit der Europaparlamentswahl 2009?
Hänsch:
Ich bin da eher skeptisch. Auch bei einer europaweiten Volksbefragung
müsste jedes Land für sich entscheiden. Die Bundesrepublik kann keine
Kompetenzen nach Brüssel abtreten, wenn die Verfassungsorgane der
Bundesrepublik nicht zugestimmt haben.
dpa: Was sollen Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier tun, um einen Stimmungsumschwung in der EU hinzukriegen?
Hänsch: In der Regel folgt die Stimmung in der Politik der Aktion. Die Bundesregierung muss also einen Weg zeigen, wie der Verfassungsprozess weitergeht und wie er erfolgreich zu Ende gebracht werden kann. Ob er weitergeht und ob er zu Ende gebracht wird, das kann die deutsche Regierung allein nicht entscheiden.Irrungen und Wirrungen der EU-Erweiterungsstrategie (Januar 2007)
Daß die EU nach zehn/zwölf Verhandlungsjahren die politische Kraft aufbringen wird, „Nein" zu sagen, darf als unwahrscheinlich gelten.
Bei Beitrittsentscheidungen soll künftig die „Aufnahmefähigkeit" der Union beachtet werden. Neu ist das nicht - auch für die Osterweiterung hat das schon gegolten - neu ist die Diskussion darüber.
Dabei taucht immer das Kriterium der Finanzierbarkeit künftiger Beitritte auf - zu Recht. Eine grundlegende Reform des Finanzierungssystems der EU, sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmeseite, sei notwendig. Das ist zwar richtig gesehen, wird aber zur glatten Selbsttäuschung, wenn in diesem Zusammenhang auf 2008/9 verwiesen wird. Vereinbart ist für diesen Zeitpunkt lediglich eine "Überprüfung" des bis 2013 geltenden Finanzrahmens. Daß sich die 27 heutigen Mitgliedstaaten schon 2009 auf eine Grundsatzreform einigen werden, ist nicht zu erwarten.
Das Europäische Parlament und einige Regierungen haben sich darauf festgelegt, daß das Inkrafttreten des Verfassungsvertrages (oder wenigstens einer EU-Reform mit der Substanz des Verfassungsvertrages) die Voraussetzung für jede künftige Erweiterung ist. Das ist gut gemeint, also ist es das Gegenteil von gut. Zum einen wird unter der Hand aus einer notwendigen Voraussetzung eine hinreichende. Fast unbemerkt verschiebt sich die Sicht auf das, was der Verfassungsvertrag eigentlich leisten soll und auch nur leisten kann: die konsolidierende Vertiefung nach den bereits vollzogenen Erweiterungen.
Und schließlich könnten Erweiterungsgegner und Verfassungsgegner ihre Kräfte bündeln: Wer gegen die Erweiterung ist, braucht nur die Verfassung zu verhindern.
Ein Mantra in der Diskussion über künftige Erweiterungen der Union ist der Hinweis auf die Erfolgsgeschichte der bisherigen. So unbestreitbar die Union zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung und zur Stabilität in den Beitrittsstaaten beigetragen und zugleich ihr eigenes wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Welt gestärkt hat, so unzulässig ist es, diese Linie auf alle künftigen Erweiterungen zu extrapolieren.
Die künftige Erweiterung wird als das wichtigste Instrument der EU zur Demokratisierung und Stabilisierung der Nachbarregionen Europas dargestellt. Sie sei "Friedenspolitik", heißt es sogar. Da wird dann jeder zum "Friedensfeind", der den Zusammenhalt des Friedensraums "Europäische Union" durch Erweiterung bedroht sieht.
Jede Erweiterung war bisher und bleibt eine Herausforderung für die Existenz der Union selbst, kein Stück aus dem außen- und sicherheitspolitischen Werkzeugkasten. Kein Mitgliedstaat der EU würde seine Existenz zur Stabilisierung eines Nachbarstaates oder einer Nachbarregion hergeben. Auch die EU sollte das nicht tun.
Bisher haben weder die Mitgliedstaaten noch die Institutionen in Brüssel und Straßburg es gewagt, den möglichen Beitritt der Türkei als das zu bezeichnen, was er sein wird: Eine Zäsur, die den bisherigen Einigungsprozeß Europas von einem künftigen trennt: Aus der Union der Bürger und Staaten wird ein geostrategischer Raum. Es gibt Gründe, das anzustreben, es gibt Gründe, das abzulehnen. Nur täuschen sollte man sich selbst und andere darüber nicht.
Die deutsche Ratspräsidentschaft (01.01.2007)
Artikel für das Parliament Magazin zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft
Europa gestern, heute, morgen - und die Deutsche Ratspräsidentschaft
Nicht die Europäische Union, sondern das europäische Einigungswerk selbst ist in der Krise. Krisen hat es auch im vergangenen Vierteljahrhundert immer wieder gegeben: die „Eurosklerose" Anfang der achtziger Jahre, die Ablehnung des Vertrages von Maastricht durch Dänemark, das Scheitern einer grundlegenden Vertragsreform im Europäischen Rat in Nizza. Sie wurden alle gelöst und haben die Union auf ihrem beispiellosen Erfolgskurs zwar aufgehalten, aber nicht davon abgebracht. Die aktuelle Krise trifft die Union auf einem höheren Niveau.
Vor 25 Jahren lag ein Verfassungsvertrag noch außerhalb der politischen Realität, ja sogar außerhalb jeder realen Vorstellungskraft. Heute sind 18 von 27 Staaten bereit, das europäische Einigungswerk auf dieser neuen Grundlage fortzusetzen. Das französisch-niederländische „Nein" ist ein Stopsignal, aber kein Wegweiser.
Damals gab es eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht einmal ansatzweise, allenfalls unverbindliche Beratungen außerhalb der europäischen Institutionen im Rahmen einer sogenannten Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Heute agiert die Union in der Libanon-Krise, im Kongo, in Bosnien- Herzegowina. Von ihr wird weltpolitische Verantwortung erwartet.
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeien war noch eine vage Vision. Insbesondere in den Niederlanden schien es undenkbar, daß jemals deutsche Polizisten jenseits der Grenze agieren dürften. Heute arbeiten 25 Staaten bei der Bekämpfung der international organisierten Kriminalität, bei Menschenhandel, Drogenhandel und Geldwäsche eng zusammen. Es gibt EUROPOL und EUROJUST. Das alles ist gewiß noch ausbaubedürftig, aber die Hindernisse des Anfangs sind überwunden.
In der Zeit einer einzigen Politikergeneration ist das Europäische Parlament von einem Beratungsparlament zu einem Mitentscheidungsparlament geworden. Die EU-Gesetzgebung geht weit über die bloße Reglementierung des Binnenmarktes hinaus. Aus der Wirtschafts- und Währungsunion ist de facto längst eine politische Union geworden. Die gemeinsame Währung in 13 Mitgliedstaaten macht die EU auch politisch weltweit relevant.
Schließlich und vor allem: In drei Erweiterungswellen hat sich die Union in den letzten 25 Jahren von 9 auf 27 Staaten verdreifacht. Zum erstenmal in der Geschichte haben sich fast alle europäischen Staaten und Völker freiwillig und auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu einer politischen Union zusammengeschlossen. Es sind ihre Erfolge, die sie an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit, Transparenz und demokratischen Legitimation geführt haben.
Die Erfolge der Vergangenheit begründen ein erhebliches Maß an Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Union auch in Zukunft. Sie lassen allerdings auch die Fallhöhe erkennen, wenn die bleierne Zeit der sogenannten „Denkpause" nicht zu Ende geht und die Bürgerinnen und Bürger der Union zunehmend gleichgültig, ja abweisend, gegenüberstehen.
Man kann den Text des Verfassungsvertrags mit einem „Nein" vom Tisch fegen, aber die Probleme, zu deren Lösung er eine neue institutionelle Basis legen sollte, bleiben auf ihm liegen: Die angemessene Wahrnehmung der weltpolitischen Verantwortung Europas, die Erweiterungsfähigkeit der Union und ihre Grenzen, die Konkretisierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, eine gemeinsame und nachhaltige Asyl- und Einwanderungspolitik, die Sicherung der Versorgung Europas mit Energie und die Reform der Finanzausstattung der Union. Die Frage nach der künftigen Gestalt und Größe der EU schält sich immer deutlicher als das alles überwölbende Problem der Zukunft heraus. Es muß jedem Beteiligten in und außerhalb der Union unmißverständlich klar sein, daß es eine Erweiterung ohne den Verfassungsvertrag oder zumindest ohne seine Substanz nicht geben kann.
Das Verhandlungsgewürge mit der Türkei, das die Union in den nächsten Jahren durchstehen muß, läßt erkennen, daß der Weg dieses Landes in die EU unter keinem guten Stern steht. Die Union muß sich darüber klar werden, daß Erweiterung kein Instrument der Außenpolitik sein darf. Erweiterung ist eine Herausforderung für die Existenz der Union selbst. Kein Mitgliedstaat würde sich als „tool box" für die Stabilisierung eines Nachbarstaates verstehen. Um ihres Bestands willen darf es auch die Union nicht tun.
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich vorgenommen, den Anstoß dazu zu geben, daß der Verfassungsprozeß weitergeführt wird mit dem Ziel, ihn Anfang 2009 zum Abschluß zu bringen. Dazu müssen sich die Regierungschefs verpflichten und sich darauf einigen, die Substanz des Verfassungsvertrages zu erhalten. Das gilt vor allem für
- die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, samt Außenminister und diplomatischen Dienst;
- die Überführung der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik in den Gesetzgebungsbereich der Union;
- die ausgewogene Stärkung des Europäischen Rats, der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments, schließlich die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in der Gesetzgebung und die Erweiterung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments;
- und, wahrlich nicht zuletzt, die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta.
Zur Substanz gehört auch die Balance, die zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten im Verfassungsvertrag gefunden wurde.
Das „Nein" der Franzosen und Niederländer, das „Ja" von 18 anderen Mitgliedstaaten zum Verfassungsvertrag und die Fülle der Probleme, die einer Lösung in naher Zukunft harren, haben sich zu einem festen Knoten verdichtet. Der deutschen Ratspräsidentschaft ist es zugefallen, diesen Knoten zu lösen. Obwohl sie nur sechs Monate Zeit hat, braucht sie Geduld und Fingerspitzengefühl. Ein Alexander ist nicht in Sicht. Er wäre auch nicht hilfreich.
Europa gestern, heute, morgen – und die Deutsche Ratspräsidentschaft (12.12.2006)
Beitrag für das Parliament Magazin
Nicht die Europäische Union, sondern das europäische Einigungswerk selbst ist in der Krise. Krisen hat es auch im vergangenen Vierteljahrhundert immer wieder gegeben: die „Eurosklerose" Anfang der achtziger Jahre, die Ablehnung des Vertrages von Maastricht durch Dänemark, das Scheitern einer grundlegenden Vertragsreform im Europäischen Rat in Nizza. Sie wurden alle gelöst und haben die Union auf ihrem beispiellosen Erfolgskurs zwar aufgehalten, aber nicht davon abgebracht. Die aktuelle Krise trifft die Union auf einem höheren Niveau.
Vor 25 Jahren lag ein Verfassungsvertrag noch außerhalb der politischen Realität, ja sogar außerhalb jeder realen Vorstellungskraft. Heute sind 18 von 27 Staaten bereit, das europäische Einigungswerk auf dieser neuen Grundlage fortzusetzen. Das französisch-niederländische „Nein" ist ein Stopsignal, aber kein Wegweiser.
Damals gab es eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht einmal ansatzweise, allenfalls unverbindliche Beratungen außerhalb der europäischen Institutionen im Rahmen einer sogenannten Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Heute agiert die Union in der Libanon-Krise, im Kongo, in Bosnien- Herzegowina. Von ihr wird weltpolitische Verantwortung erwartet.
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeien war noch eine vage Vision. Insbesondere in den Niederlanden schien es undenkbar, daß jemals deutsche Polizisten jenseits der Grenze agieren dürften. Heute arbeiten 25 Staaten bei der Bekämpfung der international organisierten Kriminalität, bei Menschenhandel, Drogenhandel und Geldwäsche eng zusammen. Es gibt EUROPOL und EUROJUST. Das alles ist gewiß noch ausbaubedürftig, aber die Hindernisse des Anfangs sind überwunden.
In der Zeit einer einzigen Politikergeneration ist das Europäische Parlament von einem Beratungsparlament zu einem Mitentscheidungsparlament geworden. Die EU-Gesetzgebung geht weit über die bloße Reglementierung des Binnenmarktes hinaus. Aus der Wirtschafts- und Währungsunion ist de facto längst eine politische Union geworden. Die gemeinsame Währung in 13 Mitgliedstaaten macht die EU auch politisch weltweit relevant.
Schließlich und vor allem: In drei Erweiterungswellen hat sich die Union in den letzten 25 Jahren von 9 auf 27 Staaten verdreifacht. Zum erstenmal in der Geschichte haben sich fast alle europäischen Staaten und Völker freiwillig und auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu einer politischen Union zusammengeschlossen. Es sind ihre Erfolge, die sie an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit, Transparenz und demokratischen Legitimation geführt haben.
Die Erfolge der Vergangenheit begründen ein erhebliches Maß an Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Union auch in Zukunft. Sie lassen allerdings auch die Fallhöhe erkennen, wenn die bleierne Zeit der sogenannten „Denkpause" nicht zu Ende geht und die Bürgerinnen und Bürger der Union zunehmend gleichgültig, ja abweisend, gegenüberstehen.
Man kann den Text des Verfassungsvertrags mit einem „Nein" vom Tisch fegen, aber die Probleme, zu deren Lösung er eine neue institutionelle Basis legen sollte, bleiben auf ihm liegen: Die angemessene Wahrnehmung der weltpolitischen Verantwortung Europas, die Erweiterungsfähigkeit der Union und ihre Grenzen, die Konkretisierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, eine gemeinsame und nachhaltige Asyl- und Einwanderungspolitik, die Sicherung der Versorgung Europas mit Energie und die Reform der Finanzausstattung der Union. Die Frage nach der künftigen Gestalt und Größe der EU schält sich immer deutlicher als das alles überwölbende Problem der Zukunft heraus. Es muß jedem Beteiligten in und außerhalb der Union unmißverständlich klar sein, daß es eine Erweiterung ohne den Verfassungsvertrag oder zumindest ohne seine Substanz nicht geben kann.
Das Verhandlungsgewürge mit der Türkei, das die Union in den nächsten Jahren durchstehen muß, läßt erkennen, daß der Weg dieses Landes in die EU unter keinem guten Stern steht. Die Union muß sich darüber klar werden, daß Erweiterung kein Instrument der Außenpolitik sein darf. Erweiterung ist eine Herausforderung für die Existenz der Union selbst. Kein Mitgliedstaat würde sich als „tool box" für die Stabilisierung eines Nachbarstaates verstehen. Um ihres Bestands willen darf es auch die Union nicht tun.
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich vorgenommen, den Anstoß dazu zu geben, daß der Verfassungsprozeß weitergeführt wird mit dem Ziel, ihn Anfang 2009 zum Abschluß zu bringen. Dazu müssen sich die Regierungschefs verpflichten und sich darauf einigen, die Substanz des Verfassungsvertrages zu erhalten. Das gilt vor allem für
- die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, samt Außenminister und diplomatischen Dienst;
- die Überführung der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik in den Gesetzgebungsbereich der Union;
- die ausgewogene Stärkung des Europäischen Rats, der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments, schließlich die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in der Gesetzgebung und die Erweiterung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments;
- und, wahrlich nicht zuletzt, die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta.
Zur Substanz gehört auch die Balance, die zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten im Verfassungsvertrag gefunden wurde.
Das „Nein" der Franzosen und Niederländer, das „Ja" von 18 anderen Mitgliedstaaten zum Verfassungsvertrag und die Fülle der Probleme, die einer Lösung in naher Zukunft harren, haben sich zu einem festen Knoten verdichtet. Der deutschen Ratspräsidentschaft ist es zugefallen, diesen Knoten zu lösen. Obwohl sie nur sechs Monate Zeit hat, braucht sie Geduld und Fingerspitzengefühl. Ein Alexander ist nicht in Sicht. Er wäre auch nicht hilfreich.
Markt oder Menschenrechte? Interview für Vorwärts (Juli 2006)
Chinas Aufstieg ist für die Europäische Union auch eine Chance, so der EU-Parlamentarier Klaus Hänsch. Er warnt davor, Menschenrechte "herbeisanktionieren" zu wollen.
Nicht mehr nur Billigwaren, sondern immer mehr Hightech-Produkte kommen aus China. Welche Folgen hat das für die Europäische Union?China ist ein ernstzunehmender Wettbewerber vor allem auf Drittmärkten in Asien, Lateinamerika und Afrika. Dort wird über den künftigen Anteil Europas an der Weltwirtschaft entschieden. Das ist die eine Seite. Die andere ist, die wachsende Aufnahmefähigkeit des chinesischen Marktes für europäische Produkte und künftige chinesische Investitionen in Europa.
Welche Strategien hat Europa, um im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten?
Ein chinesisches Sprichwort sagt: "Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen". Die EU muß die Veränderungen nutzen, nicht abwehren wollen. Dafür muß sie politisch einig sein und mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht darauf drängen, daß China zum Beispiel den Schutz von Urheberrechten garantiert und bestimmte nationale Teilmärkte wie etwa Telekommunikation öffnet.
Der Energiehunger der mittlerweile viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt verursacht weltweit steigende Energiepreise. Zahlt Europa für Chinas Aufschwung?
Europa muß sich auf steigende Energiepreise einrichten - nicht nur wegen China. Zugleich steigt in China der Bedarf an allen Technologien für effektive und umweltschonende Gewinnung und Verwendung von Energie. Für diesen großen gewinnbringenden Markt ist Europa gut aufgestellt.
Ist das Thema Menschenrechtsverletzungen von der EU angesichts des lockenden chinesischen Marktes zu sehr in den Hintergrund gedrängt worden?
Unsere Kritik bleibt vernehmlich, aber sie verbietet sich jede naseweise Selbstgewißheit. Schließlich haben Europäer vor 200 Jahren am Sklavenhandel noch kräftig verdient und sich vom Kolonialismus erst vor 50 Jahren verabschiedet. Und im vergangenen Jahrhundert haben wir der Welt zwei menschenrechtsverachtende Regime vorgeführt. Menschenrechte lassen sich nicht herbeisanktionieren - schon gar nicht durch wirtschaftliche Isolation. China will dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg durch Öffnung seines Marktes. Das wird die Öffnung der chinesischen Politik und Gesellschaft für eine stärkere Beachtung der Menschenrechte erzwingen - eher früher als später.
Unterwegs zu einer europäischen Identität (Juli 2006)
Beitrag für das Bulletin Mérite Européen, Ausgabe 2006/VIII. Jahrgang
Je mehr man über Identität redet, desto weniger hat man sie. Es ist kein Zufall, daß europäische Identität ein Thema ist. Die Europäische Union ist kein Staat und sie wird auch keiner werden. Dennoch kann auch sie ohne Selbst-Bewußtsein, ohne inneren Zusammenhalt, der mehr ist als der Abgleich wirtschaftlicher, finanzieller und politischer Interessen, nicht bestehen. In der Diskussion um die Verfassung und die Erweiterung der EU geht es auch um Identitätsfragen: Woher kommen und wohin gehen wir Europäer? Und: Wer gehört dazu, damit wir Europäer „wir" sagen?
Wie nicht anders zu erwarten war, hat der Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten die EU nicht nur größer, sondern auch schwieriger gemacht. Dennoch: den Beitrittswünschen lag ein tieferes Zugehörigkeitsgefühl zu Europa zugrunde als es in manchen westlichen Mitgliedstaaten zu bemerken ist. Die Osteuropäer haben für die Wiedergewinnung europäischer Wertestandards länger kämpfen und mehr opfern müssen als die Westeuropäer. Die Ost-erweiterung der Europäischen Union ist die Rückkehr Europas zu sich selbst.
Wir sollten aufhören, europäische Identität an der nationalen zu messen. Kein Europäer muß sich so „zu Europa" gehörig fühlen wie Franzosen zu Frankreich oder Polen zu Polen oder Deutsche zu Deutschland. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden immer mehr sein, als nur Bundesländer einer „Bundesrepublik Europa". Der Nationalstaat klassischer Prägung ist nicht mehr Herr im eigenen Haus, aber am Ende ist er längst nicht.
Die Europäische Union löst die europäischen Völker nicht auf. Sie macht aus ihnen kein europäisches Volk. Sie vereinigt sie, aber sie verschmilzt sie nicht. Solange in Europa Nationen bestehen - und sie werden, wenn auch nicht ewig, so doch noch lange bestehen - wollen sie natürlich auch in ihren eigenen Staaten leben. Europäische Identität wächst aus der Einheit, nicht aus der Einheitlichkeit der Europäer.
Es wird auch in Zukunft eine Fülle von nationalen und regionalen Sprachen, Kulturen, Gewohnheiten, Traditionen und Erinnerungen geben. In ihnen bleiben wir zu Hause. Europäische Identität kann nicht und wird nicht an die Stelle lokaler, regionaler oder nationaler Identitäten treten. Sie bleibt immer nur ein Zusatz. Andernfalls versuchten wir aus der europäischen Geschichte auszusteigen. Sie würde uns dafür bestrafen.
Europa ist älter als seine Nationen. Ihre Verschiedenheiten und Abgrenzungen, ihre Eigenarten und Eigenwilligkeiten sind „Differenzierungen" eines Ganzen, in dem griechisch-römische Antike und Christentum, europäisches Judentum und die Aufklärung eine unvergleichliche Mischung eingegangen sind. Ohne die bewußte Annahme und Aneignung dieses gemeinsamen Erbes in der geistig-politischen Kultur gehört ein Land nicht zu Europa.
Europa als Wirtschaftsstandort schafft keine Identität, Europa muß sich als Wertegemeinschaft erleben. Europäisch ist der Dreiklang von „Freiheit, Gleichheit, Solidarität", der auch den Wertekanon des EU-Verfassungsvertrages dominiert. In ihm klingen die Werte der Aufklärung, des Christentums und der antiken Philosophie mit. Europäisch ist die Trennung von „regnum" und „sacerdotium", die sich modern im säkularen Staat manifestiert. Europäisch ist, bei allen Unterschieden im einzelnen, daß wir, von Helsinki bis Lissabon, von den Beskiden bis zu den Hebriden, eine einzigartige und unauflösliche Verbindung von wirtschaftlicher Leistung und sozialer Gerechtigkeit zu bewahren suchen. Europäisch ist das immer gefährdete Gleichgewicht zwischen der Freiheit des einzelnen und seiner gesellschaftlichen Verantwortung.
Mit der Europäischen Union identifizieren sich die Bürger nur, wenn sie nützt und schützt. Mit dem Euro, der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist sie in die letzten drei der klassischen Hoheitsbereiche der Nationalstaaten hineingewachsen: das Geld, die Justiz und das Militär. Das zwingt uns mehr als je zuvor zu gemeinsamem Handeln - nach innen und nach außen. Identität wächst aus der Gemeinsamkeit des Tuns. Das braucht Zeit. Auch die nationalen Identitäten haben sich erst durch lange Reihen gemeinsamer Erfolge und Enttäuschungen beglaubigt. Und was den dazu nötigen Zeitraum anlangt, haben wir Deutsche gerade unsere besonderen Erfahrungen.
Identität wendet sich immer auch nach außen. Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat eine weltpolitische Verantwortung. In der Welt bilden sich neue Mächte und Machtblöcke. Wir Europäer dürfen nicht wie früher den Platz in der Welt beanspruchen, der anderen zusteht, aber wir haben das Recht, unseren eigenen zu behaupten. Wir wollen andere nicht diskriminieren oder ausschließen, aber wir wollen unsere europäische Lebensweise bewahren auf der Grundlage gemeinsamer Werte.
Identität heißt nicht Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit - schon gar nicht Abschottung. Identität heißt Abgrenzung. Europa hat Grenzen, aber die Geographie zieht andere als die Geschichte, die Ökonomie andere als die Kultur - und sie alle sind verschieden von denen des politischen Europa. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union folgt nicht einer Kriterien-Automatik, sie ist eine politische Willensentscheidung. Identität aber kann kein Parlament und keine Regierung per Beschluß festlegen. Eine fertige europäische Identität gibt es ohnehin nicht. Indem wir Europa bauen, arbeiten wir an unserer Identität als Europäer.
„Verkorkste Beitrittsverträge ausgehandelt“ (17.05.2006)
Die Probleme mit dem EU- Beitritt von Rumänien und Bulgarien stärken nicht gerade das Vertrauen der Bürger in Brüssel. Was ist schief gelaufen?
Der Beitritt von Bulgarien und Rumänien ist notwendig. Wir sind beiden Ländern gegenüber politisch, ökonomisch und moralisch verpflichtet, sie wie versprochen aufzunehmen. Allerdings ist die Situation heute unbefriedigend. Daran gibt es keinen Zweifel. Siebeneinhalb Monate vor der geplanten Aufnahme sind beide Staaten nicht in der Lage, wichtige gesetzliche Vorraussetzungen zu erfüllen.
Beide Kandidaten hätten sich also mehr anstrengen müssen?
Ja, sie haben sich zu sehr in Sicherheit gewiegt. Umso größer ist jetzt die Enttäuschung. Eine große Mitschuld tragen aber auch die Mitgliedsländer. Denn die EU-Regierungen haben völlig verkorkste Beitrittsverträge ausgehandelt. Es hätte keinen festen Beitrittstermin geben dürfen. Bedenken des Europaparlaments wurden in den Wind geschlagen. Diese Art des vom Ministerrat betriebenen Beitrittsautomatismus ist mit dafür verantwortlich, daß die Bürger Zweifel an der EU äußern.
Welche Lehren muß die EU für künftige Beitrittsrunden ziehen?
Solche politischen Rabatte und Beitrittsverträge auf Vorschuß darf es nicht mehr geben. Jeder Aufnahmekandidat muß vor dem Beitritt alle Kriterien erfüllen.
Was bedeutet es praktisch für Bulgarien und Rumänien, wenn sie zwar wie geplant Anfang 2007 beitreten, de facto aber unter Kuratel stehen?
Bulgarien und Rumänien begeben sich für einige Jahre in eine selbstverschuldete EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse. Denn die Schutzklauseln, die die Kommission vermutlich anwenden wird, beschränken die Souveränität der beiden Neu-Mitglieder erheblich. Die ständige Überwachung der Gerichtsbarkeit in den letzen beiden Ländern, die Beschränkung des Waren- und Finanztransfers, die Blockade wichtiger EU- Finanzmittel- solche Restriktionen werden natürlich als große Belastung empfunden. Aber beide Länder haben es ja in der Hand, einen Teil der Mißstände abzubauen.
Die Fragen stellte Michael Scheerer
Verfassungspolitische Leitvorstellungen (April 2006)
Beitrag von zum Handbuch der Europäischen Verfassung des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften (Veröffentlichung noch nicht erfolgt)
Der Europäische Rat hatte dem "Konvent für die Zukunft Europas" den Auftrag erteilt, Vorschläge zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Union nach innen und außen, zur Verbreiterung der demokratischen Legitimation ihrer Politik und zur Verbesserung der Transparenz ihrer Entscheidungsvorgänge auszuarbeiten. Diese Triade hat die Arbeit des Konvents bestimmt und den Entwurf des Vertrages über eine Verfassung für Europa geprägt. Zum allein gültigen Maßstab für die Bewertung gemacht, verleitet sie allerdings zu einer unangemessen verkürzten, gleichsam "verfassungstechnischen" Interpretation des Vertrages. Das Präsidium des Konvents hat zwischen dem Februar 2002 und dem Juni 2003 intensiv und zum Teil ausführlich historische und aktuelle politische Überlegungen in die Beratung einiger grundlegender verfassungspolitischer Weichenstellungen einfließen lassen. Aus der Essenz der Erörterungen zieht dieser Beitrag seine Darlegungen, Erläuterungen und Einschätzungen.[1]Finalität
Weder der Konvent, der den Verfassungsvertrag entworfen, noch die Regierungskonferenz, die ihn beschlossen hat, tagten in einer revolutionären Situation. Es ging mithin nicht um einen in Rechtsform gegossenen neuen Gesellschaftsentwurf. Es ging auch nicht um eine Staatsgründung. Sie wäre auf den Widerstand aller Mitgliedstaaten gestoßen und ist im übrigen wegen der in der erweiterten Union größer gewordenen Heterogenität der historischen Erfahrungen und kulturellen Traditionen, der Vielfalt der Sprachen und der Verschiedenheit gesellschaftlicher Leitvorstellungen auch nicht vorstellbar. Der Nationalstaat des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts konnte nicht und sollte auch nicht auf die europäische Ebene transponiert werden, auch nicht in der Form eines europäischen Bundesstaates.
Eine „Verfassung" in ihrer herkömmlich auf den Staat beschränkten Begrifflichkeit konnte und sollte nicht geschaffen werden. Wie schon die geltenden europäischen Verträge weist der "Vertrag über eine Verfassung für Europa", kurz: "Verfassungsvertrag", mit der Aufteilung der Hoheitsgewalt zwischen den Mitgliedstaaten und der Union, den Schranken für ihre Ausübung und der Organisation der Entscheidungsverfahren der Union, materiell alle wesentlichen Strukturmerkmale einer Verfassung auf: Er legitimiert und limitiert politische Macht.
Die Frage, ob ein Gebilde wie die Europäische Union ohne europäisches "Staatsvolk" und mit lediglich abgeleiteter Hoheitsgewalt überhaupt "verfassungsfähig" ist, hat die Debatten zu keiner Zeit beschwert. Eine Rolle hat dagegen die Frage gespielt, ob ein internationaler Vertrag "Verfassung" genannt werden kann und soll. Im Präsidium, wie übrigens auch im Konvent, gab es eine kleine Minderheit, die das Wort "Verfassung" vermeiden wollte. Sie hatte, nachdem die britische Regierung im August 2002 ihren Widerstand gegen diese Bezeichnung im Titel des Vertrages aufgegeben hatte, keine Chance mehr, sich mit ihrer Vorsicht durchzusetzen. Tatsächlich sollte nach dem zwölfjährigen Reformstakkato (mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie den Vertragsanpassungen durch die Beitritte von 1995 und 2004) "lediglich" ein überschaubarer und dauerhafter Rechtsrahmen für die Konsolidierung der Union geschaffen werden, der die "Finalität" ihrer Entwicklung erkennen läßt.
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa besiegelt das Ende der bundesstaatlichen Teleologie der Einigung Europas. Das alte Ziel, eine "immer engere Union" zu schaffen, wurde nicht mehr in den Verfassungsvertrag aufgenommen. Die Präambel spricht stattdessen vom "nunmehr geeinten Europa" und davon, daß die Völker Europas "immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam gestalten" - durch die Union des Verfassungsvertrages also. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, daß die Union sich bundesstaatlichen Strukturen weiter annähert, aber weitere Integration ist jedenfalls kein Verfassungsauftrag mehr.
Der Verfassungsvertrag konstituiert eine Union der Bürger und der Staaten (Art. I-1 VVE). Damit bestätigt und bekräftigt er ihren Charakter als rechtliche und politische Organisation „sui generis", in der sowohl konföderale Elemente mit intergouvernementalen als auch föderale Elemente mit vergemeinschafteten Entscheidungsverfahren gleichermaßen konstitutiv sind. Das konföderale Element ist weder "Durchlauferhitzer" zum, noch "Abirrung" von einem föderalen Ziel der europäischen Integration. Der vergemeinschaftete Bereich ist nicht die „eigentliche" Union, die intergouvernementale Zusammenarbeit nicht Ausdruck „nationaler Egoismen". Nur im Zusammenspiel der vergemeinschafteten und der intergouvernementalen Elemente des Verfassungsvertrages ist die Union funktionsfähig.
Der Verfassungsvertrag erweitert die Pflichten der Mitgliedstaaten im Verhältnis zueinander - insbesondere zur Solidarität und zum Beistand bei bewaffneten Angriffen, Terroranschlägen und Naturkatastrophen. Und er transformiert, entsprechend der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs, die bisher einseitige Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue zur wechselseitigen Treuepflicht für Union und Mitgliedstaaten nach den Grundsätzen des gegenseitigen Respekts und der umfassenden loyalen Zusammenarbeit (Art. I-5 VVE).
Auf der anderen Seite ist deutlicher als in den geltenden Verträgen erkennbar, daß die Freiheit der Mitgliedstaaten auch bei der Ausübung ihrer eigenen Kompetenzen begrenzt ist. Der Verfassungsvertrag überträgt der Union die Koordinierung der seinen Zielen dienenden Politik der Mitgliedstaaten (Art. I-1 VVE). Er orientiert auch nationalstaatliches Handeln auf das Erreichen gemeinsamer Ziele. Darüber hinaus geben die Ziel-Artikel (insbesondere Art. I-3 VVE) und die horizontalen Klauseln (Art. III-116 bis 122 VVE) nicht nur der Politik der Union, sondern auch der der Mitgliedstaaten eine bestimmte Ausrichtung vor. So verpflichtet der Verfassungsvertrag die Mitgliedstaaten, sich auf Große Wirtschaftspolitische Leitlinien zu einigen und sich an sie zu halten. Jeder einzelne von ihnen ist wie die Union auf die Grundsätze "stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz" festgelegt (Art. III-177, 3 VVE). Ferner eröffnet Artikel I-17 VVE ein weiteres Feld für die Koordinierung durch die Union.
Die Kompetenz-Kompetenz in der Europäischen Union bleibt allerdings, anders als in einem Bundesstaat, allein bei den Mitgliedstaaten. Sie, und nur sie, übertragen einzelne ihrer Zuständigkeiten auf die Union. Eigene darf sie nicht generieren. So sind in einer Union der Staaten Mehrheitsentscheidungen über ihre Grundordnung ausgeschlossen. Deshalb ist es dabei geblieben, daß die Mitgliedstaaten Änderungen am Verfassungsvertrag nur einstimmig beschließen können. Eine Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit bei Vertragsänderungen hätte in einer Reihe von Mitgliedstaaten beachtliche verfassungsrechtliche Probleme aufgeworfen. Für Deutschland enthält die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht eine deutliche Warnung.
Bestrebungen im Konvent, das Erfordernis der Einstimmigkeit auf Beschlüsse über weitere Souveränitätsübertragungen zu beschränken, hat das Präsidium verworfen. Schon nach einer kurzen Prüfung war klar, daß zwischen lediglich institutionell-organisatorischen Vertragsänderungen und solchen, durch die Souveränitätsrechte direkt oder indirekt übertragen werden, mit hinreichender Klarheit und Rechtssicherheit nicht zu unterscheiden ist.
Der Gefahr, daß die Union zur Anpassung an neue Entwicklungen unfähig werden und an der Starrheit ihrer Grundlagen zerbrechen könnte, sucht der Verfassungsvertrag durch "vereinfachte Änderungsverfahren" zu begegnen. So kann der Europäische Rat in einigen Grenzfällen, (zum Beispiel für den Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung oder vom besonderen zum normalen Gesetzgebungsverfahren (Art. IV-444 VVE) oder für die Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft bzw. bei der Erweiterung der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. III-274,1 und 271,1 VVE) den Vertrag einstimmig ändern, ohne daß dieser Beschluß in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muß. Da dieser Beschluß einstimmig gefaßt werden muß, behalten sie ein Vetorecht gegen das Beschreiten dieser "passerelles", die auch "passerelles" zwischen der föderalen und der konföderalen Natur der Union sind.
Wie alle Verfassungen wird auch der EU-Verfassungsvertrag im Laufe der Zeit geändert werden. Zweifellos werden sich früher oder später eine Reihe von Unzulänglichkeiten und ad-hoc-Kompromissen, die er enthält, als korrekturbedürftig erweisen. Auch werden politische Verschiebungen oder gesellschaftliche Entwicklungen in Europa Änderungen an der Verfassung nötig machen. Aber Struktur und Substanz werden für einen längeren Zeitraum Bestand haben.
Nach den Schwierigkeiten bei der Ratifizierung werden die Mitgliedstaaten einen neuen grundlegenden Reformprozeß so bald nicht mehr beginnen. Zudem kann auf wachsenden Integrationsbedarf mit dem Instrument der verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der Verfassung flexibel reagiert werden. Der Verfassungsvertrag birgt jedoch im Vergleich zu internationalen Verträgen, also auch zu den geltenden EU-Verträgen, ein größeres Potential an Offenheit und Flexibilität. Darin ist er mehr "Verfassung" als "Vertrag".
Gleichgewichte
Der Verfassungsvertrag soll dafür sorgen, daß die EU die Aufnahme von zehn neuen Staaten - alle, bis auf Polen, von kleinerer bis mittlerer Größe - institutionell und politisch verkraftet. Das erfordert eine Verbreiterung der demokratischen Legitimation ihrer Entscheidungen und die Stärkung aller ihrer Institutionen. Das wiederum machte eine Neujustierung des institutionellen und des machtpolitischen Gleichgewichts der Union notwendig.
- zwischen den Staaten
Die dem Verfassungsvertrag zugrunde liegende konstitutive Gleichwertigkeit der beiden Legitimationsträger "Bürger" und "Staaten" wirft ein grundlegendes Problem auf: Nach dem Staats- und Völkerrechtsprinzip sind alle Staaten, nach dem Demokratieprinzip sind alle Bürger in der Union gleich. Die Gleichheit der Staaten und die Gleichheit der Bürger miteinander zu verbinden, hieß, sowohl das eine wie das andere Prinzip zu relativieren.
Die Gleichheit der Staaten ist rechtliche Fiktion, nicht politische Realität. Daß "die Union die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung" (Art. I-5 VVE) achtet, ändert daran nichts. Rechtlich sind in der Europäischen Union alle Staaten gleich, politisch sind sie es nicht. Sie waren es nie und werden es auch künftig nicht sein. Die Unterschiede ihrer Größe, Demographie, wirtschaftlicher Leistungskraft, geographischen Lage geben ihnen ein unterschiedliches politisches Gewicht.
Wo keine Gleichheit herrscht, muß Gleichgewicht hergestellt werden. Das ist ein Grundzug der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Es ist auch ein Kernelement des Vertrages über eine Verfassung für Europa. Das alte Europa souveräner Staaten wollte das Gleichgewicht immer wieder erzwingen auf dem Feld der Diplomatie durch Achsen und Allianzen und auf den Schlachtfeldern durch Blut und Eisen. Das neue Europa der Union will es durch gleiche Partizipation aller Staaten und eine als gerecht angesehene Gewichtung eines jeden von ihnen in gemeinsamen Institutionen ermitteln. An die Stelle der alten "balance of powers" treten die neue "balance of institutions" und die "balance of legitimations".
Das Gleichgewicht zwischen den drei großen und den drei kleinen Gründerstaaten ließ sich am Beginn des europäischen Einigungsprozesses noch verhältnismäßig leicht herstellen. Damals galt weitgehend noch das Prinzip einstimmiger Entscheidungen, demzufolge große und kleine Staaten ohnehin das gleiche Gewicht haben. Und bei der Gewichtung der Stimmen im Rat wie bei der Zahl der Mandate im Parlament akzeptierte Deutschland trotz seiner damals 61 Millionen Einwohner die Gewichtsgleichheit mit den 55 Millionen Frankreichs bzw. Italiens.
Die Erweiterungen zwischen 1973 und 1995 von sechs auf 15 Mitgliedstaaten, der schrittweise Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie die mit der Wiedervereinigung stark gewachsenen Bevölkerungszahl Deutschlands hatten dieses Gleichgewicht schon erheblich beeinträchtigt. Mit der Erweiterung von 2004 auf 25 Mitgliedstaaten war es durch bloße Fortschreibung der bisher geltenden Gewichtungen nicht mehr zu halten. Es neu zu justieren gehörte bis zuletzt und in die Regierungskonferenz hinein zu den umstrittensten Grundentscheidungen des Verfassungsvertrages.
Die 19 "kleinen" Staaten mit nur etwa einem Viertel der EU-Bevölkerung hätten gegenüber den sechs "großen" mit drei Vierteln der Bevölkerung im Rat eine deutliche Mehrheit. Mit den bisher geltenden Gewichtungen im Rat wären Entscheidungen möglich geworden, die zwar eine qualifizierte Mehrheit der Staaten, aber nicht der von ihnen vertretenen Bürger versammelte. Ein solches Ungleichgewicht zu Lasten der Bürger der größeren Mitgliedstaaten ist in einer Union, in der nicht nur das Parlament, sondern auch der Rat verbindliches Recht für alle Bürger setzt, auf die Dauer nicht hinnehmbar.
Dabei ging es weniger darum, Dominationsängste zu mildern - hier vor dem Gewicht der großen, dort vor der Zahl der kleinen Staaten. Sie sind nach aller Erfahrung unbegründet. Einen Block der "Kleinen" gegen einen der "Großen" hat es bisher nicht gegeben. Er wird sich auch künftig nicht bilden. Vielmehr ging es darum, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Legitimationssträngen "Union der Bürger" und "Union der Staaten" herzustellen.
Die Einführung des demographischen Faktors in die Definition der qualifizierten Mehrheit („Doppelte Mehrheit"), die Festschreibung der degressiven Proportionalität für die Mandatsverteilung im Europäischen Parlament und die Garantie, daß jeder Mitgliedstaat im Rahmen des Rotationsprinzips das gleiche Recht hat, einen Kommissar zu stellen, sind die Elemente des "Gleichgewichts der Legitimationen", das einer Union der Bürger und der Staaten angemessen ist.
- zwischen den Institutionen
In einer "Union der Bürger und der Staaten" muß auch die demokratische Legitimierung und Limitierung politischer Macht "sui generis" sein. Die Institutionen sind daher in ihrer Zusammensetzung, ihren Kompetenzen und ihren Beziehungen zueinander nicht auf einen europäischen Bundesstaat zugeschnitten. Schon gar nicht sind sie, möglicherweise sogar mißratene, Klone nationalstaatlicher Institutionen.
Das Europäische Parlament ist nicht auf dem Wege, ein „richtiges" Parlament (gemeint ist "wie die nationalen Parlamente") zu werden. Es kann und darf kein allein entscheidendes und kein alles entscheidendes Parlament werden. Es muß ein mitentscheidendes bleiben, allein schon, weil in ihm die Vertretung der Bürger der Mitgliedstaaten notwendigerweise stark verzerrt ist.
Die Europäische Kommission ist nicht unterwegs zu einer EU-„Regierung". Als Exekutive mit Initiativmonopol spielt sie zwar längst auch eine politische Rolle. Aber mit ihrer politischen Vielfarbigkeit, die sich aus ihrer multinationalen Zusammensetzung zwangsläufig ergibt und als unparteiische „Hüterin der Verträge" kann sie nicht nur der exekutive Arm einer politischen Mehrheit im Europäischen Parlament sein. Bestrebungen, der Kommission das Initiativmonopol zu nehmen, sind im Präsidium nur kurz debattiert und dann verworfen worden. Ohne Initiativmonopol wird die Kommission zum "Sekretariat" des Parlaments und, noch viel stärker, zu dem des Rates. Das würde das Gleichgewicht zwischen den Institutionen der Union zerstören.
Der Ministerrat kann und soll sich nicht zu einer „zweiten Kammer" des Europäischen Parlaments entwickeln. Als aus Vertretern der nationalen Exekutiven zusammengesetztes Legislativorgan kompensiert er die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union durch die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Rechtsetzung.
Durch die substantielle Erweiterung der Mitentscheidungsrechte des von den Bürgern direkt gewählten Europäischen Parlaments wird die demokratische Legitimation der EU-Rechtsetzung erheblich, aber nicht hinreichend verstärkt. In einer Union, die eben auch eine Union der Staaten ist, muß sie die nationalen Parlamente einbeziehen. Zwar werden sie ausdrücklich nicht zum parallelen Gesetzgebungsorgan der Union, bestimmen aber durch ihre Kontrollrechte bei der Einhaltung der Kompetenzordnung und der Wahrung der Subsidiarität, wenn auch nicht über das "wie", so doch über das "ob" von Gesetzgebung mit. Das bringt, verbunden mit dem Interpretationsspielraum bei der Feststellung einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, die nationalen Parlamente einer Mitsprache auch in der Sache selbst sehr nahe. Dabei tangieren sie die Rechte nicht nur des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission, sondern auch des Rates. Daß die Parlamente der einen Ebene bei der Gesetzgebung der anderen mitwirken, ist ein föderales Novum. In ihm kommt der "sui-generis-Parlamentarismus" einer Union der Bürger und der Staaten zum Ausdruck.
Der bipolare Charakter einer Union, die intergouvermentale und vergemeinschaftete Elemente konstitutiv in sich vereint, muß auch in den Institutionen zum Ausdruck kommen. Die Schaffung der Doppelspitze, in der der Präsident des Europäischen Rates aus der Rotation der Ratspräsidentschaften herausgenommen, durch Wahl und Amtsdauer herausgehoben und in seinen Aufgaben gestärkt wird und der Präsident der Kommission die Richtlinienkompetenz für deren Politik erhält, ist dafür ein eklatantes Beispiel. Der Europäische Außenminister, der das Amt eines Vizepräsidenten der Kommission und des Vorsitzenden des Außenministerrates in "Personalunion" vereint, drückt, wenn auch auf andere Weise, ebenfalls die Bipolarität der Union aus.
Die Sorge, der Präsident des Europäischen Rats werde das "intergouvernementale" Element zu Lasten des durch die Kommission und ihren Präsidenten verkörperten "vergemeinschafteten" Elements verstärken, ist unbegründet. Die Verfassung verbietet dem Europäischen Rat ausdrücklich, legislative Entscheidungen an sich zu ziehen, und seinem Präsidenten, durch die Aufzählung seiner Aufgaben, exekutive Funktionen zu übernehmen. Im übrigen hat der Europäische Ratspräsident nicht mehr "seinen" Mitgliedstaat als "Hausmacht". Er verfügt nicht mehr über das Instrumentarium „seiner" Regierung, sondern muß sich auf das Ratssekretariat stützen. Seine Stärke liegt in der längeren Amtszeit und in seinem Mediationsgeschick. Will er Erfolg haben, muß er eher Vertreter gemeinschaftlicher Positionen als nationaler Interessen sein.
In der modernen, massenmedial geprägten Demokratie verbinden die Bürger Orientierung, Führung und Verantwortlichkeit mit Personen. Institutionen, die europäischen zumal, erscheinen den Bürgern abstrakt und gesichtslos. Der Verfassungsvertrag hebt die drei Führungsämter durch größere Kompetenzen, breitere Legitimierung und längere Amtsdauer hervor und macht sie sichtbarer. Daß er ihnen größere Gestaltungsräume als die geltenden EU-Verträge eröffnet und die Chance bietet, europäische Politik stärker zu personalisieren., ist gewollt.
Ob und wie die neuen Möglichkeiten genutzt werden, wird vor allem von den Personen abhängen, die als erste diese Ämter besetzen. Auch muß sich in der Praxis zeigen, ob aus dem Führungstrio eine dominierende Figur herauswächst. Gewiß kann die Konstruktion zu Reibungsverlusten führen. Aber solange nicht wirklich starkes Unheil droht, müssen sie nicht durch eine Verfassung ausgeschlossen, sondern können in der praktischen Politik ausgeglichen werden.
Paradigmenwechsel
Fünfzig Jahre lang war die Einigung Europas nach innen gerichtet: auf fortschreitende Integration und die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, auf Erweiterung und Vertiefung also. In der veränderten Weltlage, in der die Blöcke aufgelöst, mit internationalem Terrorismus, wachsender Klimaveränderung sowie weltweiten Migrationströmen globale Bedrohungen entstanden und die Wirtschaft durch Handel, Finanzen und Arbeit weltweit vernetzt sind, muß sich die Einigung Europas nach außen richten. Gemeinsames Handeln nach außen wird zum Paradigma des Zusammenschlusses europäischer Staaten.
Das schließt weitere Vertiefung z.B. im Bereich des Zivil- und Strafrechts oder der gemeinsamen Währung sowie neue Erweitungsschritte nicht aus. Aber vorrangig soll die Europäische Union in die Lage versetzt werden, in der veränderten Mächte-Konstellation in der Welt zu bestehen und die europäischen Staaten befähigen, am Prozeß der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung mitgestaltend teilzunehmen.
Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. So, wie sie bisher gebaut ist, kann sie ihrer globalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie ist außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch nicht führbar, schon gar nicht in Krisen. Die Erfahrung des zaudernden und inkongruenten Vorgehens der EU-Mitgliedstaaten auf dem Balkan Mitte der 90er Jahre und vor allem des offenen Dissenses über eine Beteilung am Krieg gegen den Irak 2002/03, der mitten in die Beratungszeit des Verfassungskonvents fiel, hat die Arbeit im Konventspräsidium und danach in der Regierungskonferenz entscheidend beeinflußt.
Der Verfassungsvertrag macht, wenn auch möglicherweise noch nicht die gemeinsame Verteidigung, so doch zumindest die Definition einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, zu einer realistischen Perspektive. Auf der Grundlage des Verfassungsvertrages können sich einzelne Mitgliedstaaten nun auch im Bereich der Verteidigung an einer dauerhaften strukturierten Zusammenarbeit beteiligen, soweit sie dafür über die militärischen Fähigkeiten und den politischen Willen verfügen. Bei einem bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedstaat sind alle anderen zum Beistand und zur Unterstützung mit allen Mitteln verpflichtet. Diese Solidaritätsverpflichtung geht weit über die bisher gültigen Verträge hinaus.
Kernfragen der Außen- und Sicherheitspolitik, bei denen es nicht mehr nur um die Einschätzung von Risiken geht, sondern auch um die Bereitschaft, sie zu tragen, können in der Union (noch) nicht mit Mehrheit entschieden werden. Wenn der politische Wille der Mitgliedstaaten fehlt, den Handlungsrahmen des Verfassungsvertrags auszufüllen und das zur Verfügung stehende Instrumentarium einzusetzen, ist er mit Mehrheitsbeschlüssen ohnehin nicht herbeizuzwingen. Daß Einstimmigkeit nicht grundsätzlich handlungsunfähig macht, zeigen die Entscheidungen u.a. zu den EU-Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Kongo.
Gemeinsamkeit in der Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann nur durch schrittweise Annäherung zwischen unterschiedlichen nationalen Sichtweisen und Erfahrungen zustande kommen. Sie ist ein Prozeß aus neuen Kommunikationsgewohnheiten zwischen den Mitgliedstaaten und neuen Loyalitäten durch gemeinsame Aktionen. Diesen Prozeß in Gang zu setzen und in Gang zu halten, wird im Zentrum der Tätigkeiten des Außenministers und des auf der Grundlage des Verfassungsvertrages zu schaffenden Auswärtigen Dienstes der Union stehen.
Als Exekutivhandeln bleibt die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch nach Überwindung der Pfeilerstruktur der bisherigen Verträge im wesentlichen intergouvernemental. Die parlamentarische Kontrolle, insbesondere im Bereich der Verteidigungspolitik und militärischer Aktionen, findet weiterhin in den Mitgliedstaaten statt. Das Europäische Parlament wird, von Ausnahmen abgesehen, lediglich gehört.
Immerhin wird das gemeinschaftliche Element in der Außenpolitik durch die Doppelfunktion des Außenministers, der nicht nur Vorsitzender des Rates ist, sondern als Vizepräsident der Kommission auch ein Initiativrecht hat, gestärkt. Aus dem Gebot der Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union folgt die Bündelung der ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in einer Hand. Trotz aller Einschränkungen und Sonderregelungen steht der Union somit das notwendige außen- und sicherheitspolitische Instrumentarium für weltweites Handeln zur Verfügung.
Identität
Nach wie vor steht die Union "allen europäischen Staaten offen, die die in Artikel I-2 genannten Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen." (Art. I-58 VVE) Der "Vertrag über eine Verfassung für Europa" beantwortet die Frage nach den definitiven Grenzen der Europäischen Union nicht. Sie können nur durch politische Abwägungen und Entscheidungen bestimmt werden. Das mag verfassungstheoretisch unbefriedigend sein, entspricht aber der europäischen Realität in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts.
So gewiß die Europäische Union Grenzen haben muß, so ungewiß ist es, wo sie zu ziehen sind. Die geographischen Grenzen Europas sind nicht die gleichen wie die historischen, diese wiederum sind verschieden von den kulturellen oder religiösen, die ihrerseits mit den wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen nicht übereinstimmen usw. Vielleicht ist diese Unbestimmtheit geradezu ein Wesensmerkmal Europas.
Ob ein Staat „europäisch" ist, bestimmt nicht der Verfassungsvertrag, sondern der Beschluß des Europäischen Rates mit diesem Staat Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Das ist bereits auf der Grundlage der bisher geltenden Verträge der Fall. Mit seiner Entscheidung vom Dezember 1999, die Türkei zum Beitrittskandidaten zu machen, hat sie der Europäische Rat auch als "europäisches" Land anerkannt. Ob ein Staat die Werte der Union achtet und ihnen Geltung verschafft oder nicht bzw. ob er bereit und fähig ist alle Mitgliedspflichten zu erfüllen, entscheiden der Europäische Rat, durch den Abschluß und das Europäische Parlament durch die Ratifizierung des Beitrittsvertrages. Ob und wie weit sie sich bei diesen Entscheidungen nicht nur an der Beitrittsfähigkeit des Kandidatenstaates, sondern auch an der Aufnahmefähigkeit der Union orientieren, hängt vom Ergebnis ihrer politischen Interessenabwägung ab.
Immerhin nennt der Verfassungsvertrag zwei Grundbedingungen für die Mitgliedschaft in der Union: Es muß ein "europäischer" Staat sein und er muß „die Werte der Union achten sowie sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen" (Art. I-1 und I-58, 2 VVE). Aus der Mitgliedschaft folgen die Verpflichtung, die Ziele der EU zu unterstützen und die Bereitschaft sowie die Fähigkeit, alle aus dem Verfassungsvertrag fließenden Rechte und Pflichten zu achten und zu erfüllen.
Fördert der Verfassungsvertrag die Bildung einer europäischen Identität? Als bloßer Text gewiß nicht - und das nicht nur, weil er natürlich die Kürze, Stringenz und sprachliche Wucht der amerikanischen Verfassung bei weitem nicht erreicht. In Europa sind die identitätsbildenden Wirkungen der nationalen Verfassungen ohnehin viel geringer. Wenn überhaupt gibt es so etwas wie einen „Verfassungspatriotismus" nur in Deutschland. Dennoch könnte der Vertrag über eine Verfassung für Europa ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Herausbildung einer europäischen Identität werden, weil er gemeinsames Handeln nach außen erleichtert und zur Selbstvergewisserung durch die Gemeinsamkeiten in Geschichte, Kultur, Religion, Werthaltung im Innern beiträgt.
Solange in Europa Nationen bestehen - und sie werden, wenn auch nicht ewig, so doch noch lange bestehen - wollen sie natürlich auch in eigenen Staaten leben. Europäische Identität läßt sich nicht nach dem Bild nationaler Identitäten modellieren. Sie soll und kann die nationalen Identitäten in Europa nicht ersetzen. Sie wird immer nur ein Zusatz sein, allerdings ein notwendiger. Die Europäische Union löst die europäischen Völker nicht auf. Sie vereinigt sie, aber sie verschmilzt sie nicht. Sie macht aus ihnen kein europäisches Volk. Dem Leitspruch „In Vielfalt geeint" (Art. I-8 VVE) entsprechend sucht Europa seine Identität in der Einheit, nicht in der Einheitlichkeit.
Anders als den Nationalstaaten wohnt der Union ein latenter Begründungszwang inne. Sie bleibt ein Geschöpf der Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Lösung bestimmter Probleme. Der Staat, der ihr die Erfüllung dieser Funktion aus welchen Gründen auch immer, grundsätzlich nicht (mehr) zutraut, kann die Union verlassen. Dieser Voluntarismus lag der Einigung Europas von Beginn an zu Grunde. Der Verfassungsvertrag macht ihn nun explizit. Artikel I und Artikel 60 sind die beiden Haken, mit denen sich das Band der Union um die Mitgliedstaaten schließen und öffnen läßt.
Nicht Staatsvolk und Staatsgebiet sind für die Union konstitutiv, sondern gemeinsame Werte und gemeinsame Ziele. Ohne sie kann die Union nicht existieren. Mit der Charta der Grundrechte drückt der Verfassungsvertrag aus, daß die Union nicht nur zur Sicherung der Freiheiten des Marktes, sondern auch um der Freiheitsrechte der europäischen Bürger willen besteht. Und mit der Verpflichtung zu „Frieden, Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung der Erde" (Art. I-3,4 VVE) beizutragen, zeigt er an, daß die Union nicht nur um ihrer selbst willen existiert, sondern weltpolitische Verantwortung trägt. Wenn die Europäer das eine wie das andere im Handeln der Union wiederfinden, wird daraus europäische Identität wachsen.
[1] Zur Arbeitsweise des Konventspräsidiums: K. Hänsch, Der Konvent - unkonventionell. integration 4/03, S. 331ff.
"Europa fehlt es an Handlungsfähigkeit" (01.12.2005)
Interview für Prager Zeitung zur Handlungsfähigkeit der EU und den Ursachen der momentanen Krise
Europa steht wohl momentan an einem wichtigen Scheideweg. Viele Fragen gilt es zu beantworten. Wie wird es weitergehen? Gelingt die Einigung zur Finanzausstattung für 2007 bis 2013, wird der Verfassungsvertrag neuerlich diskutiert, wann ist die Aufnahme der zehn Neuen verdaut? Fragen, die Uwe Müller an den Europaparlamentarier der ersten Stunde Klaus Hänsch stellte, der Prag anlässlich einer Veranstaltung der Friedrich Ebert Stiftung besuchte.
Herr Hänsch, Sie waren in den entscheidenden Jahren der Gesprächsaufnahme über die EU-Mitgliedschaft der Mittel- und Osteuropäer Präsident des Europäischen Parlaments von 1994 bis 1997. Haben Sie und die Politiker von damals Fehler begangen, die sich heute rächen?
Hänsch: Ich glaube nicht. Der Begriff „Erweiterung" trifft nicht den Kern des Prozesses. Die Erweiterung der Europäischen Union war doch nichts anderes als die Wiedervereinigung Europas. Überstürzt ist diese Wiedervereinigung keineswegs vorgenommen worden. Wir haben schließlich sieben Jahre verhandelt. Man muss sich doch vor Augen führen, dass seit der Wende von 1989/1990 und dem Beitrittstermin der Ost- und Mitteleuropäer 14 Jahre vergangen sind. Die Wiedervereinigung war möglich und notwendig. Und genauso möglich und notwendig ist doch, dass sich dieses wiedervereinigte Europa eine Verfassung gibt.
Hans Dietrich Genscher sagte vor einem Jahr in Prag: „Das Gefühl der europäischen Zusammengehörigkeit von 1989 müssen wir mit hinüber nehmen ins 21. Jahrhundert." Ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl inzwischen nicht verloren gegangen?
Hänsch: Nein, das gibt es heute noch. Nur ist es viel selbstverständlicher geworden, so dass man nicht ständig darüber reden muss. Im Europäischen Parlament beobachte ich, dass die Kollegen aus Polen, Ungarn oder Tschechien ganz normal ihre Meinungen und Erfahrungen einbringen. Erstaunlich ist doch vielmehr, wie schnell und problemlos sich die neuen Mitglieder und deren Vertreter in den europäischen Alltag hineingefunden haben.
Woraus resultieren dann die Ansichten, dass Europa in einer Krise stecke? Der andauernde Streit um die Finanzausstattung für 2007 bis 2013 macht auch wenig Hoffnung. Und einige glauben sogar, der Euro würde scheitern.
Hänsch: Das hat zu tun mit dem vorläufigen Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages. Der ist notwendig, um dieses wiedervereinigte Europa nach innen und nach außen handlungsfähig zu erhalten. Nun fehlt dieses Vertragswerk, und Europa ist nicht in der Lage, das zu tun, was es in der veränderten internationalen Situation tun müsste. Das ist die eigentliche Krise. Zur Finanzierung: Da wird schon in wenigen Monaten eine Lösung gefunden, die sich nicht sehr weit von dem entfernt, was in Luxemburg im Juni bereits auf dem Tisch lag. Und der Euro musste schon in der Vergangenheit ertragen, dass an ihn nicht geglaubt wurde. Auch in Zukunft wird er in Frage gestellt werden, sobald sich Krisen in der EU auftun. Doch sehe ich keine relevante politische Kraft in den zwölf Euro-Ländern, die ernsthaft an einen Austritt denken würden.
Woran ist der Verfassungsvertrag gescheitert - an seinem Text oder am Kontext?
Hänsch: Die Menschen stimmen in einem Referendum nicht über einen Text ab. Vielmehr hat das aktuelle Erscheinungsbild der Brüsseler Politik bei dem Abstimmungsergebnis in Frankreich und den Niederlanden eine ausschlaggebende Rolle gespielt.
Haben in diesem Zusammenhang eigentlich nicht jene Stimmen ganz so unrecht, die behaupten, die EU müsste reorganisiert werden? Zu diesen Verfechtern gehört beispielsweise der tschechische Präsident Václav Klaus.
Hänsch: Diese Ansicht wird von der großen Mehrheit der politischen Kräfte und der Regierungen in den EU-Mitgliedsstaaten nicht geteilt. Ein lockerer Staatenbund, eine Art europäische Zollunion könnte die Probleme nicht lösen, die alle Staaten in Europa bedrücken. Die europäische Lebensweise und Kultur hat in der sich verändernden Welt nur dann eine Chance zum Überleben, wenn sich die Europäer enger zusammenschließen, wenn sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch handlungsfähig bleiben.
Momentan geht Europa - wenigstens ein Teil Europas - in eine Phase der Rückbesinnung auf die Werte des Nationalstaats. Der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel warnte unlängst vor einem erstarkenden Nationalismus, vor einem erstarkenden Besinnen auf nationale Werte, Patriotismus, also das Betonen des Trennenden, des scheinbar Einzigartigen. Droht hier Europa nicht eine neue Gefahr?
Hänsch: Wenn sich in der Mehrzahl der europäischen Staaten solche Kräfte durchsetzen sollten, dann wäre das eine Entwicklung hin zur Auflösung der Europäischen Union und damit der Niedergang Europas. Soweit wird es aber nicht kommen. Nationalistische Aufwallungen in dem einen oder anderen Staat werden wir haben. Aber die Erfahrung mit Europa aus der Vergangenheit zeigt, dass wir damit noch immer fertig geworden sind.
Woraus schöpfen Sie soviel Optimismus?
Hänsch: Ich habe in meiner langen Zeit im Europäischen Parlament sehr viel erlebt. Ich habe Frau Thatcher beobachtet, die immer sehr laut gesprochen hat, dann aber in der EU immer alles mitgemacht hat. Ich habe den griechischen Oppositionsführer Papandreou erlebt, der damit gedroht hat, er würde aus der EU austreten. Als er schließlich als Regierungschef dazu die Möglichkeit hatte, ist er nicht ausgetreten. Weil er rechnen konnte. Nicht anders wird es anderen Regierungen gehen, die vielleicht populistisch gegen Europa opponieren, aber letztlich ausreichend Verantwortung für ihr Land aufbringen und erkennen werden: Bei einer Mitgliedschaft in der EU überwiegen die Vorteile die Nachteile bei weitem.
Der Regierungschef von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, äußerte unlängst seine Enttäuschung über den Umgang der westeuropäischen Eliten mit Mittel- und Osteuropa. Er fürchtet unerwünschte politische Folgen, wenn der wohlhabende Westen dem Osten des Kontinents nicht wirklich helfe bei der Rückkehr ins bürgerliche Europa. Juncker warnt seine politische Generation: „Wir dürfen nicht als die in die Geschichte eingehen, die Dinge verpasst haben". Ist die Warnung berechtigt?
Hänsch: Die Wiedervereinigung Europas ist ein Vorgang ohne Beispiel in der Geschichte. Und diese Generation ist dabei, ihn in bemerkenswerter Weise zu meistern. Natürlich gibt es Probleme, aber man muss sich immer vor Augen führen, was noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschehen wäre beim Zusammenbruch eines Imperiums und einer Gesellschaftsordnung wie 1989/90. Da wären Kriege um die Erbmasse geführt worden! Stattdessen sind Millionen Menschen dabei, ohne größere Brüche und Verwerfungen eine gemeinsame politische und gesellschaftliche Ordnung aufzubauen. Das ist noch nicht abgeschlossen und es bleibt immer gefährdet, aber für Kleinmut gibt es keinen Grund, denn das ist eine beispiellose Leistung dieser Politikergeneration.
Welche Rolle kommt Deutschland in der EU zu? Viele knüpfen Hoffnungen an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie sei die erste Regierungschefin eines westeuropäischen Kernstaates mit einer langen „osteuropäischen" Lebenserfahrung.
Hänsch: Die deutsche Politik muss allerdings Europa wieder stärker in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Aus europäischem, aber auch aus nationalem deutschen Interesse. Hier ist unser Heimatmarkt. Deutschland ist das Land in der Mitte Europas mit den meisten Nachbarn. Deutschland kann nicht anders, als in der Mitte Europas eine europäische Rolle zu spielen. Dabei muss es darauf achten, dass es keine Sonderverhältnisse in Europa eingeht.
Was würden Sie Frau Merkel raten
Hänsch: Mit allen reden, deutlich machen, dass Deutschland in der Außenpolitik Kontinuität bewahrt und keinen Sonderweg geht. Und deutlich machen, dass ein gutes atlantisches Verhältnis und die Einheit Europas der Kern deutscher Politik ist. Das war immer so, aber es schadet nichts, wenn das noch einmal so gesagt wird.
EU-Gipfel kann nur Schaden begrenzen (16.6.2005)
Europapolitiker unterstützt Bundeskanzler Schröder
Der ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch (SPD) setzt
keine großen Hoffnungen in den heute beginnenden EU-Gipfel. Nach den
zwei Referenden gegen die EU-Verfassung und im Streit um die EU-Finanzen
sei nicht mehr als Schadensbegrenzung zu erwarten, sagte das Mitglied
des Europaparlaments am Donnerstag im DeutschlandRadio Kultur. Allein
mit einem Gipfel sei die Krise der EU nicht zu heilen, fuhr er fort.
Im Finanzstreit der EU unterstützte Hänsch die Haltung von
Bundeskanzler Schröder, der sich zu Zugeständnissen bereit zeigt: "Wir
wissen, dass wir Nettozahler sind, dass wir Nettozahler bleiben werden
und dass wir Nettozahler bleiben müssen." Die Ungerechtigkeit unter den
Nettozahlern dürfe aber nicht fortgeführt werden, betonte der
SPD-Politiker. Neben Deutschland nannte Hänsch dabei besonders
Großbritannien, Frankreich und die Niederlande.
Hinsichtlich des
umstrittenen Rabatts von Großbritannien verwies Hänsch neben dem
Vorschlag des luxemburgischen Ratspräsidenten Juncker auch auf den
jüngsten Beschluss des Europaparlaments: "Das bedeutet, dass sich alle
bewegen, dass der Briten-Rabatt langfristig abgeschafft und kurzfristig
eingefroren wird." Ebenso müssten Spanien und Frankreich Zugeständnisse
machen.
Nach den zwei gescheiterten Referenden zeigte sich Hänsch
skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten des Ratifizierungsprozess:
"Dass die Verfassung so nicht kommen kann und zumindest bis Anfang 2007
nicht wie geplant kommen wird, das ist völlig klar." Der EU-Gipfel müsse
jetzt eine pragmatische Linie verfolgen, indem die Verfassung dort
ratifiziert werde, wo es Mehrheiten gebe. Wo es mehrheitlich Zweifel
gebe, müsse die Ratifizierung suspendiert werden, sagte Hänsch: "Mehr
können wir nicht tun."
Es müssen sich alle bewegen (14.6.2005)
Interview für Deutschlandfunk am 14.6.2005 zu den Verhandlungen um den EU-Finanzrahmen 2007-2013.
Moderation: Burkhard Birke
Der Europa-Parlamentarier Hänsch fürchtet, dass sich die
Verhandlungen um die künftigen EU-Finanzen bis in das kommende Frühjahr
hinziehen könnten. Der SPD-Politiker warnte zugleich vor zu großen
Kürzungen im EU-Etat. Man könne der Europäischen Union nicht immer mehr
Aufgaben übertragen und die dazu notwendigen Mittel verweigern.
Klaus Hänsch: Guten Morgen!
Birke: Herr Hänsch, hört beim Geld die Freundschaft auf, oder sehen Sie noch eine kurzfristige Chance zur Einigung?
Hänsch: Beim Geld hört nicht die Freundschaft auf, aber das Herumtaktieren. Jetzt muss jeder zunächst einmal seine Verhandlungsposition auf den Tisch legen und am Ende des Gipfels werden wir wissen, ob es schon eine Kompromissbereitschaft gibt, oder ob möglicherweise die Verhandlungen in den Herbst und in das nächste Frühjahr hinein gehen. Es wäre nicht das erste Mal, wenn die künftige Finanzierung der Europäischen Union, also die mittelfristige Finanzplanung für sechs beziehungsweise sieben Jahre, erst ganz im letzten Moment entschieden wird.
Birke: Sie schließen also vor diesem Hintergrund, Herr Hänsch, ein Scheitern des EU-Gipfels diese Woche nicht aus?
Hänsch: Das wäre kein Scheitern. Wir haben ja noch etwas Zeit, um weiter zu verhandeln. Es wäre gut, wenn in einer Zeit, in der sich die krisenhaften Symptome in der Europäischen Union häufen, es zu einer Entscheidung über die künftige Finanzierung käme, aber die Europäische Union bricht nicht zusammen, wenn noch weiter verhandelt werden muss. Jedenfalls kann es nicht angehen, dass nur einer oder eine kleine Gruppe von Staaten Konzessionen im Bereich der Finanzierung macht. Es müssen sich alle bewegen.
Birke: Alle müssen sich bewegen. Das möchte ich aufgreifen, Herr Hänsch. Diese Devise hat ja auch Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgegeben. Frankreichs Präsident Jacques Chirac zeigt sich allerdings stur bei den Agrarausgaben und Tony Blair, der britische Premierminister, entwickelt ja schon fast Thatcher-Qualitäten, wenn es um den 4,6 Milliarden Euro Briten-Rabatt geht. Der Klügere gibt nach, heißt es. Wen halten Sie für den Klügeren?
Hänsch: Nein, nein. So kann es und wird es auch nicht laufen. Ich glaube, dass sich die Staats- und Regierungschefs ein bisschen orientieren sollten an den Vorschlägen, die das Europäische Parlament gemacht hat. Das Europäische Parlament hat übrigens mit Mehrheit sehr deutlich gesagt, dass natürlich die Ausgabenhöhe, die die Kommission für die nächsten Jahre vorsieht, nicht gehalten werden kann. Wir schlagen also Einsparungen von rund 50 Milliarden gegenüber dem Ansatz der Kommission vor. Aber wir sagen auch - und das sagt das Parlament mit deutlicher Mehrheit -, eine Abschaffung des Briten-Rabattes zumindest Einfrieren und Verringern. Wir wenden uns gemeinsam gegen neue und teurere Übergangsregelungen im Bereich des Kohäsionsfonds für Spanien und wir fordern den Einstieg in die Kofinanzierung der Agrarpolitik. Also das heißt auch Bewegung von Frankreich. - Ich denke, dass das ungefähr die Linie sein müsste, auf der sich die Staats- und Regierungschefs einigen können. Wenn nicht, dann werden sie weiter verhandeln müssen.
Birke: Herr Hänsch, Sie sagten, das müsste die Linie sein. Nun hören die Herren des EU-Rates selten auf das Parlament - leider könnte man sagen - und ihre Kürzungen von nur 50 Milliarden entsprechen ja bei weitem nicht dem, was auch der Ratsvorsitzende, nämlich der luxemburgische Premierminister Juncker vorgelegt hat.
Hänsch: Richtig, aber da müssen die Chefs eine Grundsatzentscheidung treffen. Sie dürfen nicht der Europäischen Union immer neue Aufgaben übertragen, im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, im Bereich Forschungspolitik, in allen möglichen Bereichen, und dann sich weigern, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Wenn man weiter kürzen will, dann muss man an den Aufgaben, nicht an den Ausgaben der Europäischen Union kürzen.
Birke: Wäre es nicht einfacher, einfach bei den Agrarsubventionen richtig gut zu kürzen, denn die machen ja immer noch zwei Fünftel des EU-Haushaltes aus?
Hänsch: Die Agrarpolitik gehört zu den wenigen Politiken, die gemeinsam in Europa gemacht werden und man kann sie nicht auf null oder auch nicht auf die Hälfte reduzieren. Deswegen fordern wir den Einstieg in die Kofinanzierung in der Agrarpolitik. Das bedeutet einen größeren Anteil, der von den Mitgliedstaaten bei der Finanzierung der Agrarmärkte übernommen wird.
Birke: Herr Hänsch, nun hat diese ganze Diskussion über die künftigen EU-Finanzen einen großen Haken, denn es müssen alle einer Meinung sein. Das heißt jedes Land kann per Vetorecht die ganze Situation blockieren. Wäre es denn eigentlich nicht an der Zeit, auch da irgendwann mal an das Veto ranzugehen?
Hänsch: Im Bereich der Grundlagen der Finanzierung hätte sogar die Verfassung weiterhin die Einstimmigkeit vorgesehen. Wir müssen ja dabei bedenken, dass es immer um die Steuermittel aus den Mitgliedstaaten geht. Das ist völlig klar, dass da nur mit der Zustimmung jedes der betroffenen Länder Ausgaben in der Europäischen Union festgesetzt werden können. Also ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, in einer Union der Staaten anders vorzugehen.
Birke: Nun ist ja die EU-Verfassung von zwei Ländern abgelehnt worden. Wäre das denn nicht die Chance, vielleicht auch über so einen Punkt neu zu verhandeln?
Hänsch: Ich glaube, dass das zu früh ist. Neuverhandlungen über die Verfassung würde ich ausschließen. Ich glaube sie enden im Chaos. Das was mit dem Verfassungsvertrag erreicht worden ist, das war nun wirklich das einzige in sich geschlossene Bild, das die 25 Mitgliedstaaten von sich und von der Europäischen Union geben konnten. Es gibt keinen Weg am niederländischen und am französischen Nein vorbei. Das bedeutet auf dem Gipfel werden sie sich darauf einigen müssen, dass der, der es noch kann, die Verfassung ratifizieren soll. Und wer zweifelt, dass er die dafür erforderliche Mehrheit entweder in einer Volksabstimmung oder im Parlament bekommt, der soll es lassen. Es ist besser, die Sache bleibt in der Schwebe, als dass sie beerdigt wird.
Auf der anderen Seite - das wissen wir alle -, man kann die Verfassung wegstimmen. Das haben die Franzosen und die Niederländer getan. Aber die Gründe für den Verfassungsvertrag, weswegen er gemacht worden ist, die kann man nicht wegstimmen. Das bedeutet, es wird nach einer gewissen Zeit des Überlegens darauf ankommen, nach anderen Wegen zu suchen, um Europa für die Zukunft handlungsfähig und demokratischer zu machen.
Birke: Aber Herr Hänsch, glauben Sie allen Ernstes, dass die Franzosen so wie die Iren und Dänen seinerzeit beim zweiten Mal in ein, zwei Jahren einfach Ja sagen werden?
Hänsch: Nein. Ich spreche nicht von einer zweiten Volksabstimmung. Das schließe ich jedenfalls für Frankreich und für die Niederlande aus. Es geht ja dieses Mal auch nicht darum, dass man einzelne Teile herausnehmen könnte und dass man deswegen dann eine neue Abstimmung machen könnte. Es muss ein anderer Weg gesucht werden. Vielleicht ist es sinnvoll, eine Gruppe von erfahrenen Leuten nicht nur aus der Politik einzusetzen, die bei Beachtung der Voten in Frankreich und in den Niederlanden nach Wegen suchen, nicht um die Verfassung zu retten, sondern um Rettungswege für Europa zu öffnen.
Birke: Die Angst der Leute auch vor Arbeitsplatzverlust, vor Globalisierung, vor Überfremdung war eines der zentralen Elemente, die immer wieder angeführt wurden für das Nein der Holländer und der Franzosen. Was sollte dann diese Expertenkommission in dieser Richtung unternehmen, Herr Hänsch?
Hänsch: Es hat ja viele Unterschiede gegeben zwischen dem französischen Nein und dem niederländischen Nein. Aber in einem gab es doch eine erkennbare Übereinstimmung. Das ist die Sorge, dass sich die Europäische Union grenzenlos erweitern könnte. Und wenn Politik auf das hört, was in der Bevölkerung gesagt und gedacht wird und durch solche Abstimmungen zum Ausdruck kommt, dann muss die Europäische Union ihr Erweiterungskonzept, so wie es jetzt vorliegt, überdenken.
Birke: Das heißt das Mandat für die Türkei-Verhandlungen ändern?
Hänsch: Da gibt es, was die Aufnahme von Verhandlungen anlangt, eine internationale Verpflichtung. Die wird man einhalten. Aber es muss klarer als bisher sein, dass die Gespräche mit der Türkei nicht notwendigerweise in einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union enden müssen. Und das gilt auch für andere Staaten, die an die Tür klopfen oder vor der Tür stehen!
Birke: Nachverhandlungen auch noch einmal gegebenenfalls mit Rumänien und Bulgarien, die ja praktisch den Vertrag schon in der Tasche haben?
Hänsch: Der Vertrag ist unterzeichnet. Der wird auch eingehalten werden. Aber schon in dem Vertrag selbst steht noch einmal eine Überprüfungsmöglichkeit. Ende 2006 wird klar sein, ob bei den Rumänen und Bulgaren die Bedingungen, die jetzt noch im Vertrag stehen und nicht erfüllt sind, durch sie erfüllt werden. Und wenn das nicht der Fall ist, dann wird der Beitritt aufgeschoben!
Birke: Herr Hänsch, ich verstehe Sie also richtig. Sie wollen bei den Beitrittsaspiranten ganz bewusst auf die Bremse treten? Also auch Kroatien und andere Länder auf dem Balkan sollen nicht so schnell zum Zug kommen?
Hänsch: Kroatien hat keinen Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Da wird weiter geprüft werden müssen, ob das überhaupt in Frage kommt. Die übrigen Staaten auf dem Balkan haben eine Perspektive, aber sie haben keine Garantie.
Birke: Das war Klaus Hänsch, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments und SPD-Europaabgeordneter. Recht herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Hänsch: Ich bedanke mich auch.
Interview für das Offenburger Tageblatt über die EU-Verfassung und ihre Ablehnung im niederländischen Referendum (02.06.2005)
Interview führte Herr Christoph Ringling
‡ Ist die EU-Verfassung mit dem Nein der Niederländer gestorben?
Hänsch: Nein, das gewiss nicht. Aber es wird immer schwerer, die Verfassung insgesamt in Kraft zu setzen.
‡ War es ein Fehler, die Bürger über die EU-Verfassung abstimmen zu lassen?
Hänsch: Das kann man nicht als Fehler bezeichnen. Es war völlig klar, dass jedes Land nach den Regeln und Möglichkeiten seiner eigenen Verfassung über die europäische Verfassung abstimmen lassen muss. Wenn Länder eine Volksabstimmung vorsehen, dann ist das deren Recht und Pflicht.
‡ Und warum ist die Verfassung nicht bei den Franzosen und Niederländer angekommen?
Hänsch: Da gibt es eine ganze Mixtur von Gründen. Natürlich gab es bei den Nein-Stimmen einen gewissen Prozentsatz, die die Verfassung nicht wollten. In Frankreich haben die Wähler zu dem die Regierung bestrafen wollen. Der größere Teil der Bürger hat aber die heutige Europäische Union abgelehnt. Leider werden durch das Nein, jene Dinge, die kritisiert werden, nun erst recht zementiert.
‡ Was steht in der Kritik?
Hänsch: Dass die Europäische Union nicht geschlossen genug handelt, dass sie nicht genug demokratisch legitimiert ist, dass es keine Führung gibt und dass es keine Möglichkeiten zur Einflussnahme der Bürger gibt. Diese Kritikpunkte versucht die Verfassung auszuräumen. Insofern ist es geradezu schizophren, dass diejenigen, die ein besseres Europa wollen, die Verfassung ablehnen.
‡ Wie geht es nun weiter mit der Verfassung?
Hänsch: Jedes Land muss für sich seine Entscheidung über die Verfassung treffen. Mit dem Nein der Franzosen und der Niederländer wurden die anderen Länder nicht aus der Pflicht genommen, sich selbst zu entscheiden, wie sie zur Verfassung stehen. Erst wenn man das weiß, muss man sich Gedanken darüber machen, dass Europa nicht im Status quo versinkt.
‡ Das bedeutet, dass der britische Premierminister Tony Blair auch seine Bürger abstimmen lassen sollte. Doch in Großbritanien sind die Verfassungsskeptiker in der Mehrzahl.
Hänsch: Wie die Abstimmung zustande kommt, bleibt jedem Land selbst überlassen. Ende 2006 werden sich die Regierungschef zusammensetzen und darüber beraten, wie es weiter gehen wird.
‡ Ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie Blair keinen Ratschlag geben wollen.
Hänsch: Der Ratifizierung ist eine nationale Angelegenheit. Jeder Regierungschef muss sich selbst überlegen, wie er die Ratifikation der Verfassung am besten sicherstellt. Ratschläge von außen sind da eher schädlich.
‡ Lassen Sie uns noch einmal auf die Gründe des Scheiterns zurückkommen. Die EU-Erweiterung im vergangenen Jahr lässt sich auch als Globlisierung im europäischen Maßstab werten. Die Menschen haben Angst um ihre Jobs und fürchten um ihre nationale Identität.
Hänsch: Die Verfassung verhindert, daß die Erweiterung zu einer Euro-Globalisierung wird. Mit der Verfassung wäre die EU besser in der Lage, im sozialen und ökologischen Bereich Regeln zu beschließen. Ohne Verfassung degeneriert Europa zu einer reinen Wirtschaftszone.
‡ Die Bürger haben auch zukunftsorientiert abgestimmt. Vielen Franzosen war der mögliche Beitritt der Türkei ein Dorn im Auge. Sollte sich die EU von den weiteren Erweiterungsplänen verabschieden?
Hänsch: Ich glaube, dass nach dem beschlossenen Beitritt von Rumänien und Bulgarien für eine längeren Zeitraum Schluss sein muss.
‡ Also keine Türkei?
Hänsch: In einer politisch überschaubaren Zeit bestimmt nicht. In der Türkei, so mein Eindruck, ist eine gewisse Befriedigung darüber eingetreten, dass sich Europa nicht zu einer politischen Union weiter entwickelt. Sie glauben, dass sie auf diese Weise leichter Mitglied werden.
‡ Der Druck von demokratischen Reformen wird von Ankara genommen.
Hänsch: Das Nein schadet dort der demokratischen Entwicklung. Die Impulse der EU-Verfassung würden auch in der Türkei wirken.
‡ Erklären Sie doch bitte, warum die EU-Verfassung so gut ist?
Hänsch: Die Verfassung macht die Union handlungsfähiger. Einstimmige Beschlüsse gibt es nur noch in ganz wenigen Ausnahmen. Das Europäische Parlament wird zum Mitgesetzgeber in allen Belangen. Es gibt einen EU-Präsident, einen EU-Außenminister einen Kommission-Präsident, der vom Parlament gewählt wird. Die europäische Politik wird persönlicher und dadurch nachvollziehbar.
‡ Das hört sich positiv an. Waren die Bürger zu dumm, um das zu begreifen?
Hänsch: Die Zeit war zu kurz, um den Bürgern die Verfassung näher zu bringen, um ihnen die Verbesserungen zum Status quo aufzuzeigen. Und dann muss man natürlich auch sehen, dass die Gegner nicht die Information über die Verfassung im Sinn gehabt haben, sondern die Abstrafung der Regierungen.
‡ Also waren die Menschen schlecht informiert?
Hänsch: Das ist nicht das einzige. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise einen Rückfall in das Bekannte und Altbewährte erleben. Und das ist ein Rückfall in den Nationalismus.
Interview für die WAZ über das NON im französischen Referendum über die EU-Verfassung (Mai 2005)
(Interviewpartner: Tobias Blasius)
Klaus Hänsch gehört zu den Vätern der EU-Verfassung. Fast zwei Jahre lang hat der SPD-Europaabgeordnete an dem Gesetzestext mitgearbeitet. Vor dem drohenden "Non" der Franzosen am Sonntag beim Volksentscheid sprachen wir mit ihm über Versäumnisse, Missverständnisse und die Zukunft der EU.
Frage: Einem langgedienten Europapolitiker wie Ihnen müsste das Herz aufgehen, wenn Sie sehen, wie die Franzosen auf der Straße, in den Medien und am Küchentisch über die EU-Verfassung streiten...
Hänsch: Es würde noch ein Stück weiter aufgehen, wenn bis zum Sonntag noch ein kleines Wunder geschähe und die Franzosen "Ja" sagten. Leider spielten in der dortigen Debatte innenpolitische Probleme eine mindestens so große Rolle wie der Verfassungstext selber.
Frage: Hätte man einen komplexen Rechtstext wie die EU-Verfassung kürzer, verständlicher und damit attraktiver formulieren können?
Hänsch: Natürlich hätte man die Verfassung straffer fassen können, doch das hätte uns Politiker sofort wieder dem Vorwurf ausgesetzt, wir wollten den Bürgern das Kleingedruckte vorenthalten. Das Bemühen um vollständige Transparenz mag den Vertragstext undurchsichtiger wirken lassen, als er tatsächlich ist.
Frage: Warum haben die Menschen mehr Angst vor der Brüsseler Gesetzesmaschine als vor einem Rückschlag für die gesamte EU?
Hänsch: Das ist ja das Schizophrene an der französischen Debatte: Wenn die Menschen wirklich Angst vor der unbeherrschbaren Brüsseler Gesetzesmaschine haben, müssten sie für die Verfassung sein. Wenn man die Verfassung ablehnt, zementiert man ja den Status quo der EU. Alles, was derzeit an "Brüssel" kritisiert wird, bleibt ohne den Verfassungsvertrag so wie es ist.
Frage: Hat sich die oft elitäre Europapolitik zu lange auf die Sachlogik verlassen und zu wenig um die Stimmung an der Basis geschert?
Hänsch: Ich will das nicht ausschließen, allerdings ist das Interesse der Bürger für Europa auch nur sehr schwer zu wecken.
Frage: Der Friedens- und Demokratiegedanke, der die EU einst begründete und heute die permanenten Erweiterungen rechtfertigt, wärmt viele Europäer nicht mehr. Braucht die EU eine Verschnaufpause?
Hänsch: In Frankreich habe ich in jeder Diskussionsrunde gemerkt, dass es geradezu einen Durst der Menschen gibt nach grundsätzlicher Emotionalisierung europäischer Politik. Die Grundsätze des "Woher" und "Wohin" der Einigung Europas finden eine sehr viel größere Resonanz als alle Detailerklärungen zur EU-Verfassung. Die Politik hat dieses Bedürfnis womöglich zu spät gesehen. Wenn Sie jedoch auf die umstrittene Aufnahme der Türkei in die EU anspielen: Eine Mitgliedschaft kommt ohnehin erst ab 2015 und nur vielleicht in Frage, so dass wir keine zusätzliche Verschnaufpause benötigen.
Frage: Kann die EU bei einem französischen "Non" überhaupt zur Tagesordnung übergehen?
Hänsch: Auf der Tagesordnung steht, dass ein französisches "Nein" zur Verfassung ein französisches "Nein" wäre und kein europäisches. Frankreich spricht für sich, aber nicht für Europa. Der Ratifizierungsprozess muss und wird auch am Montag weitergehen. Ende 2006 werden wir sehen, welche der 25 EU-Staaten der Verfassung nicht zugestimmt haben und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Frage: Ein "Nein" des EU-Gründungslandes Frankreich markierte nicht den Anfang vom Ende der EU?
Hänsch: Frankreich ist wichtig, aber Frankreich ist nur ein Teil Europas. Warum soll ein negatives französisches Referendum schwerer wiegen als die positive Volksabstimmung in Spanien?
Europa in Form bringen - Innenansichten eines beispiellosen konstitutionellen Prozesses (Mai 2005)
Beitrag von Klaus Hänsch für die Festschrift für Manfred Zuleeg
"Europa und seine Verfassung" (Mai 2005)
Der „Konvent zur Zukunft Europas" sollte und wollte die Europäische Union nicht neu erfinden. Er tagte nicht in einer revolutionären Situation. Sein Mandat hatte er von den Mitgliedstaaten der Union. Ein Bruch mit dem alten Recht oder eine Staatsgründung kamen nicht in Frage. Er konnte seine Arbeit abschließen, aber ihr Ergebnis nicht beschließen. Vielmehr sollte er eine Empfehlungen an die Konferenz der Regierungen für Änderungen an den geltenden Verträgen richten oder ihr verschiedene Optionen vorlegen. Nach Zusammensetzung, Arbeitsweise und Mandat war er ohne Beispiel. Alle Vergleiche mit dem Konvent von Philadelphia, dem der Französischen Revolution oder dem Herrenchiemseekonvent erweisen sich schon beim ersten genaueren Hinsehen als haltlos.
Führungs- Organisations- und Formulierungsgremium des Konvents war das von Valéry Giscard d'Estaing geleitete Präsidium. Seine Mitglieder waren von den vier Komponenten des Konvents entsandt, deren Vorstellungen sie selbstverständlich zu vertreten hatten. Eine Versammlung „weiser" Männer wie es sich Giscard d'Estaing gewünscht hatte, war das Präsidium gewiß nicht. Aber es war, mit elf Männern und einer Frau besetzt[1], immerhin klein genug, daß jedes Mitglied bei jeder Frage zu Wort kommen konnte. So entwickelte sich in den insgesamt 50 Sitzungen ein Diskussionsklima, das den Mitgliedern des Präsidiums jenseits einer enggeführten Vertretung der Komponenten-Interessen aus dem Konvent auch grundsätzlichere Erörterungen erlaubte - ja geradezu erzwang.
Das gilt insbesondere für die Diskussion über einige Grundsatzentscheidungen, durch die das Präsidium die Arbeit des Konvents orientiert und den Verfassungsentwurf geprägt hat. Dazu gehören die Rolle, die das Ergebnis der Konventsarbeit für den Reformprozeß spielen sollte, das Verhältnis zwischen großen und kleinen Staaten in der erweiterten Union, die Neuordnung der Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten, die Institutionen und Instrumente für eine veränderte Rolle der Union in der Welt und nicht zuletzt die Stringenz des Verfassungsentwurfs. Ferner wurden durch einige Leitentscheidungen des Präsidiums Struktur und Inhalt des Verfassungsvertrages vorgezeichnet. Ein Blick auf einige dieser grundsätzlichen Überlegungen läßt eine Reihe von Festlegungen des Verfassungsentwurfs besser verstehen.
Der Europäische Rat von Laeken hatte dem Konvent die Wahl gelassen, der Regierungskonferenz "Optionen" oder „im Konsens beschlossene Empfehlungen" vorzulegen. Das Präsidium schloß in einer seiner ersten Sitzungen einvernehmlich die „Optionen-Option" aus und entschied sich, den Entwurf eines in sich geschlossenen Verfassungsvertrages auszuarbeiten. Damit war für Arbeitsweise und Beschlußfassung des Konvents das Konsensprinzip festgelegt und folglich der Zwang, einen weitgreifenden Kompromiß zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von der Struktur der Unionsverfassung zu finden. Dabei war immer zu beachten, daß der Entwurf noch durch das Nadelöhr Regierungskonferenz gehen mußte.
Eine „Verfassung" in ihrer klassisch beschränkten Begrifflichkeit konnte und sollte nicht zustande kommen, allenfalls ein "Vertrag über eine Verfassung für Europa", kurz: ein "Verfassungsvertrag". Daß er in der öffentlichen Diskussion zur "Verfassung" weiter verkürzt werden würde, war dem Konvent bewußt und wurde von der Mehrheit seiner Mitglieder durchaus gern gesehen. Die Frage, ob ein Gebilde wie die Europäische Union ohne ein europäisches "Staatsvolk" und mit lediglich abgeleiteter Hoheitsgewalt überhaupt "verfassungsfähig" ist, hat die Debatten sowohl im Präsidium als auch im Plenum des Konvents zu keiner Zeit beschwert. Schließlich verfügt die Union schon heute über ein Organisationsstatut, Aufgaben und Ziele, eine Aufteilung der Hoheitsgewalten, Grundsätze und Strukturmerkmale einer Verfassung. Zu Recht resümiert Zuleeg: Nicht die Rechtsform, sondern der Inhalt ist entscheidend.[2] Wie jede Verfassung regelt der Verfassungsvertrag der Europäischen Union die Legitimierung und Limitierung politischer Macht.
In einer weiteren Leitentscheidung legte sich das Präsidium darauf fest, für die Bestimmungen über die Grundlagen der Union einen neuen Text zu formulieren: Angesichts des Mandats des Konvents, des vorgegebenen Zeitlimits und der zahlreichen im alten Text der EU-Verträge verborgenen Fallstricke durchaus ein Wagnis. Damit es gelingen konnte, mußte, von Ausnahmen abgesehen[3], auf Änderungen am Inhalt der Politikbereiche der Union verzichtet werden. Sie sollten lediglich an die Vorgaben der grundlegenden Bestimmungen angepaßt und von überholten Artikeln gereinigt werden. Daraus ergaben sich die Gliederung des Verfassungsvertrages in zwei, später in drei und schließlich in vier Teile, sowie die Notwendigkeit, über deren rechtlichen Rang zu entscheiden.
Die europäischen Verträge in Bausch und Bogen abzuschaffen, war nicht möglich. Den neuen Grundlagenteil als eine „Superverfassung" über den Rest der Verträge zu stellen, war weder akzeptabel noch ratsam. Nicht nur um zu vermeiden, daß neue Kollisionsregeln nötig werden[4], sondern vor allem aus verfassungspolitischen Gründen. Dem Präsidium war rasch klar: Wenn der "Politikteil" einen minderen rechtlichen Rang bekäme als der Grundlagenteil, würde wahrscheinlich schon im Konvent und ganz gewiß in der Regierungskonferenz versucht werden, eine Reihe von Artikeln aus dem Politikteil in den Grundlagenteil mit dem Ziel zu drücken, sie "verfassungsfest" zu machen. Damit wäre das Ziel einer größeren Überschaubarkeit der Verträge verfehlt worden.
Offen blieb nur der Weg, die Komplexität des Vertragskonglomerats durch die Gliederung des Verfassungsvertrages in rechtlich gleichrangige Teile, die Reinigung der übernommenen Texte von den zahlreichen obsolet gewordenen Bestimmungen sowie die Umgruppierung und Neuordnung der Politikbereiche zu reduzieren. Um Transparenz und Rechtssicherheit zu erhöhen, sollten ferner die Kernelemente des EuGH-Richterrechts geronnenes Verfassungsrecht werden. Das gilt u.a. für den Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten (Artikel I-6 VVE) und die Kongruenz der Außen- und Innenkompetenz der Union (Artikel I-13, Abs. 2 VVE).
Eine Überarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta schloß das Präsidium von vornherein aus. Zur Debatte stand lediglich der Platz in der Verfassung. Die Mehrheit des Konvents wollte sie vor den Grundlagenteil stellen. Das Vereinigte Königreich und einige andere Mitgliedstaaten bestanden darauf, sie allenfalls als Zusatzprotokoll in die Verfassung aufnehmen. Das Konventspräsidium löste das Problem, indem es die Integration der Charta als eigenständigen Teil in den Verfassungsvertrag vorschlug und in ihr weitere Sicherungen gegen das Entstehen innerstaatlicher Rechtsansprüche verankerte.
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Die Verfassung errichtet keinen europäischen Bundesstaat. Nicht nur, weil die Regierungen aller Mitgliedstaaten und Beitrittsländer, die Mehrheit der nationalen Parlamentarier und letztlich wohl auch die Mehrheit der Europaabgeordneten im Konvent dazu nicht bereit waren. Auch real schließen die Zahl der Mitgliedstaaten, ihre historisch geprägte Unterschiedlichkeit und die Verschiedenheit der politischen Leitvorstellungen in den europäischen Völkern die Gründung eines wie auch immer konstruierten „Staates" aus. Der Nationalstaat des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts läßt sich nicht auf die europäische Ebene transponieren. Das ist kein Mangel.
Europa definiert sich als eine "Union der Bürger und der Staaten" (Art. I-1 VVE). Damit bestätigt und bekräftigt die Verfassung den Charakter der Union als einer rechtlichen und politischen Organisation „sui generis", die sowohl konföderale Elemente mit intergouvernementalen als auch föderale Elemente mit vergemeinschafteten Entscheidungsverfahren in sich vereint. Das Konföderale ist weder Durchlauferhitzer zum, noch Abirrung vom Föderalen. Der vergemeinschaftete Bereich ist nicht die „eigentliche Union", die intergouvernementale Zusammenarbeit nicht der Ausdruck „nationaler Egoismen" oder „gouvernementalen Eigensinns". Vielmehr sind für eine Union der Bürger und der Staaten sowohl das föderale als auch das konföderale Element gleichermaßen konstitutitiv.
Keine der nationalstaatlichen Verfassungen innerhalb oder außerhalb Europas hat dem Konvent als Orientierung oder gar Vorlage gedient. Die Institutionen der Union sind nicht mißlungene Klone der nationalstaatlichen. Das Europäische Parlament ist nicht „auf dem Wege", ein „richtiges" Parlament (gemeint ist "wie die nationalen Parlamente") zu werden. Es kann und darf nicht ein allein- und alles-entscheidendes Parlament werden. Es muß ein mitentscheidendes bleiben, weil in ihm die Vertretung der Bürger notwendigerweise stark verzerrt ist. Die EU-Kommission ist nicht unterwegs zu einer EU-„Regierung". Sie spielt einerseits zwar als Exekutive mit Initiativmonopol längst eine immer stärker politische Rolle, kann aber andererseits durch ihre Funktion als „Hüterin der Verträge" und der sich aus ihrer multinationalen Zusammensetzung zwangsläufig ergebenden politischen Vielfarbigkeit nicht Ausdruck einer parlamentarischen „Regierungsmehrheit" sein. Der Ministerrat bleibt ein Legislativorgan, das aus Vertretern der nationalen Exekutiven zusammengesetzt ist - ein fundamentaler Pfeiler der sui generis-Struktur der Union, in der die Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU durch die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Rechtssetzung der Union kompensiert wird[5]. Er wird so wenig zu einer „zweiten Kammer" des Europäischen Parlaments wie der Bundesrat die zweite Kammer des Bundestages ist. Die Institutionen der Union sind in ihren Kompetenzen, Zusammensetzungen und Beziehungen untereinander auf eine Union von demokratischen Staaten, nicht auf einen Bundesstaat zugeschnitten.
Die Aufteilung der Hoheitsgewalt gehört zu den unerläßlichen Kernelementen einer jeden Verfassung. Die Verträge von Rom binden die Kompetenzen an die Vertragsziele. Das hat die Europäischen Gemeinschaften entwicklungsfähig gemacht, aber auch einer, wenn nicht immer gewollten, so doch immer zugelassenen, Ausweitung ihrer Kompetenzen Vorschub geleistet. Die Auseinandersetzungen um Kompetenzübertragung, Kompetenzerschleichung und Kompetenzbegrenzung haben seit Beginn der 1980er Jahre ständig zugenommen. Der Ruf nach Abhilfe durch einen Kompetenzkatalog kam vor allem, aber bei weitem nicht allein, aus Deutschland.
Das Europäische Parlament hatte 1984 und 1994 vergeblich versucht, einen Kompetenzkatalog zu erstellen. Mit dieser Erfahrung waren seine Delegierten im Konvent eher unwillig, einen dritten Versuch zu wagen. Darüber hinaus fürchteten sie, wie übrigens auch eine Mehrheit der nationalen Parlamentarier und sogar die Vertreter einer größeren Zahl von Regierungen, daß zwar die Aufstellung eines Kompetenzkatalogs gefordert werde, in Wirklichkeit aber eine Rückübertragung von EU-Zuständigkeiten auf die Mitgliedstaaten und eine Kappung „finaler Kompetenzen" wie Art. 308 EGV und Binnenmarkt gemeint sei. Der Vertreter des Bundesrates im Konvent, der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel, stieß denn auch mit der Forderung nach einem Kompetenzkatalog, der auch noch die „Residualrechte" der Mitgliedstaaten enthalten sollte, auf nahezu einhellige Ablehnung. Insgesamt führt die Verfassung weder zu der befürchteten Rückführung von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten, noch zu ihrer unkontrollierbaren Ausweitung.
Die EU-Kompetenzen werden lediglich klarer als bisher in ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten sowie Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen geordnet und präziser zugeschnitten. Neue Kompetenzen erhält die Union nur in sehr begrenztem Umfang. In einigen Fällen werden bereits übertragene zurückhaltend verstärkt. Die Einordnung einzelner Politikbereiche in eine der drei Kategorien war umstritten und ist bestreitbar geblieben. Erschöpfend ist nur die Aufzählung der "ausschließlichen Zuständigkeiten" sowie der "Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen". Die Liste der "geteilten Zuständigkeiten" ist dagegen lediglich indikativ. Sie erfaßt nicht alle übrigen im Teil III aufgeführten Rechtsgrundlagen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Verteidigungspolitik, aber auch die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, die Forschungspolitik oder die Koordination der Wirtschaftspolitiken fallen aus der Systematik. Gewiß kann man wie vor allem einige der deutschen Länder oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,[6] eine noch "klarerer" Kompetenzabgrenzung fordern. Aber man kann auch mit Zuleeg feststellen, daß man „keine Verfassung eines Bundesstaates antrifft, die so genau abgegrenzte Kompetenzen aufweist wie die Verfassung der EU."[7]
Aus der alten Verbindung von Zielsetzung und Kompetenzzuweisung ist die Flexibilitätsklausel des Art. I-18 VVE übrig geblieben - eine auf die Union und die Verfassungsziele insgesamt ausgeweitete, aber durch die neue Ordnung der Kompetenzen eingeschränkte Form des Art. 308 EGV. Sie entfaltet nur in Teil III Wirkung und darf ausdrücklich nicht zu einer Aufweichung der Kompetenzkategorien genutzt werden. Ihre Anwendung erfordert die Einstimmigkeit im Rat und unterliegt einer erheblich verstärkten Subsidiaritätskontrolle durch die Einbeziehung der nationalen Parlamente. Sie ist ein tragfähiger Kompromiß zwischen den Konventsmitgliedern, die überhaupt keine Flexibilitätsklausel wollten und denen, die in ihr ein unerläßliches Instrument zur weiteren Entwicklung der verfaßten Union sahen[8]. Der Kompromiß ist kein Rückschritt in die Unflexibilität, aber er verschiebt den Dreh- und Angelpunkt der europäischen Integration. Die Entwicklung der erweiterten Union ist nicht auf eine immer größere Machtfülle, sondern auf die konzentriertere Nutzung von Kernkompetenzen gerichtet.
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Zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Handlungsfähigkeit der erweiterten Union soll der Rat in der Gesetzgebung künftig mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können. Das neu eingeführte „normale Gesetzgebungsverfahren" macht das zur Regel. Die gilt nicht ohne Ausnahmen, aber sie konnten immerhin auf wenige Fälle begrenzt werden.[9] Der Vorschlag des Präsidiums, Einstimmigkeit, von Sonderfällen wie Entscheidungen über militärische Einsätze, Beschlüssen über die Eigenmittel der Union oder Entscheidungen mit direkten Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme abgesehen, allein "Verfassungsentscheidungen" vorzubehalten, erwies sich als nicht konsensfähig.
Rechtsetzung durch Mehrheitsentscheidung wirft in einer „Union der Bürger und der Staaten" ein grundlegendes Legitimationsproblem auf: Das Staats- und Völkerrechtsprinzip der Gleichheit der Staaten kollidiert mit dem Demokratieprinzip der Gleichheit der Bürger. Beide Prinzipien stehen zueinander im Widerspruch und sind doch für eine Union der Bürger und Staaten gleichermaßen grundlegend. Dabei geht es nicht darum, Dominationsängste - hier vor der Größe, dort vor der Zahl der Staaten - zu dämpfen. Die sind nach aller Erfahrung unbegründet, weil es einen Block der "Kleinen" gegen einen der "Großen" zumindest in Sachfragen bisher nicht gegeben hat. Im Konventspräsidium ist es vielmehr darum gegangen, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Legitimationssträngen "Union der Bürger" und "Union der Staaten" zu finden.
Die Gleichheit der Staaten Europas ist rechtliche Fiktion, nicht politische Realität. Wo keine Gleichheit herrscht, muß Gleichgewicht hergestellt werden. Das ist ein Grundzug der europäischen Geschichte. Es ist auch ein Kernelement der europäischen Verfassung. Das alte Europa souveräner Staaten hat immer wieder versucht, das europäische Gleichgewicht auf dem Feld der Diplomatie durch Achsen und Allianzen und auf den Schlachtfeldern durch Blut und Eisen zu finden. Das neue Europa der Union stellt es durch gleiche Partizipation aller Staaten und eine als gerecht angesehene Gewichtung eines jeden von ihnen in gemeinsamen Institutionen her: "Balance of institutions" und "balance of legitimations" statt "balance of power".
Die Gleichheit der Staaten und die Gleichheit der Bürger miteinander zu verbinden, heißt sowohl das eine wie das andere Prinzip zu verletzen. Das Ergebnis ist unbefriedigend, aber ohne Alternative. Zuleeg, immerhin, gibt eine rechtstheoretische Hilfestellung[10] mit dem Hinweis, daß „in föderativen Gemeinwesen Abweichungen von der strikten Gleichheit erlaubt, ja geboten sein können, um der Eigenständigkeit und dem Schutzbedürfnis einzelner Einheiten Genüge zu tun". In der Verfassung wird dieses Gleichgewicht durch die Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat, durch die degressive Proportionalität im Europäischen Parlament und letztlich auch durch das Prinzip der gleichen Rotation in eine verkleinerte Kommission gehalten.
Die drei großen und drei kleinen Gründerstaaten ließen sich 1957 noch verhältnismäßig einfach in ein Gleichgewicht bringen. Das Erfordernis der Einstimmigkeit bei zahlreichen Entscheidungen und die Zurückhaltung Deutschlands erleichterten es, bei der Stimmengewichtung im Rat, der Zahl der Kommissare, der Mandatsverteilung im Parlament, die Gleichheit zwischen den Großen zu akzeptieren und mit der angemessenen Repräsentanz der Kleinen zu kombinieren.
Dieses Gleichgewicht wurde durch die verschiedenen Erweiterungen von sechs auf zwölf Mitgliedstaaten nicht grundsätzlich gestört. Die Vergrößerung der Union beeinträchtigte es zwar, zerstörte es aber nicht. Erst durch das Anwachsen der Union auf 25 (und künftig noch mehr) Staaten, darunter sechs große und 19 kleinere und kleinste, ist das immer fragiler gewordene ursprüngliche Gleichgewicht zerbrochen und war auch durch eine Fortschreibung der bisher geltenden Gewichtung der Stimmen im Rat nicht mehr zu halten. Die 19 "Kleinen" haben eine deutliche Mehrheit, vertreten aber nur etwa ein Viertel der EU-Bevölkerung. Die Relevanz dieser Verschiebung wird durch das wiedervereinigte Deutschland, dessen Bevölkerung nun erheblich größer ist als die des zweitgrößten Mitgliedstaates, noch verstärkt. In einer demokratischen Union, die für alle Bürger verbindliches Recht setzt, ist ein solches Ungleichgewicht zu Lasten der Bürger der größeren Mitgliedstaaten auf die Dauer nicht hinnehmbar.
Bei der Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat hat sich der Konvent für die vom Europäischen Parlament schon lange geforderte "doppelte Mehrheit" entschieden. Die Regierungskonferenz ist ihm gefolgt. Dabei hat sie die ursprünglich vorgesehenen Schwellen von 50 und 60 Prozent auf 55 Prozent der Staaten, die eine Mehrheit der Bürger von mindestens 65 Prozent vertreten müssen, erhöht. Das durchbricht das Prinzip der doppelten Mehrheit genauso wenig wie die auf mindestens vier Mitgliedstaaten festgelegte „Sperrminorität", und die verkomplizierenden Einschränkungen durch die überarbeitete „Ioannina-Klausel". Einerseits brauchen die sechs großen Staaten für eine Mehrheit immer auch wenigstens neun der kleinen: Sie können die 19 kleinen nicht dominieren. Andererseits schaffen es die 19 kleineren Mitgliedstaaten zusammen nicht, das Bevölkerungskriterium zu erfüllen, wenn nicht wenigstens drei der großen dabei sind - sie können die sechs großen nicht majorisieren.
Auch die Zusammensetzung von Parlament und Kommission ist Teil des durch die Verfassung geschaffenen neuen Gleichgewichts. Die Zahl der Mitglieder im Europäischen Parlament wird auf 750 begrenzt und nach dem Grundsatz der degressiven Proportionalität auf die Mitgliedstaaten verteilt. Die Mindestzahl der Mandate pro Land ist sechs, die Höchstzahl 96. Damit bleiben zwar die kleineren Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl weiterhin stärker im Parlament vertreten als die größeren, aber diese Verzerrung ist im Vergleich zur aktuellen „gesetzten" Mandatsverteilung gemildert. Die für 2014 vorgesehene Verringerung der Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten wird durch ein gleichberechtigtes Rotationssystem zwischen allen Mitgliedstaaten kompensiert. Damit ist der Zugang zur Kommission, deren Mitglieder ja unabhängig von Weisungen aus ihrem jeweiligen Herkunftsland handeln sollen, für Große und Kleine gleich.
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Für die Rechtsetzung durch die Union und die Legitimation der Exekutive erhält das Europäische Parlament die Kompetenzen, die der direkt gewählten Vertretung der Bürger in einer Staaten-Union angemessen sind. Bislang war die Alleinentscheidung des Rates die Regel und die Mitentscheidung des Parlaments die ausdrücklich genehmigte Ausnahme. Künftig ist die Mitentscheidung des Parlaments die Regel, die Alleinentscheidung des Rats die Ausnahme. Art. I-34 VVE ist ein Quantensprung für die Parlamentarisierung der EU-Gesetzgebung: „Europäische Gesetze und Rahmengesetze werden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (nach Art. III-396 VVE) auf Vorschlag der Kommission vom Europäischen Parlament und vom Rat gemeinsam erlassen".
Statt wie bisher in etwa 35 entscheidet das Parlament künftig in über 90 Gesetzgebungsbereichen mit, darunter in der bisher von parlamentarischer Mitentscheidung „verschonten" Agrarpolitik und in der erheblich ausgeweiteten Gesetzgebungskompetenz im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Übrig bleiben 13 Bereiche. Bei einigen von ihnen, wie etwa der Steuerharmonisierung oder Teilen des Familienrechts, ist das aus der hohen mitgliedstaatlichen Relevanz begründet. Bei anderen handelt es sich um Grenzfälle zwischen Gesetzgebung und Verwaltungsentscheidungen.
Das Parlament wählt den Präsidenten der EU-Kommission. Das Verfahren gleicht auf den ersten Blick dem des Nizza-Vertrags, enthält allerdings drei Neuerungen von weitreichender Bedeutung: Der Europäische Rat muß bei seinem Kandidatenvorschlag das Ergebnis der Europawahl beachten: Nichts hindert die großen politischen Formationen in der Union daran, vor der Europawahl ihre Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu benennen. Die Relevanz dieser Wahlen steigt. Die Staats- und Regierungschefs werden vor der Nominierung ihres Kandidaten die wichtigsten Fraktionen im Parlament konsultieren müssen, um seine Wahl zu sichern: Das Parlament wird an der Nominierung des Kandidaten informell beteiligt. Wenn der Kandidat die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments nicht erhält, kann der Europäische Rat seinen Kandidaten nicht etwa ein zweites Mal ins Rennen schicken, sondern muß einen neuen Vorschlag machen: Das Parlament hat tatsächlich die Wahl.
Aus der EU-Kommission kam der Vorschlag, den Kommissionspräsidenten im Parlament und im Rat jeweils mit einer Zweidrittel-Mehrheit zu wählen[11]. Das ist im Präsidium nicht einmal debattiert worden. Eine Wahl mit solchen Mehrheiten müßte jedes Ergebnis der Europawahl verwischen und wäre das Ende jeder politischen Unterscheidbarkeit. Schlimmer noch: Die Kommission, der ja vernünftigerweise nur mit den gleichen Mehrheiten das Mißtrauen ausgesprochen werden könnte, wäre de facto vor jeder polischen Verantwortlichkeit „geschützt". Eine Mehrzahl der Europaparlamentarier im Konvent, aber auch die Bundesregierung favorisierten eine Variante, nach der der Kommissionspräsident vom Parlament „gewählt" und danach vom Europäischen Rat "bestätigt" werden sollte. Das hätte bedeutet, daß das Parlament den Kandidaten vorschlägt und der Rat entscheidet. Es hätte darauf verzichtet, das letzte Wort zu haben. Das Konventspräsidium hat sich auf diese Selbstverharmlosung des Parlaments nicht eingelassen.
Das Gemeinschaftsorgan par excellence, die Kommission, behält alle bisherigen Trümpfe wie "Hüterin der Verträge", Wahrung des Gemeinschaftsinteresses, Initiativmonopol, Exekutivbefugnisse. Neu ist, daß künftig der Kommissionspräsident die Richtlinien der Politik bestimmt, die Ressorts festlegt und die Organisationsgewalt über die Kommissions-Administration innehat. Bei der Benennung der Kommissare wird er nicht mehr nur „gehört", sondern die Regierungen müssen sich mit ihm „ins Benehmen" setzen. Er kann einzelne Kommissare zum Rücktritt zwingen. Der Präsident der Kommission kann wirklich zu ihrem Chef werden. Damit wird die Stärkung der Präsidentschaft des Europäischen Rates kompensiert.
Wie groß darf oder muß die EU-Kommission sein, die einen ihren Aufgaben entsprechenden Zuschnitt der Ressorts, breiten mitgliedstaatlichen Sachverstand, straffe Kollegialität und Handlungsfähigkeit in sich vereinen und zugleich nach außen Autorität, Kompetenz und regionale Ausgewogenheit zeigen soll? Das Prinzip "ein Kommissar pro Land" sichert der Kommission zwar eine breite Kenntnis der Verhältnisse in den Mitgliedstaaten, kann aber auch einer schleichenden Intergouvernementalisierung der Kommission Vorschub leisten. Gewiß ist die Mitgliedschaft in der Kommission für die Öffentlichkeit, vor allem in den kleineren Staaten, von hohem Symbolwert. Zugleich verringert sich aber die Durchsetzungskraft eines Gremiums, in dem die sechs Kommissare aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens das gleiche Stimmgewicht haben würden wie die Kommissare aus den sechs Gründerstaaten. Immerhin begrenzt die Verfassung von 2014 an die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten.
Gegen eine Verkleinerung der Kommission ist im Konvent eingewandt worden, daß nationale Regierungen auch mit dreißig und mehr Ministern, Staatsministern und geschäftsbereichfreien Ministern funktionieren. Das läßt die innere Hierarchie in solchen Regierungen außer Acht. Vor allem aber übersieht es, daß eine Kommission nicht wie eine normale Regierung führbar ist. Der Kommissionspräsident verfügt nun einmal nicht über die Netzwerkloyalitäten und Disziplinierungsinstrumente, über die ein nationaler Regierungs- und Parteichef üblicherweise gebieten kann. Je größer die Kommission, desto größer die Gefahr, daß sich Substrukturen bilden, die in einem notwendigerweise national und parteipolitisch multiplen Gremium nicht mehr beherrschbar wären. Die systematisch "richtige" Lösung wäre gewesen, keine Zahlen in die Verfassung zu schreiben, sondern es dem gewählten Präsidenten zu überlassen, mit wie vielen Kommissaren aus welchen Ländern er "seine" Kommission besetzen will. Das wurde zwar bedacht, aber als (noch) nicht konsensfähig verworfen.
Der Europäische Rat besteht nach der Erweiterung aus mehr als 50 Personen[12]. Mit einer Halbjahresrotation im Vorsitz und in Kombination mit dem Amt des Regierungschefs ist ein solches Gremium nicht mehr zu organisieren, zu koordinieren und zu führen. Darauf haben selbst einige der Chefs hingewiesen. Deshalb hat das Konventspräsidium trotz erheblicher Kritik aus dem Konvent an seinem Vorschlag festgehalten, einen auf zweieinhalb Jahre gewählten, hauptamtlichen Präsidenten zu schaffen. Allerdings wurden seine Befugnisse ausdrücklich auf die Führung des Europäischen Rates begrenzt und Eingriffe in exekutive oder legislative Aufgaben ausgeschlossen. Der Schwerpunkt seiner Aufgaben liegt in der Koordinierung der nationalen Politiken im Bereich der Union und der Außenvertretung der Union "auf seiner Ebene".[13]
War es ein Fehler, das intergouvernementale Element der Union auf diesem Wege zu stärken? Die Antwort kann nur nach Abwägung möglicher Entwicklungen gegeben werden. Das Konventspräsidium befürchtete, daß sich, bliebe es bei Halbjahresrotation und nebenamtlicher Ratspräsidentschaft, innerhalb kurzer Zeit ein informelles Direktorium der Großen Drei oder Vier zur Vorbereitung und Durchsetzung der Entscheidungen des Europäischen Rates bilden würde. Die Folge wären Reibungsverluste durch Diskriminierungsängste, Prestigekonkurrenz und Informationsdivergenzen. Überdies würde das fragile Gleichgewicht zwischen „großen" und „kleinen" Mitgliedstaaten gefährdet. Zweifellos ist ein durch die Verfassung vorgesehener gewählter hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates die „unionsfreundlichere" Lösung.
Die Funktionsfähigkeit der Union ruht nicht nur auf ihren vergemeinschafteten, sondern auch auf ihren intergouvernementalen Elementen. Die Sorge, daß die Verstärkung des "intergouvernementalen" Elements durch das neu geschaffene Präsidentenamt zu Lasten des durch die Kommission und ihren Präsidenten wahrgenommenen "vergemeinschafteten" Elements gehen werde, ist unbegründet. Schließlich wird der Europäische Ratspräsident nicht mehr "seinen" Mitgliedstaat als "Hausmacht" haben. Er verfügt nicht mehr über das Instrumentarium „seiner" Regierung, sondern muß sich auf das Ratssekretariat stützen. Will der Präsident Erfolg haben, muß er eher zum Vertreter gemeinschaftlicher Positionen als nationaler Interessen werden. Seine Stärke liegt in der längeren Amtszeit und in seinem Mediationsgeschick.
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Die Bürger nehmen Institutionen, die europäischen zumal, als abstrakt und gesichtslos wahr. Orientierung, Führung und Verantwortlichkeit verbinden sie nicht mit ihnen, sondern mit Personen. Die Verfassung wird europäische Politik stärker personalisieren. Sie hebt drei Führungsämter durch größere Kompetenzen, breitere Legitimierung und längere Amtsdauer hervor und macht sie sichtbarer. Der auf zweieinhalb Jahre gewählte Präsident des Europäischen Rats wird im Sprachgebrauch und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zum EU-Präsidenten werden. Am Rande sei vermerkt, daß wichtige Teile des Konvents in geradezu naiv-magischem Denken auf der Bezeichnung "Vorsitzender" statt "Präsident" bestanden, um ihn auf eine Funktion als Sitzungsleiter zu fixieren. Das scheiterte am Konventspräsidenten, der sich mit dem schlagenden (wenn auch falschen) Hinweis durchsetzte, auch der Präsident des Europäischen Parlaments sei schließlich nur Sitzungsleiter und heiße doch "Präsident".
Die Verfassung schreibt es nicht vor, aber das Nominierungs- und Wahlverfahren des Kommissionspräsidenten ist so gestaltet, daß nichts die großen europäischen Parteien daran hindert, mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten in die Europawahl zu gehen. Der vom Europäischen Parlament gewählte und durch die Richtlinienkompetenz gestärkte Präsident der EU-Kommission wird aus der Reihe der von den europäischen Parteien vor der Europawahl designierten Kandidaten kommen. Daraus kann eine eigenständige Legitimation wachsen.
Der Europäische Außenminister vertritt die Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach außen und wird einen erheblichen Einfluß auf deren Gestaltung gewinnen. Als Vorsitzender des Außenministerrats hat er die Disposition über Zeit, Themen und Dossiers im Rat und amtiert, auf fünf Jahre bestellt, länger als die meisten seiner Kollegen. Als Vizepräsident der Kommission koordiniert er die vergemeinschafteten Bereiche der Auswärtigen Beziehungen der Union unter Einschluß der Entwicklungspolitik, des Außenhandels, der Humanitären Hilfe etc. und verfügt über die der Union für diese Politiken bereit gestellten finanziellen Ressourcen. Der neu zu schaffende Auswärtige Dienst der Union ist ihm unterstellt. Ob die als "Doppelhut" bezeichnete Kombination von Zuständigkeiten aus dem intergouvernementalen und aus dem vergemeinschafteten Bereich der Außenbeziehungen funktionsfähig ist, wird in hohem Maße von der Autorität, Arbeitsweise und Moderationsfähigkeit des ersten Inhabers dieses Amtes abhängen.
Ob aus dem Führungstrio - Präsident des Europäischen Rates, Präsident der EU-Kommission, Europäischer Außenminister - eine dominierende Figur herauswächst, bleibt offen. Natürlich sind Reibungsverluste nicht auszuschließen. Offen bleibt auch, ob dadurch die intergouvernementalen oder vergemeinschafteten Elemente der Union gestärkt werden. Die präsidiale Doppelspitze, Präsident des Europäischen Rates und Präsident der Kommission, ist ein sinnfälliger Ausdruck der bipolaren Natur der Union. Solange nicht wirklich starkes Unheil droht, müssen solche Dualismen nicht in einer Verfassung, sondern in der praktischen Politik ausgetragen werden[14]. Der Verfassungsvertrag läßt gewollt größere Gestaltungsräume als die geltenden EU-Verträge. Wie sie genutzt werden, wird vor allem an den Personen liegen, die als erste diese Ämter besetzen.
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Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Mit seinem ökonomischen und technologischen Potential beeinflußt Europa Entwicklungschancen, Ressourcentransfers und Stabilität überall in der Welt. So, wie sie bisher gebaut ist, kann die Union ihrer globalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie ist außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch nicht führbar, schon gar nicht in Krisensituationen. Ob es die in der Verfassung für das Auswärtige Handeln der Union vorgesehenen Verfahren und Instrumente der Union ermöglichen, in der Welt die Rolle zu spielen, die ihr zukommt und die von ihr erwartet wird, ist intensiv erörtert worden. Zweifel daran werden vor allem durch das (von einigen Ausnahmen abgesehen) fast durchgängige Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit im Rat genährt.
Im Rahmen des zur Zeit in Europa Möglichen können Kernfragen der Außen- und Sicherheitspolitik, wenn es nicht mehr nur um die Einschätzung von Risiken geht, sondern auch um die Bereitschaft, sie zu tragen, in der Union (noch) nicht mit Mehrheit entschieden werden. Das Zaudern der EU auf dem Balkan vor zehn Jahren und die Spaltung der EU über die Beteilung am Krieg gegen den Irak vor zwei Jahren sind dafür nur zwei besonders gravierende Beispiele. Gemeinsamkeit kann nicht mit Mehrheit beschlossen werden. Sie kommt nur als der Prozeß der schrittweisen Annäherung zwischen unterschiedlichen nationalen Sichtweisen und Erfahrungen zustande. Ihn in Gang zu setzen, in Gang zu halten und dabei neue Kommunikationsgewohnheiten zu schaffen und europäische Loyalitäten wachsen zu lassen, wird im Zentrum der Tätigkeiten des Außenministers und des Auswärtigen Dienstes der Union stehen.
Die Perspektive der Gemeinsamen Verteidigung, wenigstens aber die Definition einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, wird realistischer. Die Union kann für Konfliktvorbeugung, Friedenssicherung, Krisenbewältigung und Wiederherstellung des Friedens operative Fähigkeiten entwickeln, die neben zivilen auch auf militärischen Mitteln beruhen. Die Mitgliedstaaten sind zum gegenseitigen Beistand und zur gegenseitigen Unterstützung mit allen Mitteln verpflichtet, wenn einer von ihnen einem bewaffneten Angriff auf sein Hoheitsgebiet ausgesetzt ist.
Die Mitgliedstaaten, die über die militärischen Fähigkeiten und den politischen Willen dazu verfügen, können sich im Rahmen der Union und auf der Grundlage der Verfassung im Bereich der Verteidigung an einer dauerhaften strukturierten Zusammenarbeit beteiligen. Die Union und ihre Mitgliedstaaten verpflichten sich, im Geiste der Solidarität gemeinsam zu handeln und, wenn darum gebeten wird, etwa bei Terrorangriffen, auch militärische Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Rationalisierung der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten, Koordinierung der Forschungstätigkeiten im Bereich der Verteidigungstechnologie und Effizienz der Militärausgaben sollen durch ein „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" verbessert werden. Trotz aller Einschränkungen und Sonderregelungen steht der Union das notwendige außen- und sicherheitspolitische Instrumentarium für weltweites Handeln zur Verfügung. Einen mangelnden politischen Willen der Mitgliedstaaten, es zu nutzen und einzusetzen kann die Verfassung allerdings nicht ersetzten.
Die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt auch nach Überwindung der Pfeilerstruktur als Exekutivhandeln im Wesentlichen intergouvernemental. Daß das nicht Handlungsunfähigkeit bedeuten muß, zeigen der eigenständige EU-Einsatz „Artimis" im Kongo und die ALTHEA-Militärmission in Bosnien-Herzogowina. Die parlamentarische Kontrolle, insbesondere im Bereich der Sicherheitspolitik und militärischer Aktionen, findet weiterhin in den Mitgliedstaaten statt. Das Europäische Parlament wird, von Ausnahmen abgesehen, lediglich gehört. Allerdings vereint die Verfassung alle Bereiche des Auswärtigen Handelns der Union in einem eigenen Titel und fordert ausdrücklich zwischen allen Bereichen Kohärenz.
Fünfzig Jahre lang war die Einigung Europas nach innen auf Integration und Erweiterung gerichtet. In der veränderten Weltlage, in der die Blöcke aufgelöst, mit Terrorismus, Klimaveränderung, Migrationströmen neue Bedrohungen entstanden und die Wirtschaft durch Handel, Finanzen und Arbeit global vernetzt ist, muß sich die Einigung Europas nach außen richten. Statt Erweiterung und Vertiefung nach innen, wird künftig gemeinsames Handeln nach außen mit dem Ziel der Wahrung gemeinsamer Interessen zum Paradigma des Zusammenschlusses europäischer Staaten. Mit den Bestimmungen zum auswärtigen Handeln der Union antwortet - wenn auch vielleicht noch nicht ausreichend - die Verfassung auf diesen Paradigmenwechsel.
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Am Ende der Konventsberatungen mußte sich das Präsidium entscheiden, ob die Verteidigung der Stringenz des Verfassungsentwurfs oder das Festhalten an der Strategie, ihn in der Substanz unverändert durch die Regierungskonferenz zu bringen, Vorrang haben sollte. Die Mehrheit der Konventsmitglieder war zweifellos dafür, an der Stringenz festzuhalten und, zum Beispiel, keine Ausnahmen vom normalen Gesetzgebungsverfahren zuzulassen, die Rolle der Kommission bei der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken zu stärken, oder in der Harmonisierung der Steuerpolitik und in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik das Tor zu Mehrheitsentscheidungen weiter zu öffnen.
Dagegen forderte eine wachsende Zahl der Regierungen, darunter auch die deutsche und die französische, weitere Annahme von der Mehrheitsregel in die Verfassung aufzunehmen, und drohte, die einzelnen Forderungen in die Regierungskonferenz zu tragen. Das Vereinigte Königreich, und durchaus nicht es allein, an, kündigte sogar in der Regierungskonferenz an, aus Steuerharmonisierung und Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik in der Regierungskonferenz „KO-Fragen" für die Verfassung zu machen. Da es darum gehen mußte, den Konventesentwurf zur Verhandlungsgrundlage zu machen reduzierte das Konventspräsidium die Konfliktpunkte durch ein Nachgeben gegenüber der deutschen und
der französischen Regierung und entschied sich damit zwischen Stringenz und Strategie für letztere.
Damit wurde erreicht, daß der Europäische Rat im Juni 2003 den „Wortlaut" des Konventsentwurfs als „eine gute Ausgangsbasis" für die Regierungskonferenz bezeichnete. Aber Anfang Oktober, als die italienische Ratspräsidentschaft zu erkennen gab, daß sie die Verhandlungen auf der Grundlage des Konventstextes zu führen gedenke, versuchte eine von Österreich und Finnland geführte Minderheit unter dem abwartenden Schweigen der Mehrheit, die Konferenz zumindest für umstrittene Punkte zur Ausarbeitung eigener Beratungsgrundlagen zu treiben. Erst nach massiven Interventionen des französischen und des deutschen Außenministers in den Beratungen blieb der Konventsentwurf integral die Verhandlungsgrundlage. [15]
Auch danach war nicht zu erwarten, daß die Regierungskonferenz den Konventsentwurf eins zu eins übernehmen und unverändert beschließen würde. Schließlich hatte der Konvent selbst bestimmte Fragen, zum Beispiel das Rotationsverfahren für den Vorsitz der Ministerräte oder die Schlußbestimmung in Teil IV, bewußt offen gelassen. Im übrigen war damit zu rechnen, daß fast alle Regierungen selbstverständlich die Gelegenheit nutzen würden, sich nachträglich noch den einen oder anderen Sonderwunsch zu erfüllen.
Daß dennoch mehr als 90 Prozent des Konventsentwurfs die Regierungskonferenz unverändert passiert haben, ist umso bemerkenswerter als der vom Konvent erarbeitete „Entwurf einer Verfassung für Europa" weit über das Mandat von Laeken hinausgeht[16]. Er hatte aber eine innere Kohärenz, die jedes Herausbrechen eines der substantiellen Elemente des Konventsentwurfs zur Zerstörung des gesamten Gleichgewichts zwischen den Institutionen, den großen und kleinen Staaten, den föderalen und konföderalen Elementen der Union geführt hätte. Das spricht für seine starke innere Kohärenz. Von den Änderungen am Entwurf selbst sowie von den Zusatzerklärungen und Protokollen sind manche klärend und sogar weiterführend, viele sind überflüssig, einige auch ärgerlich. Aber keine und keines verändert Substanz, Struktur oder Kohärenz des Konventsentwurfs.
Die Mitgliedstaaten werden Verfassungsänderungen auch künftig nur einstimmig beschließen können. Nicht nur aus verfassungspolitischen Gründen führt daran kein Weg vorbei. Der Versuch, Einstimmigkeit nur für weitere Souveränitätsübertragungen vorzusehen, mußte verworfen werden. Schon eine erste Prüfung hatte ergeben, daß eine Differenzierung von Verfassungsänderungen nach diesem Kriterium mit hinreichender Klarheit und Rechtssicherheit nicht möglich sein würde. Im übrigen wären in einigen Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, beachtliche verfassungsrechtliche Probleme aufgeworfen worden.[17]
Die Verfassung sieht aber für einige Änderungen ein erleichtertes Verfahren vor. Durch Beschluß des Europäischen Rates ohne langwierige nationale Ratifizierungsverfahren kann z.B. der Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung in weiteren Gesetzgebungsbereichen und vom besonderen zum normalen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden, wobei allerdings jedes nationale Parlament ein Vetorecht erhält. Er kann auch in Einzelfragen wie der Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Erweiterung der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Änderungen beschließen.
Bestimmte Änderungen sieht die Verfassung selbst, wenn auch mit Verzögerung, vor. Das gilt für den Aufschub der Reform der Zahl der Mandate im Europäischen Parlament und die Anwendung der doppelten Mehrheit im Rat auf den 1.11.2009, ferner die Verringerung der Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten mit gleichem Zugangsrecht für die Staatsbürger aller Mitgliedstaaten und die Abschaffung der Ioannina-Regel für die Abstimmungen im Rat auf 2014, den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen bei der Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens und bei der Reform der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds.
Häufig wird beklagt, daß die Beibehaltung der Einstimmigkeit für Veränderungen im Teil III dringend notwendige Reformen in den dort festgelegten Politikbereichen erschwere oder verhindere. Das ist nur auf den ersten Blick richtig. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Verfassung (wie der EG-Vertrag) für die gemeinsame Agrarpolitik zum Beispiel zwar "eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte" vorsieht, aber keineswegs produktgebundene Garantiepreise oder Milchquoten usw., ja nicht einmal europäische Agrarmarktordnungen alternativlos vorschreibt. Über eine Reform der Agrarpolitik (und anderer Politiken) konnten bisher schon entsprechende Mehrheiten im Rat, künftig im Parlament und im Rat entscheiden - wenn sie denn zustande kommen.
Wie alle Verfassungen wird natürlich auch die EU-Verfassung im Laufe der Zeit geändert werden. Der berühmten langlebigen amerikanischen Verfassung ist es so ergangen und dem deutschen Grundgesetz in seiner 55-jährigen Geschichte auch. Trotz ihrer beachtlichen Stringenz und Kohärenz enthält die EU-Verfassung durchaus eine Reihe von Unzulänglichkeiten und ad-hoc-Kompromissen, deren Korrektur sich früher oder später als notwendig erweisen wird. Daß politische Verschiebungen oder gesellschaftliche Entwicklungen in Europa Änderungen an der Verfassung nötig machen können ist selbstverständlich. Aber die im Verfassungsvertrag beschriebene Struktur der Europäischen Union wird Bestand haben - und sei es nur, weil nach den Schwierigkeiten, die zur Ratifizierung in einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten überwunden werden müssen, keine Regierung so bald das Risiko eines weiteren grundlegenden Reformprozesses eingehen wird.
Das wird auch nicht nötig sein. Der Verfassungsvertrag birgt ein größeres Potential an Offenheit und Flexibilität als die EU-Verträge. Das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit - nun auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfügbar - erlaubt es der Union, auf wachsenden Integrationsbedarf im Rahmen der Verfassung flexibel zu reagieren. Im übrigen hängen das Gewicht der Institutionen und die Beziehungen zwischen ihnen nicht allein vom Wortlaut der Verfassung ab. Gerade die größere Offenheit und Ausdeutbarkeit (Kritiker sagen: Unklarheit) läßt erwarten, daß an der Struktur und der Substanz der Verfassung der Europäischen Union längere Zeit nichts Wesentliches geändert werden muß.
Mit dem Beschluß vom 18. Juni 2004 in Brüssel halten die Staats- und Regierungschefs den Reformprozeß für abgeschlossen. Zwischen 1992 und 2004 sind die EU-Verträge dreimal reformiert (1992 in Maastricht, 1997 in Amsterdam, 2000 in Nizza) und zweimal den Erfordernissen der Beitritte von 1995 und 2004 angepaßt worden. In Maastricht, Amsterdam und Nizza hatten die Regierungen jeweils schon vor der Unterzeichung des Vertrages die weiteren Reformschritte angekündigt, ausdrücklich „left-overs" benannt oder eine „eingehendere und breiter angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union" eingeleitet. Die Verfassung beendet ein zwölfjähriges Reformstakkato.
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Fördert die Verfassung die Bildung einer europäischen Identität? Vom Text her gewiß nicht - und nicht nur, weil er natürlich die Kürze, Stringenz und sprachliche Wucht der amerikanischen Verfassung bei weitem nicht erreicht. Im übrigen gibt es nur in Deutschland so etwas wie einen „Verfassungspatriotismus". Europäische Identität bildet sich durch Erfolge und Mißerfolge gemeinsamen Handelns, aus der Erkenntnis des „Andersseins" durch Geschichte, Religion, Werthaltung, Kultur. Identität läßt Neues zu, ist aber immer auch Abgrenzung.
Die Frage nach den Grenzen der Europäischen Union beantwortet die Verfassung nicht. So gewiß Europa Grenzen hat, so ungewiß ist es, wo sie liegen. Sie wechseln je nach den Kriterien nach denen man sie bestimmen will. Die geographischen Grenzen sind nicht die gleichen wie die historischen, die wiederum sind andere als die kulturellen und religiösen, die ihrerseits mit den wirtschaftlich-sozialen nicht übereinstimmen usw. Immerhin nennt die Verfassung zwei Grundbedingungen für die Mitgliedschaft in der Union: Es müssen „europäische Staaten" sein und sie müssen „die Werte der Union achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen" (Art. I-1 Abs. 2 VVE). Ferner impliziert die Mitgliedschaft die Verpflichtung zur Unterstützung ihrer Ziele sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, alle aus der Verfassung fließenden Rechte und Pflichten zu achten und zu erfüllen.
Die politischen Grenzen Europas können nur als Ergebnis politischer Abwägungen gezogen werden. Welcher Staat „europäisch" ist, bestimmt nicht die Verfassung, sondern der Europäische Rat. Als er 1999 der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannte, hat er damit auch beschlossen, daß dieses Land ein europäisches ist. Ob ein Staat die Werte der Union achtet und ihnen Geltung verschafft oder nicht, entscheiden Europäischer Rat und Europäisches Parlament: Bei einem Beitritt durch Weigerung, den Beitrittsvertrag abzuschließen bzw. ihn zu ratifizieren, bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. I-2 VVE genannten Werte durch Sanktionen gegen den betreffenden Mitgliedstaat.
Die Union kann sich durch Beitritte erweitern, aber auch durch Austritte verkleinern. Anders als für einen Staat sind für die Union nicht Staatsvolk und Staatsgebiet konstitutiv, sondern „gemeinsame Werte und gemeinsame Ziele". Ohne sie kann die Union nicht existieren. Ihr bleibt ein latenter Begründungszwang inhärent. Man kann Zuleeg darin zustimmen, daß "die europäische Integration" auch mit der Verfassung „noch nicht an ihrem Ende angekommen" [18] ist. Sie ist eine noch immer "unfertige" Union. Allerdings taucht das Ziel, eine immer engere Union zu schaffen, in der Verfassung nicht mehr auf. Es wurde bewußt gestrichen. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, daß die Union sich bundesstaatlichen Strukturen weiter annähert, aber eine weitere Integration ist jedenfalls kein Verfassungsauftrag mehr. So gesehen beschreibt die Verfassung sehr wohl die Finalität der europäischen Einigung - wenn auch nicht so, wie mancher, der danach gerufen hat, sie gern beschrieben hätte. Sie ist in der politischen Realität der größeren Union in der veränderten Welt des 21. Jahrhunderts angekommen.
[1] Hinzu wurde als "ständiger Gast", aber völlig gleichberechtigt, der von den Parlamentariern aus den Beitrittsstaaten vorgeschlagene slowenische Abgeordnete Alojz Peterle kooptiert.
[2] M. Zuleeg Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 2004, S.165 und M. Zuleeg Die Vorzüge der europäischen Verfassung in: von Bogdandy (Hg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 931 (932).
[3] Ausnahmen sind insbesondere die neu in die Verfassung integrierten Titel über das "Auswärtige Handeln der Union", den "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", die Bestimmungen für die Mitglieder des Euro-Währungsgebiets sowie die neuen Kompetenzen Energie, Sport, Katastrophenhilfe, die vom Konvent inhaltlich diskutiert und nicht nur redaktionell geändert wurden. Im übrigen war die Hauptfrage, die im Zusammenhang mit den Politiken diskutiert wurde, welche Rechtsgrundlagen nicht in die Mehrheitsentscheidungen im Rat überführt werden sollten.
[4] M.Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung in: von Bogdandy (Hg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 931 (950 f).
[5] M.Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung in: von Bogdandy (Hg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 931 (955)
[6] Hans-Jürgen Papier in: DER SPIEGEL, 39/2003 vom 22.9.2003.
[9] Von den 109 Bereichen in denen die EU rechtsetzend handeln kann bleiben 19 in der Einstimmigkeit (bisher 73). Davon sind nur die Steuerharmonisierung, der Zugang von Drittstaatlern zu den nationalen Arbeitsmärkten und die Antidiskriminierungsgesetze politisch wirklich bedeutend.
[10] Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung in: von Bogdandy (Hg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 931 (941).
[11] Durchführbarkeitsstudie, Beitrag zum Vorentwurf einer Verfassung der Europäischen Union, Arbeitspapier, Brüssel 2002 in: http://europa.eu.int/futurum/documents/ offtext/const051202_de.pdf (sog. Penelope-Entwurf).
[12] 25 Staats- und Regierungschefs, 25 Außenminister, ein Kommissionspräsident und ein weiterer Kommissar, die Generalsekretäre von Rat und Kommission.
[14] In diesem Sinne auch Roman Herzog, in „Die Welt", 23.01.2003
[15]. Zur deutsch-französischen Kooperation im Konvent und danach s.a. Klaus Hänsch „La France, l`Allemagne et la Convention", in: Documents - Revue des questions allemandes, Paris, 3/2003, S. 43-45.
[16] Vgl. Klaus Hänsch in „integration" Vierteljahreszeitschrift des Instituts für Europäische Politik, 26. Jahrgang, Heft 4, 2003, S. 331-337 (334).
[17] Siehe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 zum Vertrag von Maastricht, BverfGE 89,155 ff.
[18] M. Zuleeg Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 2004, S.165 (166).
Gauweiler will Deutschland aus der EU heraushauen (22.04.2005)
In der aktuellen Diskussion um den juristischen Vorstoß des CSU-Politikers Peter Gauweiler, der die Ratifizierung der EU-Verfassung im Bundestag verhindern will, sagte der SPE-Europaabgeordnete und ehemaliges Präsidiumsmitglied des EU Verfassungskonvents, Dr. Klaus Hänsch der Süddeutschen Zeitung:
"Peter Gauweiler und Karl Albrecht Schachtschneider, der die Klage formuliert hat, sind die üblichen Verdächtigen. Ihnen geht es in Wahrheit darum, Deutschland aus der EU herauszuhauen", so der frühere Präsident des Europäischen Parlaments.
"Daß die EU-Verfassung den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht, ist sicherer als beim Vertrag von Maastricht. Entsprechend den Vorbehalten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Einfluß der nationalen Parlamente gestärkt worden. Europäische Institutionen werden zur Beachtung der europäischen Grundrechte verpflichtet und können den durch das Grundgesetz garantierten Grundrechteschutz ausdrücklich nicht verringern," sagte Hänsch und fügte hinzu: "Neue Kompetenzen, wie die Schaffung einer gemeinsamen Währung durch den Maastricht-Vertrag, werden diesmal nicht auf die EU übertragen. Vor allem aber: das Grundgesetz behält als Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland volle Gültigkeit und damit auch der Auftrag, daß Deutschland sich am Fortgang der europäischen Einigung beteiligt."Interview mit Thüringer Allgemeinen Zeitung zur Reform des EU-Stabilitätspaktes ( 22.03.2005)
Wie sehen Sie den Kompromiss zur Reform des Euro-Stabilitätspakts?
Für mich ist das durchweg positiv. Die Finanzminister haben es geschafft, das ökonomisch Vernünftige mit dem stabilitäts-politisch Notwendigen zu verbinden. Diese Entscheidung ist außerdem ein guter Schritt dahin, dass in Zukunft auch in anderen Bereichen der EU wieder Augenmaß an die Stelle des Rechenschiebers tritt.
Ist die Reform nicht geradezu eine Aufforderung, neue Schulden zu machen?
Es wird lediglich das legalisiert, was bisher schon gemacht wird. Die Reform schafft zum Beispiel die Möglichkeit, in gewissem Rahmen Programme gegen Arbeitslosigkeit weiter laufen zu lassen, was mit der strikten 3-Prozent-Grenze nicht möglich gewesen wäre.
Aber wenn die Kontrollmechanismen weiterhin funktionieren sollen, braucht der Pakt doch klare Grenzen?
Natürlich. Aber es gibt keinen Grund, warum der Euro bei einem Defizit von 2,9 noch stabil, bei 3,1 Prozent aber plötzlich instabil sein soll.
Die Kosten für die Wiedervereinigung werden künftig bei der Defizit-Berechnung berücksichtigt, Ähnliches erreichte Polen bei der Reform der Rentenversicherung. Wusch da eine Hand die andere?
Das ist anders gar nicht möglich. Sonst schafft man es nie, einen Kompromiss zu finden. Es ist völlig normal, dass jedes Land seine besondere Situation berücksichtigt wissen will.
Dennoch hagelte es bereits heftige Kritik.
Diese Kritik teile ich nicht. Denn trotzdem bleibt die Währung stabil. Ich glaube vielmehr, dass gerade das Gesichtsfeld einiger Wirtschaftsinstitute ein bisschen zu eng ist.
Ist der Kompromiss der gelungene Abschluss jahrelanger Verhandlungen?
Der Pakt ist kein Ziel an sich, sondern ein Instrument. Und Instrumente muss man je nach Situation anpassen. Deshalb gehört der Pakt auch nicht in die Verfassung, sondern richtigerweise auf den Verhandlungstisch der Finanzminister.
Gespräch: Ruth REICHSTEIN
Deutscher Föderalismus in der "verfaßten" Europäischen Union. (7.1.2005)
Beitrag von Dr. Klaus Hänsch, MdEP, im Rahmen der 44. Bitburger Gespräche am 7.1.2005.
2005 wird ein europäisches Jahr.
Im vergangenen November hat das Europäische Parlament sich geweigert, der neuen EU-Kommission im ersten Durchgang das Vertrauen auszusprechen.: Was nicht wenige Beobachter als Krise oder gar als Machtusurpation des Parlaments beschrieben haben, konnte innerhalb von 14 Tagen gelöst werden - und zwar auf der Grundlage der EU-Verträge: Die Institutionen und Mechanismen der EU funktionieren.
Im März wird die sogenannte Lissabonstrategie neu justiert. Alle Regierungschefs halten sie für richtig und wichtig, solange sie in Brüssel sind. Sobald sie in ihre Hauptstädte zurückgekehrt sind, rühren sie für sie höchstens noch den kleinen Finger. Die Neujustierung muß mit einem erneuerten Engagement einhergehen, die gemeinsam gesteckten Ziele auch wirklich gemeinsam zu erreichen.
Im Frühjahr steht die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts an. Das ist sechs Jahre nach seinem Inkrafttreten eigentlich eher normal. Die Regierungen werden feststellen, daß er schon durch seine bloße Existenz Währungsstabilität zu einem europäischen Thema gemacht und das Haushaltsgebaren einiger Mitgliedstaaten an einen europaweiten Pranger gestellt wurde. Und dann werden sie ihn nicht reformieren, sondern sich auf eine Neuinterpretation einigen, also auf eine Neubewertung der Schuldenstände und der Zusammensetzung der Ausgaben in den Haushalten der Mitgliedstaaten. Das gute alte Augenmaß tritt wieder an die Stelle des Rechenschiebers.
Die Verhandlungen über die Finanzierung der Union von 2007 bis 2013 beginnen. Und wenn auch alle Nettozahler - mit Deutschland an der Spitze - darauf beharren, daß der EU-Haushalt auf 1% der EU-Wirtschaftsleistung begrenzt werden muß, wird es ausgehen wie es immer ausgeht: Die, die viel zahlen, werden etwas mehr zahlen. Die, die viel bekommen, werden etwas weniger bekommen. Und die, die neu dazu gekommen sind, werden nicht so viel bekommen, wie sie erwarten. Europäische Politik als gerecht verteilte Unzufriedenheit.
Im Oktober werden die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet - und dann für längere Zeit aus dem Gesichtskreis und dem Interesse der Öffentlichkeit verschwinden.
Nicht zuletzt wird 2005 in einer Reihe von Volksentscheiden und Parlamentsbeschlüssen über das Schicksal des europäischen Verfassungsvertrages entschieden.
2005 ist wirklich ein europäisches Jahr. Aber erst an seinem Ende wird sich zeigen, ob es auch ein Jahr Europas geworden ist.
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Die größte Herausforderung für die Europäische Union ist nicht die Mitgliedschaft der Türkei in zwanzig Jahren, sondern die Ratifizierung der europäischen Verfassung in zwei Jahren.
Alle 25 Mitgliedstaaten müssen die Verfassung ratifizieren. Jeder nach den Regeln seiner nationalen Verfassung. Das wäre auch durch ein europäisches Referendum nicht zu ersetzen. Litauen und Ungarn haben die Verfassung bereits parlamentarisch ratifiziert. Deutschland sollte in der Spitzengruppe bleiben und als einer der ersten europäischen Staaten die Verfassung bis zum Sommer 2005 ratifizieren. Das wird für den Ratifizierungsprozeß in anderen Ländern prägend sein und hat daher politisch Vorrang vor anderen Überlegungen.
In Deutschland ist das Grundgesetz glasklar: Der Verfassungsvertrag muß im Bundestag und im Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit ratifiziert werden. Man kann das Grundgesetz ändern. Man kann auch in Deutschland Volksentscheide zulassen. Ich bin sicher, daß die Mehrheit der Deutschen für die europäische Verfassung stimmen würde. Aber wenn wir Volksentscheide einführen wollen, dann bitte nicht nur über die Europäische Verfassung und andere europäische Fragen. Dann muß die Struktur unserer Verfassung insgesamt mit Plebisziten kompatibel gemacht werden.
In zehn, vielleicht in zwölf von 25 Mitgliedstaaten werden Referenden stattfinden. Die Ratifizierung ist nicht nur dort gefährdet, wo Referenden stattfinden müssen oder sollen. In mindestens zwei Staaten soll der Volksentscheid die nicht vorhandene Ratifikationsmehrheit im Parlament ersetzen. Die Meinungsumfragen in allen Mitgliedstaaten, ausgenommen Großbritannien, haben eine positive Tendenz. Und am Ende wird auch das Vereinigte Königreich "ja" sagen - wenn klar ist: Es geht um "drinnen oder draußen".
Was geschieht, wenn nicht? Was geschieht, wenn ein oder zwei Länder die Verfassung nicht ratifizieren? Rechtstechnisch gesehen ist es klar: Der Vertrag von Nizza gilt weiter. Aber auf diese "Automatik" sollte sich niemand verlassen. Denn die Staats- und Regierungschefs haben vereinbart, daß sie zusammen kommen werden, um die Lage zu beraten. Deshalb scheint mir eines sicher: Die Union wird nicht einfach beim Status quo des Nizza-Vertrages stehen bleiben.
Ich kenne keinen "Plan B". Und wenn ich ihn kennte, würde ich ihn hier nicht offenlegen. Vermutlich wird eine Rolle spielen, daß es eine gewisse "Hierarchie der "Neins" gibt. Für die Zukunft der Union ist es ein Unterschied ob Malta oder Frankreich "Nein" sagen.
Hier und da mag vielleicht gewünscht werden, daß sich die EU dann zu einem "Kerneuropa" und einem "Randeuropa" "zurechtrüttelt". Das ist eine Illusion. Ohne Verfassung verkommt die EU zu einer Patchwork-Union, die nach innen die Bürger verwirrt und Europa nach außen disqualifiziert. Ein Scheitern der Verfassung wäre der Rückfall in ein Europa der Ränke und Rankünen. Die Union würde von Achsen und Allianzen sogenannter "strategischer Partnerschaften" durchzogen. Das wären Achsen und Allianzen um und gegen den Stärksten - also um und gegen Deutschland.
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Die Verfassung beendet das zwölfjährige Reformstakkato von Maastricht über Amsterdam nach Nizza und von 12 über 15 bis zu 27 Mitgliedstaaten. Die Zeit des "left overs" ist vorbei. Die Struktur der Europäischen Union ist für einen langen Zeitraum festgelegt. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa regelt das, was alle demokratischen Verfassungen der Welt regeln: Die Legitimierung und Limitierung politischer Macht.
In den vergangenen zehn Jahren ist die Europäische Union in die letzten drei der klassischen Hoheitsbereiche des europäischen Nationalstaats hineingewachsen: das Geld, das Recht und das Militär. Die EU-Verfassung paßt jetzt endlich die Institutionen und Entscheidungsverfahren dieser Entwicklung an.
Die Verfassung schafft keinen europäischen Bundesstaat. Der Konvent konnte und wollte nicht den europäischen Nationalstaat des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachbilden und auf die europäische Ebene transponieren. Aus der Europäischen Union werden nicht die "Vereinigten Staaten von Europa" - auch nicht eine "Bundesrepublik Europa". Die Mitgliedstaaten der Union werden immer mehr sein als nur "Bundesländer" einer Bundesrepublik Europa.
Gewiß: Die Verfassung vergrößert und arrondiert die vergemeinschafteten, also föderalen, Bereiche der Union. [Dazu gehören der gesamte Binnenmarkt, die gemeinsame Währung und der Außenhandel sowie künftig auch Teile des Straf- und Zivilrechts. Und was ist föderaler als europäische Gesetze, die mit Mehrheit beschlossen werden und auch in den Staaten gelten, deren Vertreter ihnen nicht zugestimmt haben?] Aber in der verfaßten Union wird es weiterhin und auf Dauer intergouvernementale, also konföderale, Bereiche geben. [Wie etwa die Außen- und Sicherheitspolitik und die Verteidigung oder die Wirtschafts- Beschäftigungs-- und Sozialpolitik.]
Die konföderalen Elemente sind nicht Abirrungen vom föderalen Ziel. Sie sind und bleiben grundlegende Verfassungselemente einer Staatenunion. Der vergemeinschaftete Bereich ist nicht die "eigentliche Union", die intergouvernementale Zusammenarbeit nicht der Ausdruck "nationaler Egoismen" oder "gouvernementalen Eigensinns". Die Verantwortung für die Politik der Union liegt nicht nur bei den Institutionen in Brüssel - sie liegt auch bei den Regierungen und den Parlamenten in den Hauptstädten Europas. Daran muß sich die eine oder andere und das eine oder andere noch gewöhnen.
Das bisherige Vertragsziel, eine immer engere Union zu schaffen, kommt in der EU-Verfassung nicht mehr vor. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, daß die Union sich bundesstaatlichen Strukturen weiter annähert, aber eine weitere Integration ist jedenfalls kein Verfassungsauftrag mehr. So gesehen beschreibt die Verfassung sehr wohl die Finalität der europäischen Einigung - wenn auch nicht so, wie mancher, der danach gerufen hat, sie gern beschrieben hätte. Aber sie ist in der politischen Realität der größeren Union in der veränderten Welt des 21. Jahrhunderts angekommen.
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Die Verfassung stellt die künftige Union auf eine doppelte Legitimationsgrundlage. Sie ist eine Union der Staaten und der Bürger. Die Gleichwertigkeit dieser beiden Legitimationsstränge schafft ein Problem. Das Legitimationsproblem ist zugleich auch ein Machtproblem.
Rechtlich sind alle Staaten Europas gleich. Politisch sind sie es nicht. Sie waren es nie. Und sie werden es auch künftig nicht sein. Wo keine Gleichheit herrscht, muß Gleichgewicht hergestellt werden. Das ist ein Grundzug der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter.
Das alte Europa hat immer wieder versucht, dieses Gleichgewicht herzustellen: auf dem Feld der Diplomatie durch Achsen und Allianzen und auf den Schlachtfeldern durch Blut und Eisen. Das neue Europa der EU stellt das Gleichgewicht her durch die Partizipation aller Staaten in gemeinsamen Institutionen und eine als gerecht angesehene Gewichtung eines jeden in ihnen. Statt der alten "balance of powers" die neue "balance of institutions" und "balance of legitimations": Das ist das Schlüsselprinzip der Verfassung Europas.
In einer Union, in der alle Bürger gleich sind, wären es die Staaten nicht. Das würde einen der wichtigsten Grundsätze des Völkerrechts verletzen. In einer Union, in der alle Staaten gleich sind, können die Bürger nicht gleich sein. Das verletzt einen der wichtigsten Grundsätzen der Demokratie. In einer Union, die für alle Bürger unmittelbar verbindliches Recht setzt, ist das auf die Dauer nicht hinnehmbar.
In einer "Union der Bürger" würden die sechs großen, bevölkerungsstarken Staaten die 19 kleinen im Rat dominieren. Im Rat einer Union der Staaten hätten die 19 kleineren bzw. kleinsten Staaten gegenüber den sechs großen im Rat klar die Mehrheit, würden aber nur ein Viertel der Bevölkerung der gesamten EU repräsentieren.
In das neue "Gleichgewicht der Legitimationen" sind alle drei Entscheidungsorgane der Union - Parlament, Kommission und Rat - einbezogen. Allerdings auf unterschiedliche Weise:
Im Rat tritt das Prinzip der "doppelten Mehrheit" an die Stelle der bisherigen Gewichtung der Stimmen mit ihrer Benachteiligung der bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten und stellt ein gerechteres Verhältnis zwischen Bürgerunion und Staatenunion her. Die sechs großen können nicht die 19 kleinen Staaten dominieren. Und die 19 kleinen können die sechs großen Staaten nicht majorisieren. Und daß das Gewicht Deutschlands im Vergleich zu der bisher gültigen Gewichtung der Stimmen steigt, ist kein Zufall, sondern gewollt.
Im Europäischen Parlament behalten die Bürger der kleineren Mitgliedstaten ein größeres Gewicht als die Bürger der größeren. Allerdings wird die degressive Proportionalität bei der Zuordnung der Mandate künftig enger als bisher an die Bevölkerungszahl gebunden.
In der Kommission werden die beiden Legitimationsstränge dadurch in besonderer Weise verbunden, daß die Formel: "ein Kommissar pro Mitgliedstaat" ab 2014 aufgegeben und der Einfluß des Parlaments auf die Einsetzung der Kommission verstärkt wird.
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Für die Verfassung der Union konnte keine der nationalstaatlichen Verfassungen Modell stehen.
Die Institutionen der Union sind in ihren Zusammensetzungen, Kompetenzen und Beziehungen untereinander auf eine Union von demokratischen Staaten, nicht auf einen Bundesstaat zugeschnitten. Deshalb sind die europäischen Institutionen nicht mißlungene Klone der nationalstaatlichen.
Das Europäische Parlament ist nicht "auf dem Wege", ein "richtiges" Parlament (gemeint ist "wie die nationalen Parlamente") zu werden. Es verkörpert nur den einen Legitimationsstrang der Union. Die Vertretung der Bürger ist notwendigerweise stark verzerrt. Deshalb kann und darf es kein allein- und alles-entscheidendes Parlament werden. Es muß ein mitentscheidendes bleiben.
Die EU-Kommission ist nicht unterwegs zu einer EU-"Regierung". Sie spielt zwar als Exekutive mit Initiativmonopol längst auch eine immer stärker politische Rolle, aber als "Hüterin der Verträge" und in ihrer multinationalen Zusammensetzung kann sie nicht Ausdruck einer parlamentarischen "Regierungsmehrheit" sein.
Der Ministerrat wird nicht zur ersten (oder zweiten) "Kammer". Er bleibt ein Legislativorgan, das aus Vertretern der nationalen Exekutiven zusammengesetzt ist. Damit kompensiert er die Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU durch die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Rechtssetzung der Union.
Zu den unerläßlichen Kernelementen einer jeden Verfassung gehört die Aufteilung der Hoheitsgewalt. Über Abgrenzungen kann man streiten. Aber keine bundesstaatliche Verfassung in der Welt weist so genau abgegrenzte Kompetenzen auf wie die Verfassung der Union (Manfred Zuleeg).
Die Verfassung arrondiert und konsolidiert die Kompetenzen der Union. Bund und Länder können und müssen sich darauf einrichten, daß es für längere Zeit weder eine Übertragung weiterer Kompetenzen auf die EU, noch eine Rückübertragung auf die Mitgliedstaaten geben wird. Es geht darum, bei der gemeinschaftlicheren und effizienteren Nutzung der nach Brüssel übertragenen Kompetenzen die gesamtstaatlichen Interessen stärker und zielgerichteter zur Geltung zu bringen.
Das Grundgesetz erlaubt die Übertragung von Hoheitsrechten nur auf eine Europäische Union, die "föderalistischen Grundsätzen" verpflichtet ist. Nun taucht das Wort "Föderation" oder auch nur "föderal" in der Verfassung aber gar nicht auf. Das hat Gründe.
"Föderalismus" ist einer der am häufigsten verwendeten und zugleich mißverständlichsten Begriffe in der europäischen Politik. Die Briten haben die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika im historischen Gepäck. Für sie bedeutet "Föderalismus" die Übertragung von einzelstaatlichen Befugnissen an ein "federal government", kurz: die Stärkung einer Zentrale und die Schaffung einer neuen Staatlichkeit. Im Deutschen hat "Föderalismus" historisch eine andere Bedeutung bekommen: Abwehr von Zentralismus und Verpflichtung zur Subsidiarität.
Der Begriff "Föderalismus" steht der europäischen Einigung eher im Wege. Wer ihn hervorholt muß wissen, daß er nicht nur die Anhänger, sondern auch die Gegner der europäischen Einigung mobilisiert. Er eint nicht, er spaltet. Das Föderale ist für Europa "zwar unerläßlich, aber zugleich unaussprechlich" hat Bundespräsident Herzog vor dem Europäischen Parlament einmal gesagt. Um das "F-word" zu vermeiden, hat der Konvent sich schließlich mit "gemeinschaftlich" zufrieden gegeben.
Europa schreibt Deutschland nicht vor, wie es seine innere Ordnung gestaltet. Die Verfassung verpflichtet die Union ausdrücklich, die innere staatliche Ordnung ihrer Mitgliedstaaten zu achten. Aber Vertragspartner und damit konstitutives Element der Union sind und bleiben die Nationalstaaten, gleich ob zentral, dezentral oder föderal gegliedert, nicht ihre Regionen oder ihre Gliedstaaten.
Aktive Politikgestaltung für Deutschland hängt immer stärker von der Handlungsfähigkeit Deutschlands in Europa ab. Mit dem (hoffentlich nur vorläufigen) Scheitern der Föderalismus-Reform in Deutschland ist auch der Versuch gescheitert, den deutschen Föderalismus "europatauglich" zu machen. Die bislang gültige Beteiligung der Länder in den Beratungs- und Beschlußverfahren auf EU-Ebene schafft Abstimmungsprobleme, die sich zu denen zwischen den Bundes-Ressorts unvermeidlich hinzuaddieren. Die Folge: Bei unseren Partnern am Ratstisch gelten wir als zu reaktiv und zu wenig flexibel. Unter Eingeweihten im Rat wird Stimmenthaltung "the german vote" genannt.
Die künftige EU-Verfassung macht die Reform des deutschen Föderalismus noch nötiger als bisher. Fast die gesamte EU-Gesetzgebung wird künftig mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Mehrheiten müssen gewonnen werden. Das kann nur gelingen, wenn Deutschland bereits am Anfang und nicht erst am Ende eines Gesetzgebungsprozesses verhandlungsfähig ist. Deshalb muß der deutsche Föderalismus europatauglich gemacht werden.
Die Reform des Monsterartikels 23 im Grundgesetz hat in der Föderalismuskommission einen Leidensweg genommen. Ich will ihn hier nicht nachzeichnen. Und schon gar nicht will ich das Null-Ergebnis dieser Kommission kommentieren. Ich weiß auch, daß längst nicht alle Probleme, die Deutschland mit europäischen Entscheidungen hat, Ausfluß der deutschen Föderalismusprobleme sind. Aber wir brauchen einen neuen Anlauf zur Reform des Föderalismus in Deutschland auch aus europäischer Sicht. Dabei müssen auch die aus Artikel 23, 5 und 6 GG fließenden Mitwirkungsrechte der Länder noch einmal überprüft werden. Das gilt insbesondere für die künftige Rechtssetzung im Bereich des Kampfes gegen internationalen Terrorismus und Kriminalität.
Zwischen der Bewahrung oder gar Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten der Länder und der Handlungsfähigkeit des Bundes in der Europäischen Union gibt es ein natürliches Spannungsverhältnis. Das ist durch keine Föderalismusreform auflösbar. Aber der bisherige Bund/Länder-Mitwirkungsmix schwächt die Verhandlungs- und Entscheidungsfähigkeit Deutschlands im Gesetzgebungsprozeß der EU stärker als unvermeidlich.
Ich plädiere nicht dafür, die Länder aus den Brüsseler Entscheidungsprozessen auszuschließen. Wo sie nach unserer Verfassung allein zuständig sind, müssen sie mitentscheiden können. Aber müssen sie es wirklich auch überall dort, wo sie nur von 15 oder 20 Prozent einer Regelung betroffen sind? Der Bund - nicht die Länder - muß in Brüssel stärker werden.
Erstens: Wer die Handlungsfähigkeit des Bundes in Europa schmälert, gewinnt keineswegs größere Gestaltungsräume für die Länder.
Zweitens: Stärkere Länder in Deutschland heißt noch lange nicht stärkerer Einfluß Deutschlands in Europa.
Drittens: Der Mitwirkungsmix zwischen Bund und Ländern vergrößert nicht das Gewicht Deutschlands in Brüssel, sondern die Zahl der Länderbeamten in den EU-Gremien, Arbeitsgruppen und Zirkeln.
Viertens: Die Länder sollten nicht vergessen, daß der einzige Verbündete, den sie in Brüssel haben, der Bund ist.
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Mit der Verfassung wird die Europäische Union nicht neu erfunden. Vieles bleibt beim alten - und darunter gibt es nicht nur Bewährtes. Nicht alles wurde erreicht. Und nicht alles, was erreicht wurde, ist hundertprozentig gelungen. Die Verfassung ist ein Kompromiß - aber erstmals nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie ist eine kohärente, in sich stimmige Grundlage für eine Union ohne Vorbild in der Geschichte und sie gibt dieser Union das, was sie am dringendsten braucht: Mehr Handlungsfähigkeit, mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Führung.
Bisher war für Gesetzesbeschlüsse die Einstimmigkeit im Rat die Regel, die Mehrheitsentscheidung die Ausnahme. Künftig ist es umgekehrt: Der Rat kann über alle EU-Gesetze mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Einstimmigkeit bleibt auf wenige Ausnahmen beschränkt. Manche dieser Ausnahmen sind ärgerlich, aber unbedeutend. Eine ist wichtig und mehr als ärgerlich: Die Beibehaltung der Einstimmigkeit bei der Steuerharmonisierung.
Das Europäische Parlament wird zum EU-Gesetzgeber auf gleicher Stufe mit den Regierungen im Ministerrat. Bisher war die Alleinentscheidung des Rates die Regel - die Mitentscheidung des Parlaments die ausdrücklich genehmigte Ausnahme. Künftig wird es umgekehrt sein: Die Mitentscheidung des Parlaments die Regel, die Alleinentscheidung des Rats die Ausnahme. Das ist ein Quantensprung für die parlamentarische Demokratie der Union.
Mit der Neuordnung der Kompetenzen werden die Bürger künftig besser erkennen können, wo die Union allein entscheiden muß, wo sie nur mit den Mitgliedsstaaten gemeinsam handeln kann und wo die Union nichts zu sagen hat. Die Entscheidungsverfahren werden einfacher, zügiger und klarer. Statt 14 nur noch 4 verschiedene Entscheidungsverfahren. Künftig wird deutlicher als bisher, wer wann was mit welcher Berechtigung in Brüssel und Straßburg entscheidet.
Die Verfassung spricht deutlich aus, was bisher in den Verträgen versteckt oder durch Richterrecht längst zu europäischem Primärrecht geronnen ist: z.B. der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht. Auch das trägt zur Transparenz der Union bei.
Bisher bietet die EU den Bürgern wenig Identifikation, noch weniger Orientierung und kaum Verantwortlichkeit. Für viele Bürger, vielleicht für die Mehrheit, sind Institutionen abstrakt, gesichtslos, kalt. Sie orientieren sich an Personen. Mit ihnen verbinden sie Führung und Verantwortung. Europäische Politik wird sich künftig stärker personalisieren, Verantwortung wird sichtbarer. Die größere Union bekommt stärkere Führung.
Wie sieht es auf der höchsten Ebene heute aus? Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, zu dem ja immer auch die Außenminister gehören, besteht in der erweiterten Union aus 60 Personen. Das ist kein Gipfel, sondern allenfalls ein Hochplateau - und ein sehr flaches noch dazu. Und alle sechs Monate rotiert einer der Chefs in das Amt des Vorsitzenden. Ein solches Gremium ist zu Koordination und Führung nicht mehr fähig. Künftig werden die Staats- und Regierungschefs für jeweils 2 ½ Jahre einen hauptamtlichen Präsidenten wählen. Er wird die Politiken der Mitgliedstaaten koordinieren und die Union nach innen und außen auf der Ebene der Staatschefs repräsentieren.
Vor 40 Jahren gab es mal 9 Kommissare. Jetzt sind es 25. Für so viele gibt es zwar genügend Frühstück in Brüssel, aber nicht genügend Arbeit. Kein Unternehmen der Welt würde sich einen solchen Vorstand leisten. Schlimmer noch: Das Prinzip "ein Kommissar aus jedem Land" bedeutet in der Praxis "ein Kommissar für jedes Land". Nur eine kleinere Kommission ist auch eine stärkere Kommission. Die Verfassung begrenzt die Zahl der Kommissare von 2014 an auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten.
Der Präsident der EU-Kommission wird vom Europäischen Parlament gewählt und bestimmt die Richtlinien der Kommissionspolitik. Bisher war die Kommission nur der politische Hut auf der Brüsseler Administration. Künftig kann sie der Kopf sein.
Der Europäische Außenminister vertritt die Union nach außen und ist dafür zugleich Vorsitzender des Rates der Außenminister und Vizepräsident der EU-Kommission. Und er wird Chef eines EU-eigenen Auswärtigen Dienstes. Ob die als "Doppelhut" bezeichnete Kombination von Zuständigkeiten aus dem intergouvernementalen und aus dem vergemeinschafteten Bereich der Außenbeziehungen funktionsfähig ist, wird in hohem Maße von der Autorität, Arbeitsweise und Moderationsfähigkeit des ersten Inhabers dieses Amtes abhängen.
Die präsidiale Doppelspitze, Präsident des Europäischen Rates und Präsident der Kommission, ist ein sinnfälliger Ausdruck der bipolaren Natur der Union. Natürlich sind da Reibungsverluste nicht auszuschließen. Offen bleibt auch, ob dadurch die intergouvernementalen oder vergemeinschafteten Elemente der Union gestärkt werden.
Solange nicht wirklich starkes Unheil droht, müssen solche Dualismen nicht in einer Verfassung, sondern in der praktischen Politik ausgetragen werden. Der Verfassungsvertrag läßt gewollt größere Gestaltungsräume als die geltenden EU-Verträge. Wie sie genutzt werden, wird vor allem an den Personen liegen, die als erste diese Ämter innehaben.
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Die Union ist nicht nur eine Wirtschaft- und Währungsunion. Die Verfassung definiert sie auch als einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Unsere europäische Lebensweise beruht auf den grundlegenden Werten Freiheit, Recht, Demokratie, Toleranz. Wir Europäer haben nicht das Recht, anderen unsere Lebensweise aufzuzwingen, auch nicht unsere Form der Demokratie. Aber wir haben das Recht, unsere Lebensweise zu verteidigen.
Nicht bloß der 11. September in New York, sondern auch der 11. März in Madrid haben in der Verfassung ihre Spuren hinterlassen. Sie ermöglicht die gemeinsame Prävention und Bekämpfung des internationalen Terrorismus auf der Basis gemeinsamer, demokratisch beschlossener europäischer Gesetze. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Solidarität und - wenn er erbeten wird - auch zum militärischen Beistand. Die Union kann und wird künftig für Konfliktvorbeugung, Friedenssicherung, Krisenbewältigung und Wiederherstellung des Friedens operative Fähigkeiten entwickeln, die neben zivilen auch auf militärischen Mitteln beruhen.
Die Europäische Union ist keine Weltmacht. Aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir uns einzeln wegducken oder gemeinsam aufrecht stehen: Europa beeinflußt mit seinen 450 Millionen Menschen und ihrem ökonomischen und technologischen Potential Entwicklungschancen und Stabilität überall in der Welt. So, wie sie heute gebaut ist, kann die Union ihrer globalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie verbreitet Irritation, Unsicherheit und Instabilität in der Welt.
In der Zeit der Blöcke und des Kalten Krieges konnte sich Europa in den Windschatten der USA ducken. Das ist vorbei. Europa muß sich selbst behaupten. Die Union muß in ihre Rolle als Weltmacht hineinwachsen. Und diese Welt ist eine andere als am Beginn der Einigung Europas. Vor fünfzig Jahren waren Globalisierung, Terrorismus, Klimakatastrophen und Migrationsströme noch völlig unbekannte Stichworte. Heute bezeichnen sie Kernprobleme der europäischen Gesellschaft. Die nationalstaatliche Antwort auf die neuen globalen Herausforderungen ist die Weiterentwicklung der Einigung Europas.
In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik treten sich bislang fünf Leute gegenseitig auf die Füße: Ein Präsident des Europäischen Rats, ein Präsident der Kommission, eine sogenannte Troika der Außenminister, ein Hoher Beauftragter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ein für die Außenpolitik zuständiger Kommissar. So ist die Union außen- und sicherheitspolitisch nicht führbar und schon gar nicht in Krisensituationen. Weil alle Verantwortung tragen, fühlt sich keiner verantwortlich. Das Zaudern der Europäer auf dem Balkan vor zehn Jahren und die Spaltung der EU über die Beteilung am Krieg gegen den Irak vor zwei Jahren sind nur zwei besonders gravierende Beispiele.
Gewiß: Europa handelt schon gemeinsam und bringt dabei sein großes Gewicht zur Geltung. In der Welthandelsorganisation zum Beispiel. Auch im Kyoto-Prozeß beim weltweiten Klimaschutz. Aber in Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik sind sich die großen europäischen Staaten nicht einig. Einen mangelnden politischen Willen der Mitgliedstaaten zur Gemeinsamkeit kann die Verfassung nicht ersetzen. Auch ein Europäischer Außenminister macht allein noch keine Gemeinsamkeit. Ich mache mir da keine Illusionen. Aber er kann zumindest dafür sorgen, daß Gemeinsamkeit zustande kommt und zwar schneller als bisher.
Gewiß: In den wichtigsten Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik werden die Regierungen weiterhin einstimmig entscheiden müssen - und in der Verteidigung sowieso. Das ist ein Mangel. Aber das muß nicht Handlungsunfähigkeit bedeuten. Das zeigen das Auftreten der Union in Afrika und in Palästina und die ALTHEA-Militärmission in Bosnien und Herzegowina. Gemeinsamkeit kann man nicht per Mehrheitsbeschluß "durchsetzen". Sie "entsteht". Dafür braucht Europa Zeit. Aber die steht nicht unbegrenzt zur Verfügung.
Eine neue Weltordnung bildet sich heraus. Heute - nicht erst in zehn Jahren. Heute entscheidet sich, ob Europa Spielmaterial für andere Mächte auf der Erde oder ob es Mitspieler wird. Wirtschaftlich spielt Europa in der Welt-Liga - noch! Politisch sind wir Regionalliga. Wenn wir Europäer uns jetzt nicht aufmachen, treten wir aus der Weltgeschichte aus. Zuerst politisch, dann aber unweigerlich auch wirtschaftlich. Ein solches Europa dürfen wir unseren Kindern und Enkeln nicht überlassen. Die Einheit Europas ist unsere Antwort auf die Globalisierung.
Vierzig Jahre lang war die Einigung Europas nach innen gerichtet auf immer engere Integration und immer mehr Mitgliedstaaten. Die neuen Herausforderungen sind nicht mehr europäische, sondern weltweite: fortschreitende Globalisierung von Wirtschafts- und Finanzströmen, Klimaveränderung, Terrorismus. Künftig muß die Einigung Europas nach außen gerichtet sein. Das ist ein Paradigmenwechsel der europäischen Einigung.
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Fördert die Verfassung die Bildung einer europäischen Identität? Vom Text her gewiß nicht - und nicht nur, weil er natürlich die Kürze, Stringenz und sprachliche Wucht der amerikanischen Verfassung bei weitem nicht erreicht. Im übrigen gibt es in Europa so etwas wie einen "Verfassungspatriotismus" nur in Deutschland - und im Vereinigten Königreich so etwas wie einen Patriotismus der "Nichtverfassung".
Die Verfassung gibt der EU einen Leitspruch: "In Vielfalt geeint" (Artikel I-8). Das ist nicht nur so dahin gesagt. Es bedeutet: Europa findet seine Identität in der Einheit, nicht in der Einheitlichkeit. Die Europäische Union löst die europäischen Völker nicht auf. Sie macht aus ihnen kein europäisches Volk. Sie vereinigt sie, aber sie verschmilzt sie nicht. Die Europäer bleiben in lokalen, regionalen und nationalen Bezügen zu Hause. Europäische Identität wird kein Ersatz für lokale, regionale und nationale Identität sein. Sie bleibt immer nur ein Zusatz - aber ein notwendiger Zusatz.
Anders als für einen Staat sind für die Union nicht Staatsvolk und Staatsgebiet konstitutiv, sondern "gemeinsame Werte und gemeinsame Ziele". Ohne sie kann die Union nicht existieren.
Ihr bleibt ein latenter Begründungszwang inhärent.
Die europäische Charta der Grundrechte drückt aus, daß die Union nicht nur zur Sicherung der Freiheiten des Marktes, sondern auch um der Freiheitsrechte der europäischen Bürger willen besteht. Und die Verfassung verpflichtet die Union (Artikel I-3,4) zu "Frieden, Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung der Erde" beizutragen. Das zeigt an, daß die Union nicht nur um ihrer selbst willen existiert.
Wenn sich das eine wie das andere im Handeln der Union wiederfindet, wird daraus europäische Identität wachsen. Die bildet sich durch Erfolge und Mißerfolge gemeinsamen Handelns. Und sie wächst aus der Erkenntnis des "Andersseins" in Geschichte, Religion, Werthaltung, Kultur.
Identität läßt Neues zu, ist aber immer auch Abgrenzung. Gehört Kiew zu Europa? Gewiß. Sankt Petersburg aber nicht? Die ganze Ukraine, aber weniger als das halbe Rußland? Istanbul? Vielleicht. Aber Ankara und Dyabakir? Da sind Zweifel nicht nur erlaubt, sondern geboten. Und was ist mit Georgien? Und erst recht mit dem urchristlichen Armenien?
Europa hat Grenzen, nur kann niemand definitiv sagen, wo sie liegen. Sie verändern sich mit den Kriterien, nach denen man sie bestimmen will. Die geographischen Grenzen sind nicht die gleichen wie die historischen. Die historischen wiederum sind andere als die kulturellen. Die religiösen ihrerseits stimmen mit den wirtschaftlich-sozialen nicht überein usw. Diese Ungenauigkeiten sind geradezu ein Wesensmerkmal Europas. Weil das so ist, beantwortet die Verfassung die Frage nach den politischen Grenzen der Europäischen Union nicht. Sie bleiben das Ergebnis politischer Entscheidung.
Für die Mitgliedschaft in der Union nennt die Verfassung zwei Grundbedingungen: Es muß ein "europäischer Staat" sein. Und er muß "die Werte der Union achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen" sowie alle aus der Verfassung fließenden Rechte und Pflichten achten und erfüllen.
Im Dezember haben die Staats- und Regierungschefs den Beginn von Betrittsverhandlungen mit der Türkei für den Oktober 2005 beschlossen. Damit haben sie ihre 1999 und 2002 gegenüber der Türkei eingegangene Verpflichtung eingelöst. Und nun beginnt ein langer und quälender Prozeß. Die Verhandlungen werden dauern: Zehn Jahre, eher länger als weniger. Niemand kann heute sagen, welche Übergangsfristen, Sonderregelungen und Sicherheitsklauseln am Ende von der Türkei akzeptiert werden.
Bis 2015 ist noch ein langer Weg zu gehen. Niemand weiß, ob die Türkei überhaupt den Verzicht an nationalen Souveränitäten zu leisten bereit ist, den die Mitgliedschaft in der Union verlangt. Anders als bei allen bisherigen Beitrittsverhandlungen steht der Beitritt nicht fest. Beitritt, "Privilegierte Partnerschaft", Scheitern - alles bleibt möglich.
Eines ist klar: Es darf nicht nur um die Beitrittsfähigkeit der Türkei gehen. Es muß auch um die Aufnahmefähigkeit der EU gehen. Wenn die Aufnahme der Türkei mit der Erodierung der EU zur bloßen Zollunion oder gar mit der Auflösung der EU bezahlt würde, wäre der Preis zu hoch - für Europa, aber auch für die Türkei.
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Es ist ungerecht und unhistorisch, die EU-Verfassung an den national-staatlichen Verfassungen in Europa oder gar an der amerikanischen zu messen. Die Amerikaner konnten vor mehr als 200 Jahren neu anfangen - die Europäer haben es mit jahrhundertealten Nationen und Staaten zu tun.
Die europäische Verfassung muß dazu taugen, dem Zusammenschluß von 25 und mehr Staaten und Völkern, die jahrhundertelang mit Raub und Mord und Krieg und Verwüstung übereinander hergefallen sind, eine feste Grundlage zu geben. Das ist ohne Beispiel in der Geschichte. 25 und mehr Völker mit je eigener Identität, die durch Geographie und Geschichte unterschiedlich geprägt ist, die ihre Sprachen und Kulturen bewahren wollen, verbinden ihr politisches Schicksal miteinander. Das erfordert den politischen Mut zu neuen staats- und völkerrechtlichen Konstruktionen - und es erfordert ein festes Vertrauen in die Zukunft unseres alten Kontinents.
Wir stehen vor der gleichen Herausforderung wie die Väter der Einigung Europas vor 50 Jahren. Die Politikergeneration der fünfziger Jahre, die Adenauer, Schuman, de Gasperi, Spaak, Monnet u.a., hatte den Mut und die Weitsicht, den tausend Jahre alten Antagonismus zwischen Deutschland und Frankreich in einer Europäischen Gemeinschaft aufzuheben und die Einigung Europas im Westen zu beginnen.
Die heutige Politikergeneration - wir - hat zum ersten Mal seit tausend Jahren die Chance, ganz Europa auf der Grundlage der Freiwilligkeit, des Friedens und der Solidarität zu vereinigen. Dafür müssen wir den gleichen Mut und die gleiche Weitsicht aufbringen wie die Gründerväter vor fünfzig Jahren. Daran wird die Geschichte uns messen - nicht nur die Politiker, auch die Völker Europas.Der EU-Beitritt der Türkei - Europäische Skepsis und europäische Erwartungen (7.12.2004)
von KLAUS HÄNSCH, MdEP; erschienen in: Politikerscreen 7.12.2004
Auf dem Weg zur Erfüllung der politischen Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hat die Türkei in den letzten beiden Jahren substantielle Fortschritte gemacht. Die EU-Staats- und Regierungschefs werden am 17. Dezember den Beginn der Verhandlungen für 2005 beschließen. Ein ideeller Nachfahre de Gaulles ist nicht in Sicht. Die Chefs werden einstimmig handeln. Schließlich sind sie 2002 einstimmig eine internationale Verpflichtung eingegangen. Sie müssen sie einlösen. Um der Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei und ihrer eigenen internationalen Glaubwürdigkeit willen.Nach Vertrags- und Beschlußlage müssen die Verhandlungen mit dem Ziel geführt werden, den Beitritt zu ermöglichen. Ob am Ende des Weges die Vollmitgliedschaft, eine privilegierte Partnerschaft oder ein anderes Sonderverhältnis in beiderseitigem Interesse zustande kommt, werden wir frühestens in zehn Jahren wissen. Daß die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, ist nicht garantiert. Sie können scheitern.
Wenn es heißt, für eine Vollmitgliedschaft in der EU sei die Türkei zu arm, zu groß, zu fremd, ist manches übertrieben oder nur Ausrede. Die mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei verbundenen ökonomischen, finanziellen und migrationspolitischen Probleme sind gewichtig, aber beherrschbar - jedenfalls nicht weniger als die mit der Osterweiterung verbundenen. Allerdings wird das sehr viel Zeit brauchen.
Die Wirtschaftsleistung der Türkei macht heute nur zwei Prozent der EU-25 aus. Mit einem Wirtschaftswachstum von fünf Prozent jährlich wird sie 2015 bei drei Prozent angekommen sein. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei liegt bei 27 Prozent des EU-25 Durchschnitts und damit noch hinter Rumänien. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie wenigstens zu den wirtschaftlich schwächeren EU-Mitgliedern aufgeschlossen hat. Aber die Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustellen, ist ohnehin kein Vertragsziel der Europäischen Union.
Nach dem heutigen Stand der Regeln würde die Türkei von 2015 ein Anrecht auf jährlich etwa 15 Milliarden Euro an EU-Subventionen haben. Daß sie mit solchen Summen auch nicht im entferntesten rechnen kann, liegt auf der Hand. Worauf sie sich einstellen muß, hängt vom Fortgang der Reformen in der Agrarpolitik, in der Strukturpolitik und der Kohäsionspolitik der EU ab - und natürlich vom Ergebnis der Beitrittsverhandlungen. Enttäuschungen sind vorprogrammiert.
Das Migrationpotential wird (konservativ) auf ca. 3 Millionen Menschen (bis 2030) geschätzt. Mit Sicherheit werden die Beitrittsverhandlungen nicht abgeschlossen, ohne daß für die volle Herstellung der Freizügigkeit nach dem Beitritt längere Übergangsfristen festgelegt werden. Vor 2025 sollte niemand mit Freizügigkeit rechnen und auch danach wird sie wahrscheinlich konditioniert bleiben. Da wird dann von Diskriminierung und Mitgliedschaft zweiter Klasse die Rede sein.
Die Union ist kein „Club", wie türkische Politiker gerne formulieren, sondern eine Rechtssetzungsgemeinschaft. Ihre Gesetze gelten auch in dem Mitgliedstaat, dessen Vertreter im Rat oder im Europäischen Parlament diesen nicht zugestimmt haben. Die Türkei muß den gesamten Rechtsbestand der EU übernehmen und in Verwaltung und Gerichtsbarkeit auch durchsetzen - zu hundert Prozent. Das war bei den bisherigen Beitritten nicht verhandelbar. Auch der Türkei wird da kein Rabatt gewährt werden. Mitgliedschaft heißt Abgabe von Souveränitätsrechten, heißt ständige Einmischung in innere Angelegenheiten. Kritik von außen ist kein Anschlag auf die nationale Würde. Noch haben das Politik und Medien in der Türkei nicht verstanden.
Das Verhandlungsergebnis muß in allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Auch das Europäische Parlament muß ihm zugestimmt haben. Und, das sollten wir nicht übersehen, es muß schließlich auch von der Türkei selbst ratifiziert werden. Über die Mehrheiten im Europäischen Parlament und in den Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten des Jahres 2015 wage ich keine Prognose - über die politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei schon gar nicht.
Zum ersten Mal in der Geschichte der EU wird die Aufnahme eines weiteren Staates zumindest in einigen Mitgliedstaaten von großen Teilen der öffentlichen Meinung abgelehnt. Das wird sich im Laufe der Verhandlungen nicht abbauen, sondern verstärken. Die Akzeptanz des Beitritts wird auch dadurch verringert, daß ein großer Teil der türkischen Migranten den einheimischen Mitbürgern ein Bild der Integrationsunwilligkeit vermittelt. Dabei seien die deutschen Versäumnisse auf diesem Feld nicht verschwiegen.
Zweifellos ist ein großer Teil der Eliten längst im Westen angekommen, aber ein großer Teil der Massen verharrt noch im Orient. Wissen die zwei Drittel der Türken, die heute für den Beitritt zur EU sind, worauf sie sich einlassen? Es geht beim Beitritt der Türkei nicht um die Koexistenz von verschiedenen Religionen oder Lebensstilen in Europa - die haben wir -, sondern um die Integration der türkischen in die europäische Gesellschaft. Ob das gelingen kann ist zweifelhaft. Schließlich tritt nicht die halbe (europäisch orientierte) Türkei der EU bei, sondern die ganze.
Die Türkei hat ein islamisches Erbe und der Rest Europas ein christliches. Wir sollten das weder hier noch dort wegrelativieren. Das eine wie das andere wirkt fort. Antike Philosophie und Aufklärung hat die Türkei mit der kemalistischen Revolution nicht einfach „nachgeholt". Zwar ist sie ein laizistisches Gebilde und die EU ist es auch, aber die EU-Gesetzgebung reicht, zum Beispiel durch Diskriminierungsverbote, Gleichstellungsgebote, Stellung von Religionsgemeinschaften, Rechte der Frauen, Homosexualität, Rechtsverständnis, Geschäftsgebaren usw. direkt oder indirekt tief in islamische Wertvorstellungen hinein.
Natürlich gibt es geostrategische Interessen an einer westlich orientierten, politisch stabilen Türkei. Die USA haben sie und drängen seit mehr als zehn Jahren massiv darauf - in Unkenntnis des Charakters der Einigung Europas. Auch die EU hat ein Interesse - nicht nur, aber auch im Blick auf die Versorgungswege für Öl und Gas im Dreieck Mittlerer Osten, Kaspisches Meer und Rußland. Daß diese Interessen die EU-Mitgliedschaft der Türkei erfordern, ist möglich, aber nicht zwingend.
Für Joschka Fischer ist der Beitritt der Türkei Teil eines globalen Konzepts zur Bekämpfung des Terrorismus. Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen setze die EU „ein Zeichen", daß „der Westen sich nicht abschottet", sich „nicht gegen das Modell einer islamischen Demokratie" verschließt. Recep Tayyip Erdogan glaubt gar, daß „der Prozess des Zusammenstoßes der Kulturen umgedreht" werde. Europäische Integration als geostrategisches Konzept ist ein Paradigmenwechsel der Einigung Europas. Wer Europa zum "Raum" definiert, gibt den Anspruch auf, weltweit handlungsfähig zu werden.
Was da als großes strategisches Design daher kommt, überschätzt nicht nur die europäischen, sondern auch die türkischen Möglichkeiten. Daß die laizistische Türkei, als integriertes Mitglied der Europäischen Union noch stärker "verwestlicht" als heute, der arabisch-islamischen Welt als Vorbild dienen wird, ist mehr als zweifelhaft. Eher wird das Gegenteil eintreten. Eines jedenfalls kann die Türkei als Mitgliedstaat der EU mit Sicherheit nicht sein: Brücke in den Nahen Osten. Sie muß ein Pfeiler des Westens im Nahen Osten sein. Als EU-Mitglied wird sie Partei, nicht Mittler sein müssen.
Die Aufnahme der Türkei darf nicht zur „Entgrenzung" der EU führen. Dabei geht es nur vordergründig darum, ob eine Union, die „Ja" zur Türkei sagt, zur Ukraine, zu Georgien, Armenien u.a. „Nein" sagen kann. Immerhin hat die Türkei seit 1964, was kein anderer Staat östlich Polens und Rumäniens oder südlich des Mittelmeers hat und haben wird: eine verbriefte Beitrittsperspektive. Tatsächlich geht es um die innere Kohärenz der Union als Solidargemeinschaft. Die hat unbestreitbar Grenzen. Wenn die Mitgliedschaft der Türkei mit der Erosion der Union bezahlt würde, wäre das ein zu hoher Preis - übrigens nicht nur für die Union, sondern auch für die Türkei. Er darf nicht gezahlt werden.
Am Ende geht es eben nicht um eine Antwort auf die Frage, ob die Türkei „zu Europa gehört", sondern ob die Europäische Union größer werden kann, ohne sich aufzulösen. Der Europäische Rat muss am 17. Dezember mit seinem Beschluß unmißverständlich festlegen, daß die „Aufnahmefähigkeit der Union" und "die Stoßkraft der europäischen Integration" die letztentscheidenden Kriterien sind.Zum Beginn der Verhandlungen mit der Türkei über einen Beitritt zur EU (14.10.2004)
Die EU hat ein lebenswichtiges Interesse an einer politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich stabilen Türkei. Die Reformen in der Türkei sind so weit gediehen, dass dieses Land zwar noch nicht beitrittsfähig aber verhandlungsfähig ist. Im Dezember werden die Regierungen der EU den Beginn der Verhandlungen beschließen. Darauf haben sie sich bereits 1999 und 2002 gegenüber der Türkei festgelegt. Tun sie es nicht, beschädigen sie nicht nur den Reformprozeß in der Türkei, sondern auch ihre eigene internationale Glaubwürdigkeit. Beides hätte unkalkulierbare Folgen.
Ich stehe der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im nächsten Jahr nicht entgegen. Die Staats- und Regierungschefs sind internationale Verpflichtungen eingegangen. Die müssen sie einhalten. Aber Ergebnis und Zeitraum der Verhandlungen müssen offen bleiben. Sie werden sehr schwierig sein und sehr lange dauern. Und sie können scheitern.
Der Beitritt der Türkei ist nicht wie die anderen. Zum ersten Mal wenden sich größere Teile der öffentlichen Meinung in der EU grundsätzlich gegen die Mitgliedschaft eines Beitrittslandes. Das wird zunehmen, wenn in den Verhandlungen, wie zu erwarten, konkrete Schwierigkeiten auftreten.
Manche Bedenken gegen die Türkei sind begründet, aber längst nicht alle.
Die EU ist keine christliche Organisation und die Türkei ist ein laizistischer, kein islamischer Staat. Beim Türkei-Beitritt geht es nicht darum, die Koexistenz von verschiedenen Religionen und Lebensstilen in Europa zu beweisen. Das haben wir längst mit Millionen Muslimen in der heutigen Union. Andere Probleme werden zum Teil durch Zeitablauf kleiner und zum Teil sind sie durch lange Übergangsfristen, Sonderlösungen oder Sicherungsklauseln lösbar, zum Beispiel für den freien Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt, oder für die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen. Die Türkei wird solche Regelungen für "Diskriminierung" halten -aber sie weiß jetzt immerhin, worauf sie sich einlassen muß.
Die Türkei muß ihren inneren Reformprozeß konsequent fortsetzen. Die Europäische Union ist kein "Club". Sie ist eine Rechtssetzungsgemeinschaft. Ihre Gesetze müssen im hintersten Winkel Ostanatoliens durchgesetzt werden und zwar auch dann, wenn die türkischen Vertreter im Ministerrat oder Europäischen Parlament überstimmt wurden. Die EU hat nicht nur ein Recht, ja sogar die Pflicht zur Einmischung in innere Angelegenheiten. Das wird in der Türkei häufig noch übersehen.
Aus politischen und aus vertragsrechtlichen Gründen kann nur über den Beitritt verhandelt werden. Demnach kann in 15 Jahren auch eine privilegierte Partnerschaft das Ergebnis sein - wenn beide Seiten es so wollen. Die Sache ist ja nicht von Frau Merkel erfunden worden. Am Ende geht es nicht nur um die Beitrittsfähigkeit der Türkei, sondern auch um die Aufnahmefähigkeit der EU. Das eine wie das andere kann erst beurteilt werden, wenn wir die EU und die Türkei des Jahres 2015 kennen.
Aus den Unionsparteien kommt nun die Behauptung, die Türkei werde sich wesentlich schneller in die EU hineindrücken. Sie sollten die Geschichte der EU-Erweiterungen studieren. Mit Portugal und Spanien wurde acht Jahre verhandelt, mit den osteuropäischen Staaten sieben Jahre. Zehn Jahre Verhandlungen mit der Türkei wären normal. Nicht die heutige sondern die Türkei des Jahres 2015 tritt der Union ein - wenn überhaupt.
Scheitern kann der Beitritt der Türkei an vielem: An der Türkei selbst, weil sie den Reformprozeß abbricht oder sich dem ständigen engen Monitoringprozeß nicht unterwirft. An den Aufnahmebedingungen, wenn sie zu viele und zu grundsätzliche Sonderregelungen vorsehen und die Türkei den unabweisbaren Verlust an nationaler Souveränität nicht akzeptiert. Schließlich an der Ratifizierung des Beitrittsvertrages: Niemand kann heute für die Mehrheiten in 15 Jahren im Europäischen Parlament und in den Mitgliedstaaten garantieren. Alles das sind Gründe genug, um mit der Türkeifrage gelassener umzugehen als die Unionspartien es tun. Heute wollen Stoiber und Co das Volk per Unterschriftenaktion befragen. Sie wollen die rot-grüne Koalition weichkochen. Nehmen wir das Feuer unter den Kesseln weg.
Der EU-Beitritt der Türkei - Europäische Skepsis und europäische Erwartungen (28.8.2004)
redigierte und erweiterte Fassung eines am 28. August 2004 in Schloss Neuhardenberg gehaltenen Vortrags von Klaus Hänsch
I
Jeder weiß, daß Europa Grenzen hat, aber keiner weiß wo. Das geographische Europa hat andere als das historische, das historische andere als das kulturelle, das kulturelle andere als das geographische. Und alle sind sie verschieden von denen des politischen Europa. Zu den Wesensmerkmalen Europas gehört das Ungenaue und Unbegrenzte.Mit "Europa" wurde schon immer nur ein Teil seiner Geographie, seiner Völker, seiner Kultur bezeichnet - und ein wechselnder dazu. Ein halbes Jahrhundert lang war der eiserne Vorhang von Lübeck nach Triest eine besonders undurchlässige, aber nicht die erste und nicht die dauerhafteste Grenze zwischen dem einen und einem anderen Europa. Es gab sie auch zur russischen Orthodoxie, zum osmanischen wie zum maurischen Teil Europas, zu Ostrom. Es gab den Limes zwischen römischer "Zivilisation" und germanischer "Barbarei". Und schon immer nahm sich ein Teil für das Ganze. Zu Europa gehören Offenheit und Vielfalt, aber auch Abgrenzung und Abwehr.
Wenn es darum geht, die Grenzen der Europäischen Union zu bestimmen, spielen Geographie und Kultur, Ökonomie und Geschichte eine Rolle aber gezogen werden sie durch politische Entscheidung. Sie darf nicht nur von der Beitrittsfähigkeit des Kandidatenlandes abhängen. Sie muß sich auch an der Aufnahmefähigkeit der Union orientieren. Daß die Europäische Union diesen Grundsatz in ihren bisherigen Beschlüssen zum Beitritt der Türkei ausgeblendet hat, ist ein kollektiver Grundfehler.
Ende 2004 werden die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten darüber entscheiden, ob die Türkei die politischen Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt. Halten sie das für gegeben, wollen sie die Verhandlungen „ohne Verzug" beginnen lassen.. Eine formelle Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente sehen in dieser Phase weder die EU-Verträge noch die nationalen Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten vor.
Die Entscheidung hat eine längere Vorgeschichte. Dabei geht es kaum noch um die Einlösung der 1964 im Assoziierungsvertrag zwischen EWG und Türkei gegebenen Beitrittsperspektive. Die jüngere Vergangenheit ist eindeutiger und verpflichtender. Im Dezember 1999 und im Dezember 2002 haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen:
1. Die Türkei ist ein Beitrittskandidat, also ein europäischer Staat.
2. Die Türkei erfüllt, gemessen an den Kopenhagener Kriterien, die politischen Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen noch nicht.
3. Die EU-Kommission legt bis Ende 2004 einen Bericht über den Stand der Erfüllung dieser Voraussetzungen vor und gibt eine Empfehlung zum Beginn der Beitrittsverhandlungen.
4. Auf der Grundlage des Berichts entscheidet der Europäische Rat, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, und beschließt, die Beitrittsverhandlungen „unverzüglich" aufzunehmen.
Damit haben die EU-Staats- und Regierungschefs, erstens, die Türkei unter Zugzwang gesetzt: Nach 16 Jahren der Untätigkeit, der Reformresistenz und des politischen Scheiterns hat die Türkei unter der Regierung Erdogan erstmals ernsthafte, substantielle und nachprüfbare Reformschritte mit dem Ziel unternommen, die politischen Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit stabilen Institutionen; Beachtung der Menschenrechte und Garantien für Minderheiten; marktwirtschaftliche Strukturen, die mittelfristig dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standhalten können; die Fähigkeit zur Übernahme des „acquis communautaire"; und die Bereitschaft und Fähigkeit, sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen.
Die EU-Regierungschefs haben, zweitens, nach mehr als zehn Jahren der Unentschiedenheit, des Zögerns und des Hinhaltens auch sich selbst unter Zugzwang gesetzt. Einige der Chefs mögen genau diesen Zugzwang beabsichtigt haben. Andere mögen nicht gewusst haben, was sie tun. Und wieder andere mögen sich darauf verlassen haben, daß die Türkei die Grundbedingungen für eine Vollmitgliedschaft niemals oder wenigstens nicht so bald erfüllen werde. Das spielt alles keine Rolle mehr. Sie sind einstimmig eine internationale Verpflichtung eingegangen. Sie müssen sie einlösen. Um der Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei willen - und ihrer eigenen internationalen Glaubwürdigkeit.
Der Bericht der EU-Kommission wird konstatieren, daß die Türkei auf dem Weg zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien deutliche substantielle Fortschritte gemacht hat. Er wird auch eine Reihe von weiterhin bestehenden Defiziten benennen, sie aber als nicht schwerwiegend oder „auf dem Wege zur Behebung" bewerten. Die Kommission wird mit einem gewundenen „Ja" die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen. Das Europäische Parlament wird noch ein paar Windungen hinzufügen, sich aber nicht entgegenstellen.
Im Dezember werden die Staat- und Regierungschefs beschließen, daß die politischen Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt sind. Entsprechend dem Beschluß von 2002 werden sie "ohne Verzug" beginnen, also in der ersten Hälfte 2005. Die Chefs werden einstimmig handeln. Ein ideeller Nachfahre de Gaulles ist nicht in Sicht.
Nach Vertrags- und Beschlußlage muß über den Beitritt verhandelt werden, nicht über eine privilegierte Partnerschaft. Sie geht auch nicht mehr um das „ob", sondern um das „wie" und „wann" des Beitritts. Daß die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, ist zwar nicht garantiert. Sie können scheitern. Aber sie müssen mit dem Ziel geführt werden, den Beitritt zu ermöglichen. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite muß die Türkei sich darüber im Klaren sein, daß sie nicht einem „Club" beitritt, wie es ihre Politiker bis hinauf zum Regierungschef gerne formulieren. Sie tritt einer Rechtssetzungsgemeinschaft bei, deren Gesetze in jedem Mitgliedstaat gelten und, noch wichtiger, von ihm auch dann durchgesetzt werden müssen, wenn seine Vertreter im Ministerrat oder seine Abgeordneten im Europäischen Parlament ihnen nicht zugestimmt haben. Mitgliedschaft heißt Abgabe von Souveränitätsrechten an die EU. Mitgliedschaft heißt auch, in Kritik von außen nicht ständig eine Einmischung in innere Angelegenheiten und als Anschlag auf die nationale Würde zu sehen.
Es handelt sich um einen Beitritt, nicht um einen Zusammenschluß. Die Türkei muß den gesamten Rechtsbestand der EU übernehmen - zu hundert Prozent. Das war bei den bisherigen Beitritten nicht verhandelbar, auch der Türkei wird da kein Rabatt gewährt werden. Im Laufe des Verhandlungsprozesses wird in allen EU-relevanten Politikbereichen geprüft, wieweit die Türkei diesen „acquis" bereits übernommen hat und, wo das bis zum Beitritt noch nicht möglich ist, ob realistische Aussicht besteht, daß sie ihn innerhalb einer nicht zu langen Frist nach dem Beitritt in türkisches Recht umzusetzen und in Verwaltung sowie Gerichtsbarkeit auch durchsetzen kann. Zur Debatte stehen also Übergangsfristen und Übergangsmodalitäten für die Türkei. Aber auch die EU wird für die Erfüllung ihrer eigenen Verpflichtungen solche Fristen und Modalitäten aushandeln wollen. Das Ganze wird dauern. Acht bis zehn Jahre wären normal.
Das Verhandlungsergebnis muß in allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Auch das Europäische Parlament muß ihm zugestimmt haben. Und, das sollten wir nicht übersehen, es muß schließlich auch von der Türkei selbst ratifiziert werden. Über die Mehrheiten im Europäischen Parlament und in den Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten des Jahres 2015 wage ich keine Prognose - über die politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei schon gar nicht. Ob am Ende des Weges die Vollmitgliedschaft, eine privilegierte Partnerschaft oder in ein anderes Sonderverhältnis in beiderseitigem Interesse zustandekommt, werden wir erst in zehn Jahren wissen.
II
Der Beitritt der Türkei zur EU ist kein Beitritt wie jeder andere: Die Bedenken, die in der EU gegen ihn vorgebracht werden, sind größer und grundsätzlicher als bei allen bisherigen EU-Erweiterungen. Wenn es aber heißt, für eine Vollmitgliedschaft in der EU sei die Türkei zu arm, zu groß, zu fremd, ist manches übertrieben oder nur Ausrede.
Zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Türkei und der EU gibt es eine tiefe Kluft. Sie sei nicht überbrückbar wird befürchtet und sie werde die innere Solidarität der EU aushöhlen. Die Wirtschaftsleistung der Türkei macht heute nur 2 Prozent der 25-EU aus. Mit einem fünfprozentigen Wirtschaftswachstum jährlich wird sie 2015 bei 3 Prozent angekommen sein. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei liegt bei 27 Prozent des EU-25 Durchschnitts. Damit rangiert sie noch hinter Rumänien. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie wenigstens zu den wirtschaftlich schwächeren EU-Mitgliedern aufgeschlossen hat. Aber die Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustellen, ist ohnehin kein Vertragsziel der Europäischen Union.
Nach dem heutigem Stand der Regeln würde die Türkei von 2015 ein Anrecht auf etwa 15 Milliarden Euro an EU-Subventionen haben. Daß sie mit solchen Summen auch nicht im entferntesten rechnen kann, liegt auf der Hand. Womit sie rechnen kann, hängt vom Fortgang der Reformen in der Agrarpolitik, in der Strukturpolitik und der Kohäsionspolitik der EU ab - und natürlich vom Ergebnis der Beitrittsverhandlungen. Enttäuschungen sind vorprogrammiert.
Das Migrationpotential wird (konservativ) auf ca. 3 Millionen Menschen (bis 2030) geschätzt. Mit Sicherheit werden die Beitrittsverhandlungen nicht abgeschlossen, ohne daß für die volle Herstellung der Freizügigkeit nach dem Beitritt längere Übergangsfristen festgelegt werden. Vor 2025 sollte niemand mit Freizügigkeit rechnen und auch danach wird sie wahrscheinlich konditioniert bleiben. Da wird dann von Diskriminierung und Mitgliedschaft zweiter Klasse die Rede sein.
Insgesamt sind die mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei verbundenen ökonomischen, finanziellen und migrationspolitischen Probleme gewichtig. Aber sie sind beherrschbar - jedenfalls nicht weniger als die mit der Osterweiterung verbundenen.
Die Bevölkerungszahl der Türkei wird 2015 etwa der Deutschlands gleich sein. Wenige Jahre später wird die Türkei der bevölkerungsstärkste Mitgliedstaat der EU sein. Das ist zwar politisch von Belang, aber kein grundsätzliches Beitrittshindernis. Natürlich sinkt mit dem Beitritt der Türkei das relative Gewicht jedes der „alten" Mitgliedstaaten. Aber das ist bei jeder Erweiterung der Fall und wurde bisher immer, wenn auch hier und da nur murrend, akzeptiert und verkraftet. Das wird auch mit der Türkei so sein. Wo künftig noch Einstimmigkeit notwendig ist, kommt es auf die Größe ohnehin nicht an. Und wo mit qualifizierter oder einfacher Mehrheit entschieden werden kann, braucht auch das größte Mitgliedsland immer mehrere Verbündete.
Stehen der Islam, die Religion, die Kultur, die Geschichte der Türkei einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union entgegen? Für viele Stimmen in der öffentlichen Debatte sind das entscheidende Punkte.
Wahr ist: Die Türkei hat ein islamisches Erbe und der Rest Europas ein christliches. Und das eine wie das andere wirkt fort. Wir sollten das weder hier noch dort wegrelativieren. Mehr noch: Auch hat die Türkei mit der kemalistischen Revolution nicht einfach antike Philosophie und Aufklärung „nachgeholt". Und während ein großer Teil der Eliten längst im Westen angekommen ist, verharrt ein großer Teil der Massen noch im Orient.
Aber wahr ist auch: Die Türkei ist ein laizistisches Gebilde und die EU ist es auch. Die EU-Gesetzgebung reicht zwar direkt oder indirekt durchaus tief in die Gestaltung der Zivilgesellschaft hinein, zum Beispiel durch Diskriminierungsverbote, Gleichstellungsgebote, Stellung von Religionsgemeinschaften, Rechte der Frauen, Homosexualität, Rechtsverständnis, Geschäftsgebaren usw. Einerseits wissen die EU-Befürworter in der Türkei, worauf sie sich einlassen. Die Rücknahme des Gesetzentwurfs über die Strafbarkeit des Ehebruches ist dafür ein Zeichen. Andererseits lassen das Harmonierungsverbot in kulturellen Angelegenheiten und das Subsidiaritätsprinzip in der EU einen weiten Rahmen für Eigenständigkeit.
III
Was den Beitritt der Türkei wirklich von allen bisherigen EU-Erweiterungen unterscheidet, führt in ganz andere Dimensionen. Und die übersteigen wirklich „Kleingeist" und "Ängste", die hinter manchen der Bedenken vermutet werden können.
Erstens: Bisher war immer nur das „wie" eines Beitritts, nie das „ob" Gegenstand nennenswerter politischer Kontroversen in den Mitgliedstaaten. (Von de Gaulles Ablehnung des britischen Beitritts zur EWG einmal abgesehen.) Im Falle der Türkei wird, zum ersten Mal in der Geschichte der EU, die Aufnahme eines weiteren Staates von großen Teilen der öffentlichen Meinung abgelehnt, - zumindest in einigen Mitgliedstaaten.
Die Erfahrung zeigt, daß sich diese Ablehnung im Laufe der Verhandlungen nicht abbaut, sondern verstärkt - nicht nur durch die Kompromisse, die geschlossen werden müssen oder durch die Opfer, die gebracht werden müssen. Die Akzeptanz des Beitritts wird auch dadurch verringert, daß in einigen der Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, ein Teil der türkischen Migranten den einheimischen Mitbürgern ein Bild der Integrationsunwilligkeit vermittelt. Diese Hürden in der öffentlichen Meinung sind nicht unüberwindbar, aber eine größere Höhe als die, denen Spanien oder Polen auf ihrem Weg in die Union entgegenstanden, haben sie schon. Dabei seien die deutsche Versäumnisse auf diesem Feld nicht verschwiegen
Zweitens: Jeder der heutigen EU-Mitgliedstaaten ist den Weg zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat selbst, ohne Anstoß von außen, gegangen. Für die Türkei gilt das nicht im gleichem Maße. Die Aufnahme Spaniens, Portugals und Griechenlands sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU war mit dem strategischen Ziel verbunden, die neuen demokratischen, recht-staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen zu festigen. Die Aufnahme der Türkei in die EU verstehen und benutzen maßgebliche Kräfte in diesem Land als Instrument zur Herstellung demokratischer rechtsstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen. Wenn die volle Geltung europäischer Standards bei der Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie nicht als eigenes Ziel, sondern nur mit Blick auf die EU-Mitgliedschaft angestrebt wird, ist das eine gefährlich schwache Grundlage.
Mehr noch: Manche von der Türkei selbst gegebenen und in der öffentlichen Diskussion einigen EU-Regierungen übernommenen Begründungen für den Beitritt suggerieren, die Türkei werde durch ihn „fundamentalismusresistent". Diese Begründung sollte auf beiden Seiten schnell aus dem Arsenal der Argumente genommen werden. Vor dem Beitritt heißt es: Entweder Aufnahme in die EU oder Abdriften in den Fundamentalismus. Und nach dem Beitritt: Wenn die EU diese oder jene Forderung nicht erfüllt, droht ein Erstarken fundamentalistischer Strömungen. Eine starke Basis für ein gedeihliches Miteinander in der Union ist das nicht.
Drittens: Natürlich gibt es geostrategische Interessen an einer westlich orientierten, politisch stabilen Türkei. Die USA haben sie. Die EU hat sie auch. Seit mehr als zehn Jahren drängen die Vereinigten Staaten massiv darauf, daß die Türkei EU-Mitglied wird - in Unkenntnis des Charakters der Einigung Europas. Und die Europäische Union selbst hat ein vitales Interesse, zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität der Türkei als Teil des Westens beizutragen, - nicht nur, aber auch im Blick auf die Versorgungswege für Öl und Gas im Dreieck Mittlerer Osten, Kaspisches Meer und Rußland. Daß dies die EU-Mitgliedschaft der Türkei erfordern könnte, ist möglich. Es erzwingt sie aber nicht.
Die eigentliche Herausforderung geht tiefer. Daß sich die Union ihr stellen muß, ist unbestreitbar. Bestreitbar ist die Antwort, die sie geben muß oder kann. Ist die Einigung Europas am Anfang des 21. Jahrhunderts Teil eines strategischen Konzepts zur Bekämpfung des Terrorismus, so wie sie Mitte des vorigen Jahrhunderts Teil des Konzepts der Eindämmung des sowjetischen Kommunismus gewesen ist?
Joschka Fischer, zum Beispiel, scheint das neuerdings so zu sehen. Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen setze die EU „ein Zeichen, daß der Westen sich nicht abschottet", daß er sich „nicht verschließt gegen das Modell einer islamischen Demokratie". Die „Option eines EU-Beitritts der Türkei ist auch eine Antwort auf den islamischen Terrorismus", meint er. Recep Tayyip Erdogan geht noch weiter: Mit der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union werde „der Prozess des Zusammenstoßes der Kulturen umgedreht." (FAZ,2.9.03)
Machen wir uns nichts vor: Es geht beim Beitritt der Türkei nicht um die Koexistenz von verschiedenen Religionen oder Lebensstilen in Europa, sondern um die Integration der türkischen in die europäische Gesellschaft. Daß die laizistische Türkei, als integriertes Mitglied der Europäischen Union noch stärker "verwestlicht" als heute, der arabisch-islamischen Welt als Vorbild dienen wird, ist mehr als zweifelhaft. Eher wird das Gegenteil eintreten. Eines jedenfalls kann die Türkei als Mitgliedstaat der EU mit Sicherheit nicht sein: Brücke in den Nahen Osten. Sie muß ein Pfeiler des Westens im Nahen Osten sein. Als EU-Mitglied ist sie Partei, nicht Mittler.
Was da als großes strategisches Design daher kommt, überschätzt nicht nur die europäischen, sondern auch die türkischen Möglichkeiten. Mit dieser geostrategischen Ausrichtung ist die Erweiterung der Union nun wirklich mehr als nur eine größere Union. Mit ihr wird auch die Frage nach einer „Überdehnung" der EU in den Schatten gestellt. Sie legt der Einigung Europas einen Paradigmenwechsel auf.
Also macht, viertens, die Aufnahme der Türkei in die EU die latente Frage nach der Identität der Europäischen Union virulent. Jede der bisherigen Erweitungen hat die Union verändert. Jede hat der Union neue Nachbarn und neue Lebensstile gebracht, und mit ihnen neue Interessen und neue Wahrnehmungen. Das wird beim Beitritt der Türkei nicht anders sein. Identität wird in vielem gefunden und entsteht aus vielem. Die Türkei in die EU könnte europäische Identität durchaus modernisieren und bereichern. Aber Identität, Einheit, Handlungsfähigkeit heißen auch Abgrenzung. Die Aufnahme der Türkei darf nicht zur „Entgrenzung" der EU führen.
Dabei geht es nur vordergründig darum, ob eine Union, die „Ja" zur Türkei sagt, zur Ukraine, zu Georgien, Armenien u.a. „Nein" sagen kann. Immerhin hat die Türkei seit 1964, was kein anderer Staat östlich Polens oder Rumäniens oder südlich des Mittelmeers hat und haben wird: eine verbriefte Beitrittsperspektive. Die EU ist mit der Vergabe von Beitrittsperspektiven endlich zurückhaltend geworden.
Tatsächlich geht es um die Aufnahmefähigkeit der Union als Solidargemeinschaft. Die hat unbestreitbar Grenzen. Jeder Beitritt testet die Aufnahmefähigkeit und bringt sie ihren Grenzen näher. Wenn sie überschritten werden, droht die Erosion der Union - zuerst politisch, danach unausweichlich auch wirtschaftlich. Das gilt nicht erst und nicht allein für den Beitritt der Türkei. Aber auch für ihn gilt: Wenn die Mitgliedschaft der Türkei mit der Erosion der Union bezahlt würde, wäre das ein zu hoher Preis - übrigens nicht nur für die Union, sondern auch für die Türkei. Er darf nicht gezahlt werden.
Überschreitet die EU mit dem Beitritt der Türkei die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit? Auf diese Frage gibt es kein kategorisches „Ja" oder „Nein". Jedenfalls heute nicht. Die Union wird nicht die Türkei des Jahres 2005 aufnehmen, sondern die des Jahres 2015 oder später. Und die Türkei wird nicht der Europäischen Union des Jahres 2005 beitreten. Sie tritt, wenn es dazu kommt, der EU des Jahres 2015 oder später bei.
Mitglied wird also eine Türkei, die auf nationale Souveränitätsrechte verzichtet und nicht nur bereit, sondern auch in der Lage ist, europäischen Gesetzen noch im hintersten Winkel Ostanatoliens Geltung zu verschaffen; die als islamische Demokratie europäische Standards der Menschenrechte der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit achtet; und die ihre politische Zukunft nicht als Brücke zwischen Kulturen oder Zivilisationen, sondern als Teil Europas sieht. Nur einer solchen Türkei darf die Union die Tür zur Vollmitgliedschaft öffnen. Und erweitert wird eine Union, die sich auf der Grundlage der europäischen Verfassung konsolidiert und sich durch bewiesene Handlungsfähigkeit nach innen und außen fester als heute legitimiert hat. Nur eine solche Union könnte die Aufnahme der Türkei verkraften.
„Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt (...) einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar" hat der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen festgelegt. Dieses Kriterium hat 1997 beim Beschluß über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten noch eine Rolle gespielt. Aus den Beschlüssen der Regierungschefs 1999 und 2002 zur Türkei ist es jedoch verschwunden. Das ist ein Fehler. In dem Beschluß, den die Staats- und Regierungschefs im Dezember 2004 zu fassen haben, muß der Gesichtspunkt der Aufnahmefähigkeit wieder eingeblendet werden. Am Ende ist die Frage eben nicht, ob die Türkei „zu Europa" gehört. Zu entscheiden ist, wie groß die Europäische Union werden kann, ohne sich aufzulösen.
Unterwegs zu einer europäischen Identität (Juli 2004)
von Klaus Hänsch, MdEP; erschienen in: Politikwissen, Juli 2004
Europa hat Gemeinsamkeiten. Sie sind älter als die nationalen Verschiedenheiten und Abgrenzungen. Im Grunde sind die Eigenarten und Eigenwilligkeiten der Völker "Differenzierungen" eines Ganzen, in dem griechisch-römische Antike, Christentum, Aufklärung und europäisches Judentum eine unvergleichliche Mischung eingegangen sind. Die kulturelle, die geistige, auch die wirtschaftliche Einheit Europas war eine oft verdrängte und verleugnete, aber nie völlig erloschene Realität. Sie lebte im Europa des christlichen Glaubens, der Philosophen und Humanisten, der Baumeister der Kathedralen und Paläste wie der Kaufleute und Finanziers - auch in den Mythen und Märchen der Völker. "Vier Fünftel unserer geistigen Habe sind europäisches Gemeingut." meinte der spanische Philosoph Ortega y Gasset.
Europa hat Grenzen. Wo sie liegen, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Das geographische Europa zieht andere Grenzen als das historische, das ökonomische andere als das kulturelle usw. - und alle sind sie verschieden von denen des politischen Europa. Differenzierung und Vielfalt sind europäisch, aber auch Trennungen und Teilungen. Der eiserne Vorhang von Lübeck nach Triest war eine besonders undurchlässige, aber gewiß nicht die erste Grenze zwischen dem einen und einem anderen Europa. Mit "Europa" wurde schon immer nur ein Teil seiner Geographie, seiner Völker, seiner Kultur bezeichnet - und ein wechselnder dazu. Und schon immer nahm sich ein Teil für das Ganze. Zu den Wesensmerkmalen Europas gehören das Ungenaue und das Unbegrenzte. Und auch das Ungeheure.Zu Europa gehören Brüche und Widersprüche ebenso wie das Aushalten von Brüchen und Widersprüchen, die Aufnahme des Andersartigen, anders Denkenden, anders Wertenden und seine Integration ebenso wie unnachsichtige Ablehnung und gewaltsame Abgrenzung. Europäer haben durch die Jahrtausende immer wieder Neues angezogen, aufgesogen und weiterentwickelt. Und Europäer haben Juden, Muslime, Indianer verfolgt, gemartert und getötet in Kreuzzügen, Pogromen, Holocaust. Europäische Völker haben andere europäische Völker überfallen, unterdrückt, vertrieben. Und europäische Christen haben in Religionskriegen und Bartholomäus-Nächten europäische Christen verfolgt, vertrieben und getötet. Die Überwindung von Nationalismus, Rassismus und Fundamentalismus, gleich welchen Ursprungs und gleich welcher Prägung, gehört zur Identitätsfindung Europas.
Den Frieden zwischen Völkern, die jahrhundertelang mit Raub und Mord, Krieg und Verwüstung übereinander hergefallen sind, dauerhaft zu organisieren, war und bleibt der Kern der Identität des "neuen Europa". Wir brauchen die Einigung der Völker Europas immer noch, um die Schatten der jüngeren Vergangenheit zu bannen - nicht nur der deutschen übrigens. Aber die Union wird zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts nur dann etwas beitragen, wenn sie mehr ist als nur die Antwort der fünfziger Jahre auf die Konflikte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Wenn Europa darauf beharrt, mit rückwärts gewandtem Kopf in die Zukunft zu gehen, wird es zur Salzsäule erstarren.
Die europäische Identität bildet sich in den Antworten der Völker auf die großen Fragen der Zukunft. Wo stehen sie, wenn es darum geht, den Frieden zu sichern und Menschen in Europa und anderswo in der Welt vor Krieg und Vertreibung, vor Mord und Raub zu schützen? Welche Rolle spielen sie in einer Welt mit zunehmender Bevölkerung, wachsendem Hunger, immer größeren Wanderungswellen, grenzenloser Umweltzerstörung und ungebremster Klimaveränderung? Welche Zukunft schaffen sie für die Grundlage der europäischen Zivilisation, die menschliche Arbeit, in einer sich globalisierenden Wirtschaft? Finden sie ein neues Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der sozialen Gerechtigkeit, auf dem die Demokratie in Europa ruht?
Der klassische europäische Nationalstaat ist für die Lösung der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen Probleme der modernen Welt zu klein. Auch der größte ist in den Lebensfragen der Völker längst nicht mehr Herr im eigenen Haus. Mit dieser Entwicklung ist das Lebensgefühl vieler Menschen nicht mitgekommen. In den europäischen Völkern klaffen Bewußtsein und Realität immer weiter auseinander. Eine solche Gesellschaft wird krank. Sie neigt zu eruptiven Reaktionen oder zur Regression und Intoleranz.
Den Nationalstaat klassischer Prägung gibt es zwar nicht mehr, aber damit ist er nicht am Ende.
Die Europäische Union löst die europäischen Völker nicht auf. Sie vereinigt sie, aber sie verschmilzt sie nicht. Sie macht aus ihnen kein europäisches Volk. Solange in Europa Nationen bestehen - und sie werden, wenn auch nicht ewig, so doch noch lange bestehen - werden sie natürlich auch in ihren eigenen Staaten leben wollen.
Die Europäische Union ist nicht und wird nicht eine Nachbildung des Nationalstaats des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Vereinigten Staaten von Amerika noch die Schweiz sind die Blaupausen für die Konstruktion der künftigen Europäischen Union. Sie bleibt eine "Union der Bürger und der Staaten". Auch eine europäische Verfassung wird sie nicht zu einem europäischen Bundesstaat machen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden immer mehr sein, als nur Bundesländer einer "Bundesrepublik Europa".
Europa findet seine Identität in der Einheit, nicht in der Einheitlichkeit. Es wird auch in Zukunft eine Fülle von nationalen und regionalen Sprachen, Kulturen, Gewohnheiten, Traditionen und Erinnerungen geben. Die Europäer bleiben in nationalen, regionalen und lokalen Bezügen zu Hause, finden dort Halt, bilden dort ihre "Identität". Kein Europäer wird sich jemals so "zu Europa" gehörig fühlen wie Franzosen zu Frankreich oder Schotten zu Schottland oder Deutsche zu Deutschland.
Eine europäische Identität läßt sich nicht nach dem Bild nationaler Identitäten modellieren. Wir sollten es auch nicht versuchen. Die Europäische Union kann auch nicht erwarten, daß ihr die gleichen Loyalitäten und Opfer entgegengebracht werden wie den Nationalstaaten. Eine europäische Identität wird immer nur ein Zusatz zur nationalen, nie ein Ersatz für sie sein. Aber europäische Identität ist nicht möglich, ohne daß sich die Völker Europas mit Europa identifizieren.
Die Osterweiterung der Europäischen Union ist die Rückkehr Europas zu sich selbst. Eine solche Jahrhundertaufgabe ist nicht im Geiste von Buchhaltern und Krämern zu lösen. Die Union braucht eine "Verfassung" - mag sie auch rechtlich ein "Verfassungsvertrag" sein. Sie ist bei weitem nicht ausreichend, aber doch unerläßlich auf dem Weg zur Herausbildung einer europäischen Identität. Die Charta der Grundrechte drückt aus, daß die Union nicht nur zur Sicherung der Freiheiten des Marktes, sondern auch um der Freiheitsrechte der Bürger willen besteht.
Sie stellt neben die Freiheit und die Gleichheit nun auch die dritte Säule des ethischen Grundbestands der politischen Kultur Europas: die Solidarität. Europäisch ist, daß wir bei allen Unterschieden im einzelnen von Helsinki bis Lissabon, von den Beskiden bis zu den Hebriden doch alle diese einzigartige und unauflösliche Verbindung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit zu bewahren suchen, daß wir das immer gefährdete Gleichgewicht halten wollen zwischen Freiheit und Verantwortung.
Mit der Währungsunion, dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wächst die Europäische Union in die letzten drei der klassischen Hoheitsbereiche der europäischen Nationalstaaten hinein: das Geld, die Justiz und das Militär. Das zwingt zu gemeinsamem Handeln jenseits des Marktes. Europäische Identität ist nicht "fertig", so daß die Union in sie hineinschlüpfen könnte wie in einen wärmenden Mantel. Auch mit einer Verfassung arbeiten die Europäer an ihrer Identität auf einer zugigen Baustelle. Aus der Gemeinsamkeit des Tuns wächst europäische Identität.
Fünfhundert Jahre lang sind die Europäer in die Welt hinausgegangen, mit Ideen und Ideologien, mit Waren und Waffen. Jetzt kommt die Welt mit ihren Problemen und mit ihren Menschen zu den Europäern zurück. Die Vermehrung der Menschheit und die wachsende materielle Armut ihres größeren Teils, Hunger und Seuchen, Umweltzerstörung und Krieg, ethnische, religiöse, soziale Konflikte in anderen Teilen der Welt lassen Europa nicht unberührt. Hinter Festungsmauern würde die europäische Seele verkümmern. Freiheit kann sich nicht abschotten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Europa der politische, wirtschaftliche und geistige Mittelpunkt der Welt. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war es noch - negativ wie positiv - der wichtigste Referenzpunkt für die Welt. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint Europa für den größeren Teil der Menschheit ohne Belang. Der einstmals unerschütterliche Glaube an die Überlegenheit der europäischen Zivilisation in der Welt ist verflogen. Neue Regionen, neue Mächte und Machtblöcke bilden sich - in Asien und im Pazifik, in Lateinamerika. Sie beanspruchen den Platz in der Welt, der ihnen zusteht.
Die Europäer dürfen nicht wie früher den Platz beanspruchen, der anderen zusteht, aber sie haben das Recht, den eigenen zu behaupten. In erneuerten Weltherrschaftsphantasien wird Europa seine Identität nicht finden, aber auch nicht in der Idylle nationaler oder gar regionaler Puppenstuben. Die Europäische Union muß in der Welt die politische Verantwortung übernehmen, die ihrem wirtschaftlichen Gewicht entspricht - und das ist das Gewicht einer Weltmacht. Europäische Identität wächst aus der Verantwortung der Europäer für die Welt.Ein Referendum über Europa? (21.5.2004)
Eine Verfassung für Europa ohne das deutsche Volk selbst und unmittelbar entscheiden zu lassen? Deutschland gar als referendumfreie Zone inmitten europäischer Volksabstimmungen? Ganz so wird es nicht sein. Zwar müssen in Dänemark und Irland Referenden stattfinden. Zwar wollen Spanien und einige andere, neuerdings auch Großbritannien, eines durchführen. Und andere Staaten überlegen noch, ob sie wollen sollen. Aber in einigen EU-Ländern wird es - sei es aus politischen oder aus verfassungsrechtlichen Gründen - keine Volksabstimmung geben. Zu diesen gehört Deutschland.
Das Grundgesetz ist klar und eindeutig: Für Deutschland entscheiden der Bundestag und der Bundesrat als demokratisch legitimierte Vertretung des Volkes und der Länder. Die Europäische Verfassung ist ein Vertrag, der die geltenden EU-Verträge ablöst. Er muss deshalb von jedem der 25 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden und zwar so, wie es dessen nationale Verfassung jeweils vorschreibt. Das kann durch keine noch so gut gemeinte europäische Vorschrift ersetzt werden.
Hat die "politische Klasse" in Deutschland Angst vor einem "Nein" des Volkes zu Europa? Das gewiss nicht. Sie wäre auch unberechtigt. Die Mehrheit der Deutschen würde sich in einer Volksabstimmung für die europäische Verfassung entscheiden. Gut genug ist sie ja. Und die Bürgerinnen und Bürger sind trotz aller Kritik an Inhalt und Erscheinungsformen der Brüsseler Politik nicht generell und grundsätzlich "gegen Europa". Es würde eine Kampagne für die Annahme der Verfassung geben. Informationen würden transportiert, Kontroversen ausgetragen. Die Parteien müssten und die Verbände könnten sich engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger vielleicht auch. "Europa" brächte sich in die Offensive. Aber ein hinreichender Grund für eine Änderung unserer Verfassung ist das alles nicht?
Natürlich könnten Bundestag und Bundesrat das Grundgesetz ändern und Volksentscheide zulassen. In der Vergangenheit ist das aus unterschiedlichen Anlässen erwogen, mit guten Gründen aber immer wieder verworfen worden - gerade auch von FDP und CSU, die jetzt lauthals nach einem Referendum rufen. Solange sie Volksentscheide nur für europäische Angelegenheiten fordern, für Fragen der Bundespolitik aber nicht für nötig halten oder gar ablehnen, ist das nichts als populistische Effekthascherei. Warum sollte das Volk über einen europäischen Verfassungsvertrag direkt entscheiden können, über die Reform der Rentenversicherung oder des Bund-Länder-Finanzausgleichs aber nicht?
Das solche Fragen komplizierter als die europäische Verfassung seien, ist kein relevanter Einwand. Die Bürgerinnen und Bürger würden sich bei der Abstimmung in ihrer Mehrheit ohnehin nicht an den einzelnen Gesetzesparagraphen oder Verfassungsartikeln entlang entscheiden. Und eine Entscheidung über Embryonenschutz oder Gentechnologie ist nicht schwieriger oder folgenreicher und deshalb weniger referendumtauglich als eine über die europäische Verfassung. Von der hängt schließlich nicht nur die politische Zukunft der 80 Millionen Deutschen, sondern auch der 370 Millionen anderen Europäer ab.
Der wichtigste Einwand gegen eine Änderung des Grundgesetzes ist ein anderer: Eine Verfassung ist keine Addition von wünschenswerten Bestimmungen, sondern ein wohlüberlegtes und ausgewogenes System von checks and balances zwischen den Verfassungsorganen. Das bewährte System des Grundgesetzes würde durch die Einführung von Volksentscheiden empfindlich gestört, wenn nicht sogar ausgehebelt. Auf ein solches Wagnis - um nicht zu sagen Abenteuer - sollte sich die Bundesrepublik nicht einlassen. Auf keinen Fall reicht die Annahme des europäischen Verfassungsvertrages als Begründung dafür aus.
Neuerdings lassen einige, von Stoiber bis Cohn-Bendit, ihre Phantasie ins Weite schweifen: Ein europaweites Referendum müsse her und am schönsten wäre es, wenn dabei nur die gesamteuropäische Mehrheit zählte. Dann hätten die 80 Millionen Deutschen das ihnen zustehende Gewicht. Merkwürdig: Sie, die sonst über alles Maß hinaus Verständnis dafür aufbringen, dass die kleinen Staaten in der EU den Verlust ihrer Identität fürchten, verwenden offenbar keinen Gedanken darauf, dass Länder wie Dänemark, Estland oder Finnland vielleicht Schwierigkeiten damit hätten, ihre Stimmen in einer europaweiten Mehrheit von Ja-Sagern (oder Nein-Sagern) verschwinden zu sehen. Aber flugs wissen die neuen Volksentscheid-Protagonisten neuen Rat: Wenn ein europäisches Referendum also nicht möglich ist, sollte ersatzweise wenigstens ein europaweites Referendum aus 25 einzelnen Volksentscheiden am gleichen Tag durchgeführt werden.
Leider hat die Sache gleich zwei Haken: Die europäische Verfassung sieht weder ein europäisches Referendum noch ein europaweites vor. Das eine wie das andere war schon im Verfassungskonvent nicht konsensfähig - von der laufenden Regierungskonferenz ganz zu schweigen. Im übrigen müsste die Verfassung vor einem solchen Referendum erst einmal ratifiziert sein - nach den alten Regeln.
Käme man dann nicht wenigstens mit einer Vereinbarung der Regierungen ans Ziel, die Verfassungsreferenden am gleichen Tage stattfinden zu lassen? Nach den neuesten Ideen könnte Deutschland dabei sein: Es müsste nur einen "Ermächtigungsartikel" in das Grundgesetz schreiben, der es erlaubt, sich an europaweiten Referenden zu beteiligen. Zu spät und politisch falsch: Die Spanier stimmen bereits am 13. Juni über die Verfassung ab. Ein zweites Mal werden sie nicht an die Urnen gerufen. Jedes Referendum hat Implikationen, die es geraten sein lassen, den Termin der Abstimmung sehr genau auf die politische Lage in dem jeweiligen Land zu justieren. Tony Blair oder Paul Rasmussen können und werden sich ein europäisches Datum für ihre Volksabstimmungen nicht vorschreiben lassen, wenn sie es gewinnen wollen. Und darum muss es im Interesse ganz Europas gehen: Die Verfassung in Kraft zu setzen.
Manchem kommt der Einfall, doch wenigstens konsultative Referenden zu ermöglichen. Das wäre die leichtfertigste aller Verfassungspielereien. Man fragt die Bürger nicht, um zu erfahren, was sie "meinen". Dafür gibt es genug Meinungsforschungsinstitute. Man fragt sie, um zu wissen, wie sie sich entscheiden. Die Erfahrung aus anderen Ländern mag uns lehren, dass die Bürger nie nur zur gestellten Frage abstimmen. Meist nehmen sie ihre Meinung zu anderen politischen Problemen oder ihren Ärger mit der Regierung in die Entscheidung hinein. Daran kann man sie weder hindern, noch darf man es ihnen verübeln. Aber eine bloß "konsultative" Volksabstimmung würde diesem Verhalten noch Vorschub leisten, wenn den Bürgerinnen und Bürgern nicht ohne Wenn und Aber klar ist: Eine Ja-Stimme mehr als 50 Prozent ist ein endgültiges "Ja", eine Stimme weniger ist ein definitives "Nein". Die bloß konsultative Volksabstimmung läßt für Wähler wie für Politiker Hintertüren offen: "Wenn es knapp daneben geht, wird's der Bundestag schon richten". Das ist nichts weiter als eine Verhohnepipelung der Bürger - und die Lizenz zum politischen Unernst an der Urne.
* Klaus Hänsch, Präsident des Europäischen Parlaments a.D., war Mitglied des Präsidiums des Verfassungskonvents und vertritt z.Zt. das Europäische Parlament in der Regierungskonferenz über die Verfassung
Welche Rolle erhält das Parlament durch die europäische Verfassung - welche Defizite bleiben? (4.5.2004)
Das Europäische Parlament wird zum Gesetzgeber der Europäischen Union. Bisher ist das nur die Ausnahme, künftig ist es die Regel. "Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus." Einen vergleichbaren Satz sucht man in den geltenden Verträgen vergeblich. Er markiert einen Quantensprung für die parlamentarische Demokratie auf Unionsebene. Das Verfahren der Mitentscheidung, durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam nur für 35 Fälle vorgesehen, gilt künftig für 84 der 110 Rechtsgrundlagen der EU-Gesetzgebung. Sie umfasst auch die Agrarpolitik, die Asyl- und Einwanderungspolitik und die Gesetzgebung in der Innen- und Rechtspolitik.
Das Europäische Parlament "teilt" sich die Gesetzgebungsrechte mit dem Rat. Das ist kein "Defizit", sondern eine notwendige Konsequenz daraus, dass die Gesetzgebung in einer "Union der Bürger und der Staaten" anders legitimiert werden muss als im Nationalstaat - und sei er ein Bundesstaat. In einer solchen Union braucht jedes europäische Gesetz nicht nur eine Mehrheit im Europäischen Parlament, in dem die Bürger direkt vertreten sind, sondern auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die durch ihre Regierungen im Rat vertreten werden. Diese doppelte Legitimationsbasis muss unausweichlich Folgen haben sowohl für den Zuschnitt, die Einsetzung und die Befugnisse der EU-Institutionen als auch für ihr Zusammenwirken bei der Erfüllung der legislativen und exekutiven Aufgaben der Union. Die Europäische Union ist kein Staat, also kann parlamentarische Demokratie auf ihrer Ebene auch nicht nach der Blaupause nationaler Demokratien funktionieren. Für die Union und ihr Parlament müssen andere Kriterien gelten. Nur an ihnen lassen sich Defizite erkennen und bemessen.
Für die gemeinsame Gesetzgebungsbefugnis von Parlament und Rat gilt der bekannte Grundsatz "Keine Regel ohne Ausnahme". Aber nicht alle Ausnahmen sollten zum parlamentarischen Defizit aufgeblasen werden. Ganz gewiss dann nicht, wenn ein Gesetz allein durch das Parlament beschlossen werden kann, und auch nicht, wenn es gegen die Mehrheit des Parlaments nicht zustande kommen kann. In diese Kategorie lassen sich zehn von den 26 Fällen des "Besonderen Gesetzgebungsverfahrens" in der Verfassung einordnen: das jährliche Haushaltsgesetz, zum Beispiel, bei dem das Europäische Parlament das letzte Wort über den gesamten Haushalt künftig sogar einschließlich der Agrarausgaben hat, auch das Statut der Abgeordneten, das Statut des Bürgerbeauftragten sowie die Modalitäten für das Untersuchungsrecht des Parlaments - alles so genannte "Parlamentsgesetze", über die das Europäische Parlament mit Zustimmung des Rates allein entscheidet. Andererseits gehören auch die drei quasi-konstitutionellen Gesetze in diese Kategorie, wie die Festlegung der Obergrenze für die Eigeneinnahmen, die Rechte der Unionsbürger sowie die Grundsätze des einheitlichen Wahlverfahrens. Sie werden vom Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen und die nationalen Parlamente ratifizieren sie. Ein parlamentarisches "Defizit" entsteht dadurch nicht.
Allerdings bleiben 16 Rechtsgrundlagen, bei denen der Rat ermächtigt ist, Gesetze ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments zu beschließen. Zum Teil sind es Gesetze am Rande des Rangs von Verordnungen. Das ist legislativ von geringer Bedeutung. Parallele Fälle gibt es auch in einigen EU-Mitgliedstaaten. Zum anderen Teil handelt es sich allerdings um politisch bedeutsame Gesetzgebung. Das kommt daher, dass es schon in den Verfassungsberatungen im Konvent nicht gelang, die Einstimmigkeit im Rat völlig abzuschaffen. Das Vereinigte Königreich und Irland sowie einige Beitrittsländer haben das bei der Steuerharmonisierung verhindert, Deutschland beim Familienrecht und beim Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt für Drittstaatler, andere in anderen Bereichen. Da im "normalen" Gesetzgebungsverfahren im Rat mit Mehrheit entschieden wird, sind diese Bereiche in den Bereich der "Ratsgesetze" gerutscht, bei denen das Parlament nur konsultiert wird.
Einerseits sind diese Ausnahmen tatsächlich ein blinder Fleck in der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments. Das Europäische Parlament hat im Konvent dafür gekämpft, dass die Zahl der Ausnahmen nicht nur so gering wie möglich gehalten wird und dass sie in einem vereinfachten Verfahren zur Änderung der Verfassung in die Mehrheitsentscheidung und damit in das normale Gesetzgebungsverfahren überführt werden, sondern auch dafür, dass sie so kurzlebig wie möglich bleiben. Das ist die zentrale Bedeutung der in Artikel I-24 Absatz 4 vorgesehenen passerelle aus der Sicht des Parlaments. Andererseits erhält das Parlament Mitentscheidungsrechte, wo ihm bisher jeder mitgestaltende Einfluss verweigert wurde. An der Gesetzgebung auf der Grundlage von Artikel I-17 (heute Art. 308 EGV), der es der Union erlaubt, tätig zu werden, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen, obgleich es eine konkrete Rechtsgrundlage dafür nicht gibt, war das Parlament bisher nur durch Konsultation beteiligt. Künftig ist seine Zustimmung erforderlich.
Bisher bestimmte der Rat allein die Art und Weise der Durchführung der EU-Gesetze. Diese Macht muss er künftig mit dem EP teilen. Das Parlament entscheidet gleichberechtigt über die Gesetzgebung zur Festlegung der Modalitäten für die Kontrolle der Durchführungsakte der Union mit. Die EU-Exekutive setzt sich ihre Regeln nicht länger selbst, das gehört zu den großen Durchbrüchen des Verfassungsentwurfs. Damit werden Kontrollbefugnisse des Parlaments gegenüber der EU-Exekutive erheblich gestärkt. Es bestimmt künftig mit, nach welchen Regeln und wieweit die Kommission und wieweit in Sonderfällen der Rat verbindliche Durchführungsakte erlassen können. Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer werden durch Europäisches Gesetz festgelegt. Das Parlament wacht darüber, wie die Kommission die ihr übertragene delegierte Rechtsetzungsbefugnis ausübt. Es kann die Übertragung gemeinsam mit dem Rat widerrufen oder allein (wie auch der Rat) das Inkrafttreten von delegierten Verordnungen der Kommission durch Einspruch verhindern - ein zusätzliches Kontrollinstrument zu Mißtrauensvotum, Entlastung für die Durchführung des Haushalts und Untersuchungsausschüssen.
Die Kommission behält das Initiativmonopol in der Gesetzgebung. Nachdem im institutionellen Dreieck das Parlament wie der Rat durch die Verfassung gestärkt werden, gibt es der Kommission das notwendige Gewicht, um das Gleichgewicht zwischen drei Entscheidungsorganen der Union aufrecht zu halten. Daher hat das Europäische Parlament die Erlangung des vollen Initiativrechts nicht zu einem seiner essentials gemacht. Es hat sich bewußt damit begnügt, dass der Verfassungsentwurf das Recht des Parlaments, die Kommission zu einer Gesetzesinitiaitve aufzufordern, verbessert und dem des Rates gleichstellt. Dass das Parlament kein volles Initiativrecht erhält, ist kein Mangel, sondern Tribut an die Besonderheiten des institutionellen Systems einer Staaten-Union.
In diesem System gewinnt das Parlament allerdings bestimmenden Einfluss auf die Einsetzung der europäischen Exekutive. "Das Europäische Parlament wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission". Und es setzt die gesamte EU-Kommission durch ein Vertrauensvotum ins Amt. Der Europäische Rat macht seinen Vorschlag für das Amt des Präsidenten der Kommission "unter Berücksichtigung der Wahlen zum EP und im Anschluß an entsprechende Konsultationen" (Artikel I-26). Und er muss, wenn sein Kandidat im Parlament nicht die absolute Mehrheit erhält, binnen einem Monat einen neuen Vorschlag machen. Damit wird die im Vertrag von Nizza vorgesehene "Bestätigung" des vom Europäischen Rat designierten Kommissionspräsidenten durch das Parlament zu einer echten Wahl. Und die Bürgerinnen und Bürgern haben die Chance, mit ihrem Stimmzettel unmittelbaren Einfluss auf die Personalentscheidung für eines der Spitzenämter in der Union zu nehmen.
Die Verfassung verschafft dem Europäischen Parlament nicht nur neue Rechte, sondern auch einen neuen Rang. Dem muss es seine Arbeitsweise, seine Arbeitsabläufe und sein Verhalten anpassen. Denn es wird ihn nur beanspruchen können, wenn es zeigt, dass mit seinen Rechten auch seine Verantwortlichkeit gewachsen ist.
Jenseits der Artikel – europäische Grundentscheidungen der EU -Verfassung (April 2004)
von KLAUS HÄNSCH, erschienen in: Integration 04/04
I
Niemand konnte erwarten, daß die Regierungskonferenz den Konventsentwurf eins zu eins übernehmen und unverändert beschließen würde. Schließlich hatte schon der Konvent selbst bestimmte Fragen, wie zum Beispiel das Rotationsverfahren für den Vorsitz der Ministerräte, bewußt für die Regierungskonferenz offen gelassen. Schon vor dem Ende der Beratungen im Konvent hatten die Vertreter der Regierungen Widerspruch angemeldet - fast einstimmig gegen die Schaffung eines Legislativrats, mit einer zahlenmäßig relevanten Gruppe gegen Zahl und Status der Kommissare. Spanien und im Gefolge Polen stemmten sich gegen die vorgeschlagenen Veränderungen bei der Stimmengewichtung im Rat. Großbritannien hatte gleich mehrere „rote Linien" gezeichnet. Luxemburg und Malta hatten Änderungswünsche bei der Zahl der Mandate im Parlament signalisiert. Im übrigen war durchaus damit zu rechnen, daß fast alle Regierungen die Gelegenheit nutzen würden, sich nachträglich noch den einen oder anderen Sonderwunsch zu erfüllen.Dennoch haben 90 Prozent des Konventsentwurfs die Regierungskonferenz unverändert passiert. Von den Änderungen, Zusatzerklärungen und Protokollen zum Verfassungsvertrag sind manche nützlich, klärend und sogar weiterführend, viele überflüssig, einige ärgerlich, aber nichts zerstört die Substanz, die Struktur und die Kohärenz des Konventsentwurfs. Das ist umso bemerkenswerter, als der vom Konvent erarbeitete „Entwurf einer Verfassung für Europa" weit über das Mandat von Laeken hinausgeht.
Im Mandat war nur ziemlich vage die Frage aufgeworfen worden, ob die Arbeit an der Vereinfachung und Neuordnung der Verträge „im Laufe der Zeit nicht dazu führen könnte, daß in der Union ein Verfassungstext angenommen wird." Das Konventspräsidium wollte von Anfang an einen Text entwerfen, der formal ein Vertrag zwischen Staaten und inhaltlich eine Verfassung mit den Grundsätzen und Regeln für die Legitimierung und Limitierung von politischer Macht sein sollte - ein „Verfassungsvertrag" also - und der Konvent ist ihm dabei gefolgt. Alle Beteiligten waren sich darüber im Klaren, daß er im normalen Sprachgebrauch schnell „Verfassung" heißen würde.
Der Konvent hatte nicht den Auftrag, den in Nizza erzielten Kompromiss über die Stimmengewichtung im Rat, die Zahl der Mandate im Parlament und die Zahl der Kommissare aufzubrechen und ein neues Gleichgewicht zwischen den drei Entscheidungsorganen der Union herzustellen. Dennoch beschloß das Konventspräsidium in einer durchaus kontroversen Nachtsitzung genau das zu tun und eigene Vorstellungen über die Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat („doppelte Mehrheit"), die Höchstzahl und die Verteilung der Mandate im Parlament sowie die Zahl und den Status der Kommissare vorzulegen. Der Konvent folgte ihm. Da ist es erstaunlich, daß von den 64 Änderungen am Konventsentwurf nur 11 die Institutionen betreffen, und keine von ihnen die vom Konvent gezogenen Grundlinien verändert.
Das Mandat hatte den Konvent aufgefordert, „sich um verschiedene mögliche Antworten" auf die gestellten Fragen zu bemühen. Das Abschlußdokument sollte entweder "verschiedene Optionen" oder, im Fall eines Konsenses, "Empfehlungen" an die Regierungskonferenz enthalten. Das Konventspräsidium war sich von Beginn an darin einig, keine Optionen, sondern einen einzigen und in sich kohärenten Text vorzulegen und ihn so zu gestalten, daß er eine Chance hatte, zur Verhandlungsgrundlage zu werden. Deswegen richtete es die gesamte Arbeitsweise des Konvents auf Konsens aus. Und deswegen verhinderte es gegen Ende der Konventsberatungen gezielt alle Beschlüsse, die Deutschland und Frankreich, aber auch Großbritannien dazu verleiten konnten, den Konventsentwurf insgesamt in Frage zu stellen oder gar abzulehnen.[1]
Als im Juni 2003 der Europäische Rat den „Wortlaut" des Konventsentwurfs als „eine gute Ausgangsbasis" für die Regierungskonferenz bezeichnete, war das der kalkulierte Durchbruch des Faktischen. Selbstverständlich war er nicht. Das zeigte sich zu Beginn der Beratungen Anfang Oktober 2003. Als die italienische Ratspräsidentschaft zu erkennen gab, daß sie auf der Grundlage des Konventstextes zu verhandeln gedenke, versuchte, unter dem abwartenden Schweigen der Mehrheit, eine von Österreich und Finnland geführte Minderheit die Konferenz zur Ausarbeitung eigener Beratungsgrundlagen zumindest für umstrittene Punkte zu treiben. Erst nach massiven Interventionen des französischen und des deutschen Außenministers in den Beratungen[2] blieb der integrale Konventsentwurf die Verhandlungsgrundlage.
Erfolgreich konnte diese Intervention allerdings nur sein, weil durch die starke innere Kohärenz des Konventsentwurfs[3] jedes Herausbrechen einer substanziellen Regelung zum Einsturz des gesamten Gleichgewichts zwischen den Institutionen, den großen und kleinen Staaten, den föderalen und konföderalen Elementen sowie den Kompetenzen für Mitgliedstaaten und Union geführt hätte. Die "Konventsmethode" hat sich durchgesetzt. Ohne sie werden in Zukunft substanzielle Änderungen an der Verfassung nicht mehr zustandekommen.
II
Die Verfassung beendet ein zwölfjähriges Reformstakkato. Zwischen 1992 und 2004 sind die EU-Verträge dreimal reformiert (1992 in Maastricht, 1997 in Amsterdam, 2000 in Nizza) und zweimal den Erfordernissen der Beitritte von 1995 und 2004 angepaßt worden. In Maastricht, Amsterdam und Nizza hatten die Regierungen jeweils schon vor der Unterzeichung des Vertrages die nächste Reform angekündigt, sogar terminiert, ausdrücklich „leftovers" benannt oder eine „eingehendere und breiter angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union" eingeleitet. Mit dem Beschluß vom 18. Juni 2004 in Brüssel halten sie den Reformprozeß nun für abgeschlossen.
Wie alle Verfassungen wird natürlich auch die EU-Verfassung im Laufe der Zeit geändert werden. Der berühmten langlebigen amerikanischen Verfassung ist es so ergangen und dem deutschen Grundgesetz in seiner 55-jährigen Geschichte auch. Trotz ihrer durchaus beachtlichen Stringenz und Kohärenz enthält die EU-Verfassung durchaus eine Reihe von Unzulänglichkeiten und ad-hoc-Kompromissen, die sich früher oder später als korrekturbedürftig erweisen werden. Auf der Hand liegt auch, daß politische Verschiebungen oder gesellschaftliche Entwicklungen in Europa Änderungen an der Verfassung nötig machen können. Aber die im Verfassungsvertrag beschriebene Struktur der Europäischen Union wird Bestand haben. Nach den Schwierigkeiten, die bei der Ratifizierung in einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten überwunden werden müssen, wird so bald keine Regierung mehr riskieren, erneut einen grundlegenden Reformprozeß zu beginnen.
Das wird auch nicht nötig sein. Der Verfassungsvertrag birgt ein größeres Potential an Offenheit und Flexibilität als die EU-Verträge. Es bleibt zwar dabei, daß die Mitgliedstaaten Verfassungsänderungen einstimmig beschließen können. Immerhin aber fallen für einige Änderungen langwierige nationale Ratifizierungsverfahren weg - so z.B. für den Übergang in weiteren Gesetzgebungsbereichen von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung oder vom besonderen zum normalen Gesetzgebungsverfahren, bei der Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft oder bei der Erweiterung der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.
Häufig wird beklagt, daß die Beibehaltung der Einstimmigkeit für Veränderungen im Teil III dringend notwendige Reformen an den dort festgelegten Politikbereichen erschwere oder verhindere. Das ist nur auf den ersten Blick richtig. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Verfassung (wie der EG-Vertrag) zum Beispiel für die gemeinsame Agrarpolitik zwar "eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte" vorsieht, aber keineswegs produktgebundene Garantiepreise oder Milchquoten usw. vorschreibt, ja nicht einmal europäische Agrarmarktordnungen alternativlos verlangt. Über die Reform der gegenwärtigen Agrarpolitik (und anderer Politiken) entscheiden politische Mehrheiten im Rat und, durch die Verfassung, auch im Parlament - wenn sie denn zustande kommen.
Für eine Reihe von Fällen gibt die Verfassung selbst die Reform vor. Zum Teil setzt sie sogar Zeitziele. Das gilt für die Verkleinerung der EU-Kommission, den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen bei der Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens u.a.. Das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit - nun auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfügbar - erlaubt es der Union auf wachsenden Integrationsbedarf im Rahmen der Verfassung zu reagieren.
Im übrigen hängen das Gewicht der Institutionen und die Beziehungen zwischen ihnen nicht allein am Wortlaut der Verfassung. Sie werden in starkem Maße auch von den Personen geprägt, vor allem von den ersten, die diese Institutionen leiten: dem hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates, dem Europäischen Außenminister als Vizepräsident der Kommission und zugleich Vorsitzender des Außenministerrates und dem Präsidenten der Kommission, der die Richtlinienkompetenz erhält. Die im Vergleich zu internationalen Verträgen größere Offenheit und Ausdeutbarkeit (Skeptiker sagen: Unklarheit) läßt ebenfalls erwarten, daß für einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten an der Struktur und der Substanz der Verfassung der Europäischen Union nichts wesentliches geändert werden muß.
III
Die Union gewinnt durch häufigere Mehrheitsentscheidungen und bessere Führbarkeit an Handlungsfähigkeit nach innen und außen. Die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen wird durch Stärkung des Parlaments und Neugewichtung der Stimmen im Rat verbreitert. Durch die Neuordnung der Kompetenzen sowie durch die Reduzierung und Verschlankung der Entscheidungsverfahren wird die Union transparenter.
Die Union wird so übersichtlich, transparent und verständlich, wie das zur Zeit in einer Union mit 25 und mehr Staaten überhaupt möglich ist. Neue Kompetenzen erhält sie nur in sehr begrenztem Umfang. Bereits übertragene werden in einigen Fällen zurückhaltend verstärkt. Aber die Verteilung der Kompetenzen zwischen Mitgliedstaaten und Union ist eindeutiger festgelegt und klarer geordnet. Das Prinzip der Subsidiarität ist präziser gefasst, seine Einhaltung kann auch durch die nationalen Parlamente kontrolliert und von ihnen eingeklagt werden.
Die Entscheidungsverfahren sind einfacher, zügiger und klarer als bisher. Dazu gehört, daß „Verordnungen" künftig „Europäische Gesetze" heißen und „Richtlinien" „Europäische Rahmengesetze". Ein so schlichter Satz in Artikel I, 34: „Europäische Gesetze und Rahmengesetze werden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Artikel III, 396 auf Vorschlag der Kommission vom Europäischen Parlament und vom Rat gemeinsam erlassen." ist ein konstitutioneller Meilenstein.
In der Gesetzgebung wird die Möglichkeit, im Rat mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, von der Ausnahme zur Regel. Einstimmigkeit bleibt auf wenige Ausnahmen beschränkt. In 109 Politikfeldern kann die Union gesetzgeberisch tätig werden, in 90 von ihnen mit qualifizierter Mehrheit, statt bisher nur in 36. Von den restlichen 19 Feldern haben nur drei, die Steuerharmonisierung, der Zugang von Drittstaatlern zu den nationalen Arbeitsmärkten und die Antidiskriminierungsgesetze, eine politische Bedeutung.
Das Europäische Parlament erhält die Kompetenzen, die einem Parlament in einer Staaten- und Bürgerunion angemessen sind. Es wird zum EU-Gesetzgeber auf gleichen Stufe mit den Regierungen im Rat. War bislang die Alleinentscheidung des Rates die Regel und die Mitentscheidung des Parlaments die ausdrücklich genehmigte Ausnahme, wird es künftig umgekehrt sein: die Mitentscheidung des Parlaments ist die Regel, die Alleinentscheidung des Rats die Ausnahme. Für die parlamentarische Demokratie auf der Ebene der Union ist das ein Quantensprung.
Institutionen, die europäischen zumal, sind abstrakt. Sie gelten als kalt und gesichtslos. Die Mehrheit der Bürger kann sich an ihnen nicht orientieren. Führung und Verantwortlichkeit erwarten sie von Personen. Die Verfassung eröffnet die Chance, europäische Politik stärker zu personalisieren. Der auf zweieinhalb Jahre gewählte Präsident des Europäischen Rates wird im Sprachgebrauch und in der Wahrnehmung zum EU-Präsidenten werden und bei der Koordinierung der EU-Politik im intergouvermentalen Bereich durchaus eine politische Rolle spielen. Der vom Parlament gewählte und durch die Richtlinienkompetenz gestärkte Präsident der EU-Kommission wird aus der Reihe der von den europäischen Parteien vor der Europawahl designierten Kandidaten kommen. (Die Verfassung schreibt es nicht vor, aber hindert die großen europäischen Parteien auch nicht daran, mit europäischen Spitzenkandidaten in die Wahl des Parlaments zu gehen.) Der auf fünf Jahre bestellte Europäische Außenminister wird als Vorsitzender des Außenministerrates und zugleich Vizepräsident der Kommission über ein erhebliches Einflußpotential verfügen. Die größere Union kann eine stärkere Führung bekommen.
IV
Der Konvent konnte und wollte die Europäische Union nicht neu erfinden. Hätte er es versucht, wäre er gescheitert. Die Verfassung macht allerdings Ziel und Struktur des Zusammenschlusses europäischer Staaten „formulierungsehrlich". Sie ist die Verfassung einer Union der Staaten und der Bürger, nicht die eines Bundesstaates. Die Mitgliedstaaten der EU sind mehr als nur die „Länder" (und seien es „Freistaaten"!) einer „Bundesrepublik Europa". Sie, nicht die europäischen Bürger, sind die Herren der Verfassung. Die Verfassung versucht nicht, den Nationalstaat des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf die europäische Ebene zu transponieren. Vielmehr bestätigt sie den Charakter der Union als einer rechtlichen und politischen Organisation „sui generis".
Mithin gehören konföderale Elemente ebenso wie föderale Elemente, vergemeinschaftete ebenso wie intergouvermentale Entscheidungsverfahren zur Grundstruktur der Union. Das eine wie das andere ist für die Union gleichermaßen konstitutiv. Das Konföderale ist weder Durchlauferhitzer zum, noch Abirrung vom Föderalen. Der vergemeinschaftete Bereich ist nicht die „eigentliche Union", die intergouvermentale Zusammenarbeit nicht das Relikt „nationaler Egoismen" oder „gouvernementalen Eigensinns". Seriöse Diskussionen sollten künftig darauf verzichten, das eine gegen das andere auszuspielen.
Keine der bekannten bundesstaatlichen Verfassungen konnte für die Unionsverfassung Modell stehen. Die Institutionen einer Staaten-Union sind nicht „verkorkste" Klone der nationalstaatlichen. Sie müssen anders sein. Das Europäische Parlament ist nicht auf dem Wege ein „richtiges" Parlament, also wie die nationalen Parlamente zu werden. Die EU-Kommission, deren unerläßliche Multinationalität politische Monochromie immer verhindern wird, ist nicht unterwegs zu einer parlamentarischen EU-„Regierung". Der Ministerrat wird keine „zweite Kammer" des Europäischen Parlaments, sondern bleibt ein aus Vertretern der nationalen Exekutiven zusammengesetztes Legislativorgan.
„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung" (Artikel I-5). Rechtlich sind in der Europäischen Union alle Staaten gleich. Politisch sind sie es nicht.[4] Sie waren es nie und werden es auch künftig nicht sein. Wo keine Gleichheit herrscht, muß Gleichgewicht hergestellt werden. Das ist ein Grundzug der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Gleichgewicht herstellen ist ein Kernelement auch der europäischen Verfassung.
Das alte Europa souveräner Staaten wollte das Gleichgewicht immer wieder auf dem Feld der Diplomatie durch Achsen und Allianzen und auf den Schlachtfeldern durch Blut und Eisen erzwingen. Das neue Europa der Union versucht, es durch gleiche Partizipation aller Staaten und eine als gerecht angesehene Gewichtung eines jeden von ihnen in gemeinsamen Institutionen zu finden. An die Stelle der alten "balance of power" treten die neue "balance of institutions" und die "balance of legitimations". Das steht hinter der Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat als „doppelte Mehrheit", der Festschreibung der degressiven Proportionalität bei der Mandatsverteilung im Europäischen Parlament und der Garantie, daß jeder Mitgliedstaat das gleiche Recht hat, einen Kommissar zu stellen.
Mit 19 von insgesamt 25 sind die kleineren" bzw. "kleinsten" Staaten in der Union klar in der Mehrheit. Sie repräsentieren aber nur ein Viertel der Bevölkerung in der EU. In einer demokratischen Union, die für alle Bürger verbindliches Recht setzt, ist eine ungewichtete Vertretung der Staaten auf die Dauer nicht hinnehmbar. Künftig wird der Rat Beschlüsse mit "doppelter Mehrheit" fassen: Eine Mehrheit der Staaten (15), die eine Mehrheit der Bürger (65 Prozent) vertreten müssen.
Gleichgewicht zwischen großen und kleinen Staaten heißt: Einerseits reicht es nicht zur Mehrheit, wenn nur die sechs großen sich einig sind. Sie brauchen immer auch wenigstens neun der kleinen. Die großen können über die kleinen nicht dominieren. Andererseits reicht es nicht, wenn alle 19 kleineren Mitgliedstaaten gemeinsam abstimmen. Damit die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten sind, müssen mindestens drei der großen dabei sein. Die 19 kleinen können die sechs großen nicht majorisieren.
Verglichen mit der bisherigen Gewichtung der Stimmen nimmt das relative Gewicht Deutschlands zu. Widerstand dagegen leisteten Spanien und Polen. Alle anderen, einschließlich Frankreich, das in Nizza eine Verschiebung der Gewichte zu Gunsten Deutschlands noch verhindert hatte, akzeptierten das Prinzip (nicht die Quoren) der „doppelten Mehrheit" erstaunlich klaglos.
Das im Konvent entworfene neue Gleichgewicht zwischen den Institutionen bleibt gewahrt. Jede der drei Entscheidungsorgane Rat, Parlament und Kommission wird gestärkt. Die von der Regierungskonferenz vorgenommene Änderung an der Mandatsverteilung im Europäischen Parlament erhöht die Degressivität der proportionalen Verteilung der Mandate, bewahrt aber das Prinzip. Die Verkleinerung der Kommission wird, bei Wahrung des gleichen Rechts auf Zugang für alle Mitgliedstaaten, zwar bis 2014 aufgeschoben, ist dann aber radikaler vorgesehen als im Konventsentwurf.
V
Fünfzig Jahre lang war die Einigung Europas nach innen gerichtet: auf die Befriedung nach zwei verheerenden Kriegen und die Überwindung der Folgen der Spaltung durch die Integration von Wirtschaft und Währung und durch Aufnahme neuer Mitglieder. Die Globalisierung von Wirtschaft und Terrorismus zwingt Europa sich nach außen zu wenden. Statt mehr Integration, Stärkung der außenpolitischen, sicherheitspolitischen und militärischen Zusammenarbeit und die Konstituierung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Das ist ein Paradigmenwechsel der europäischen Einigung. Die Verfassung trägt ihm Rechnung, wenn auch möglicherweise nicht ausreichend.
Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Mit ihrem ökonomischen und technologischen Potential beeinflusst Europa Entwicklungschancen, Ressourcentransfers und Stabilität überall in der Welt. So, wie sie heute gebaut ist, kann die Union ihrer globalen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie ist außen- und sicherheitspolitisch nicht führbar, schon gar nicht in Krisensituationen. Das Zaudern der EU auf dem Balkan vor zehn Jahren und die Spaltung der EU über die Beteilung am Krieg gegen den Irak vor zwei Jahren sind dafür nur zwei besonders gravierende Beispiele.
Zu den Novitäten in der Verfassung gehören das Amt eines Europäischen Außenministers und die Schaffung eines europäischen diplomatischen Dienstes. Gewiß macht ein Außenminister allein noch keine Gemeinsamkeit. Aber er kann zumindest dafür sorgen, daß Gemeinsamkeit zustande kommt und zwar schneller als bisher. Das ist die Essenz seines Amtes. Daran, nicht an der Zahl und dem Rang seiner außereuropäischen Gesprächspartner, wird er gemessen werden.
In Kernfragen der Außenpolitik, der Sicherheit und der Verteidigung gibt es noch keine feste Gemeinsamkeit. Das wäre auch dann so, wenn die Verfassung das Zustandekommen von Entscheidungen und gemeinsamen Aktionen stärker erleichtert hätte, etwa durch eine weitere Lockerung des Zwangs zur Einstimmigkeit. Gemeinsamkeit läßt sich nicht per Mehrheitsbeschluß herstellen und schon gar nicht durchsetzen. Sie muß "entstehen". Dafür braucht Europa Zeit, aber die steht nicht unbegrenzt zur Verfügung.
Die neue Weltordnung bildet sich heraus. In den nächsten zwei, drei , nicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren entscheidet sich, ob die europäischen Staaten einzeln zum Spielmaterial für andere Mächte auf der Erde werden oder ob die Union Mitspieler im Interesse aller wird. Die Verfassung bindet die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik fest an das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen. In EU-weiten Meinungsbefragungen erhält die Forderung nach mehr Gemeinsamkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik mit zwei Dritteln der EU-Bürger regelmäßig die stärkste Unterstützung.[5]
VI
Fördert die Verfassung die Bildung einer europäischen Identität? Als bloßer Text gewiß nicht - und nicht nur, weil er natürlich die Kürze, Stringenz und sprachliche Wucht der amerikanischen Verfassung bei weitem nicht erreicht. Europäische Identität entsteht aus vielem, aus Erfolgen und auch aus Mißerfolgen gemeinsamen Handelns nach außen, aus Selbstvergewisserung durch die Gemeinsamkeiten in Geschichte, Kultur, Religion, Werthaltung. Identität läßt Neues zu, ist aber immer auch Abgrenzung. Es geht um gemeinsame Werte und Grenzen.
Die Frage nach den Grenzen der Europäischen Union beantwortet die Verfassung nicht. Verfassungstheoretisch mag dieser Verzicht unbefriedigend sein, politisch-praktisch ist er nicht zu vermeiden. So gewiß Europa Grenzen hat, so ungewiß ist es, wo sie liegen. Die geografischen Grenzen sind nicht die gleichen wie die historischen, die wiederum sind verschieden von den kulturellen oder religiösen, die ihrerseits mit den wirtschaftlichen nicht übereinstimmen usw.. Unbestimmtheit ist geradezu ein Wesensmerkmal Europas. Die Verfassung kann also keine eindeutigen Vorgaben für die politischen Grenzen Europas machen. Sie können nur als Ergebnis politischer Entscheidungen bestimmt werden.
Für den Beitritt weiterer Staaten zur Union gibt die Verfassung zwei Bedingungen vor: Es müssen europäische Staaten sein. Und sie müssen die Werte der Union achten und sich verpflichten, ihnen Geltung zu verschaffen (Artikel I, 1 Abs. 2). Natürlich impliziert der Beitritt zur Union die Verpflichtung, die in der Verfassung festgelegten Ziele der Union zu verfolgen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, alle Rechte zu respektieren und alle Pflichten zu erfüllen, die aus der Verfassung fließen.
Ob ein Staat „europäisch" ist, bestimmt nicht die Verfassung, sondern der Europäische Rat. Als er 1999 der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannte, hat er damit auch beschlossen, daß dieses Land ein europäisches ist. Ob ein Staat die Garantie bietet, daß er die Werte der Union achten und ihren Geltung verschaffen kann, entscheiden die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament. Ob sie sich dabei nicht nur an der Beitrittsfähigkeit des Kandidatenstaates, sondern auch an der Aufnahmefähigkeit der Union orientieren, hängt vom Ergebnis ihrer politischen Interessenabwägung ab.
Dem Leitspruch „In Vielfalt geeint": (Artikel I-8) entsprechend findet Europa seine Identität in der Einheit, nicht in der Einheitlichkeit. Die Europäische Union löst die europäischen Völker nicht auf und macht aus ihnen ein europäisches Volk. Sie vereinigt sie, aber sie verschmilzt sie nicht. Die Europäer bleiben in lokalen, regionalen und nationalen Bezügen zu Hause.
Europäische Identität läßt sich nicht nach dem Bild nationaler Identitäten modellieren. Wir sollten es - ob mit oder ohne Verfassung - auch nicht versuchen. Solange in Europa Nationen bestehen - und sie werden, wenn auch nicht ewig, so doch noch lange bestehen - werden sie natürlich auch in ihren eigenen Staaten leben wollen. Eine europäische Identität wird kein Ersatz für nationale Identität sein, aber ein notwendiger Zusatz.
Die europäische Verfassung ist zwar bei weitem nicht ausreichend, aber doch unerläßlich auf dem Weg zu einer europäischen Identität. Mit der Charta der Grundrechte drückt sie aus, daß die Union nicht nur zur Sicherung der Freiheiten des Marktes, sondern auch um der Freiheitsrechte der europäischen Bürger willen besteht. Und mit der Verpflichtung (Artikel I-3,4) zu „Frieden, Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung der Erde" beizutragen, zeigt sie an, daß die Union nicht nur um ihrer selbst willen existiert. Wenn sich beides im Handeln der Union wiederfindet, wird daraus europäische Identität wachsen.
[1] Ausführlicher dazu Klaus Hänsch „Der Konvent - unkonventionel", in: Integration Berlin, 4 / 2003, S. 331-337.
[2] Zur deutsch-französischen Kooperation im Konvent und danach s.a. Klaus Hänsch „La France, l`Allemagne et la Convention", in: Documents - Revue des questions allemandes, Paris, 3/2003, S. 43-45
[3] Vgl. Klaus Hänsch in: Integration Berlin, 4 / 2003.
[4] Ausführlicher dazu Klaus Hänsch, „Beschreiben was sein kann: der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents", in Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, Berlin, 3 / 2003, S. 299-312.
[5] Vgl. Europäische Kommission, Eurobarometer 61.0, Spring 2004 und Eurobarometer 48.0, Autumn 1999
"Einigung bei der Verfassung ist wahrscheinlich" (25.03.2004)
Interview mit KLAUS HÄNSCH auf tagesschau.de, 25.03.2004
Noch bis vor kurzem sah es nicht gut aus für die europäische Verfassung. Der Brüsseler Gipfel im Dezember war am Widerstand Spaniens und Polens gescheitert, die Verhandlungen über das neue Vertragswerk der Union lagen auf Eis. Dann überraschend Bewegung: Die neue spanische Regierung kündigte an, ihre Blockade aufzugeben, und inzwischen gibt sich auch Polen kompromissbereit. Hat die EU-Verfassung wieder eine Chance? tagesschau.de sprach darüber mit Klaus Hänsch. Er ist Vertreter des Europa-Parlaments in der Regierungskonferenz und arbeitete im Konvent mit am Entwurf der Verfassung.
tagesschau.de: Ist eine Einigung in den vergangenen Tagen wieder näher gerückt?
Klaus Hänsch: Ich glaube, dass eine Einigung jetzt wieder in den Bereich der Wahrscheinlichkeit gerückt ist. Vielleicht gibt es sie noch nicht in den nächsten Wochen, aber doch in den nächsten zwei, drei Monaten.
tagesschau.de: Wie könnte der weitere Fahrplan aussehen?
Klaus Hänsch: Zunächst werden sich die Staats- und Regierungschefs am Freitag beim Gipfel damit befassen. Sie werden erste Skizzen für die noch offenen vier Fragen diskutieren und die irische Ratspräsidentschaft beauftragen, einen Vorschlag vorzulegen. Die Iren werden diesen Vorschlag sicher noch bis zum Ende ihrer Amtszeit vorlegen wollen. Das heißt, es gibt gute Aussichten, dass es bis zur Jahresmitte einen beschließbaren irischen Vorschlag gibt.
tagesschau.de: Sie erwähnten vier offene Punkte. Welche sind das?
Klaus Hänsch: Das ist erstens das Problem der doppelten Mehrheit, zweitens die Zahl der Kommissare. Drittens geht es darum, ob Mehrheitsentscheidungen im Bereich Innen- und Justizpolitik ausgedehnt werden oder ob es dort eine Rückkehr zur Einstimmigkeit gibt. Viertens geht es um die Frage, wie die Verfassung künftig verändert werden kann. Also: Muss in allen Punkten und für jede einzelne Änderung die Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten vorliegen oder gibt es bestimmte Bereiche, in denen ein vereinfachtes Verfahren der Verfassungsänderung vorgesehen wird?
tagesschau.de: Wie hat sich der Konvent das beim letzten Punkt gewünscht?
Klaus Hänsch: Der Konventsvorschlag sieht eine solche größere Flexibilität vor.
tagesschau.de: Für Polen war bisher der Knackpunkt die doppelte Mehrheit. Was glauben Sie: Wie weit wird man der Regierung in Warschau entgegenkommen?
Klaus Hänsch: Es gibt mehrere Möglichkeiten, zu einer Lösung zu kommen. Voraussetzung ist allerdings, dass das Prinzip der doppelten Mehrheit klipp und klar in der Verfassung steht. Über die genaue Ausgestaltung dieser doppelten Mehrheit – also die Prozentsätze von Mitgliedsstaaten und vom Anteil der Bevölkerung - wird man sicher verhandeln können.
tagesschau.de: Wagen Sie eine Prognose, auf welches Verhältnis man sich letztlich einigen wird?
Klaus Hänsch: Im Augenblick sieht es ja so aus, als könnte 55/55 eine Lösung sein - also 55 Prozent der Mitgliedsstaaten mit mindestens 55 Prozent der EU-Bevölkerung. Auch andere Prozentsätze sind denkbar - solange nicht die Schwelle höher gelegt wird als im Vertrag von Nizza. Es gibt darüber hinaus noch andere Möglichkeiten. Man könnte sich etwa darauf verständigen, dass für eine bestimmte Zeit - sagen wir fünf Jahre nach Inkrafttreten des Verfassungsentwurfs - jeder Mitgliedsstaat verlangen kann, in für ihn wichtigen Fragen nach den Nizza-Regeln abzustimmen. Eine weitere Möglichkeit wäre es zu sehen, ob man beispielsweise Kompensation anbietet über die Zahl der Mandate im Europäischen Parlament; ich hielte das allerdings für eine schlechte Lösung. In diesem Spektrum bewegen sich die Möglichkeiten, wenn man ernsthaft nach Lösungen sucht. Ich habe aber gerade in den letzten Tagen den Eindruck, dass alle Beteiligten eine Lösung auch wollen.
tagesschau.de: Eine Einigung der Staats- und Regierungschefs ist sicher ein wichtiger Schritt. Mehrere Staaten haben aber bereits angekündigt, dass sie den Entwurf erst nach Volksentscheiden ratifizieren wollen. Was passiert, wenn der Verfassungsentwurf in einem oder mehreren Ländern vom Volk abgelehnt wird?
Klaus Hänsch: Die Vertragsregeln sind da ganz eindeutig: Alle Mitgliedsstaaten müssen die Verfassung ratifizieren. Lehnt nur ein Staat ihn ab, kommt der Verfassungsvertrag nicht zustande. Wir haben für diesen Fall im Entwurf vorgesehen, dass sich die Staats- und Regierungschefs dann zusammensetzen und beraten müssen, wie es weiter geht. Dann können sicher ungewollte Entwicklungen in Gang gesetzt werden. Das allerdings sind alles Spekulationen, die ich nicht anstellen möchte. Ich gehe davon aus, dass alle Mitgliedsstaaten um die Verfassung kämpfen.
tagesschau.de: Es wird also auch darauf ankommen, wie die Verfassung den Bürgern nahe gebracht wird...
Klaus Hänsch: Darauf wird es ankommen. Der dänische Regierungschef beispielsweise hat schon vor mehreren Monaten angekündigt, dass es für ihn bei der Verfassung nicht um eine bessere oder schlechtere Lösung geht, sondern um ein Ja oder Nein Dänemarks zur EU. Sollten die Dänen also Nein sagen zur Verfassung, würde Dänemark aus der EU ausscheiden. Damit wird die dänische Bevölkerung vor eine wirklich klare Entscheidung gestellt.
tagesschau.de: Ist das ein Plädoyer dafür, dass andere Regierungen dies ebenso klar kommunizieren sollten?
Klaus Hänsch: Ich glaube, die jeweiligen Stimmbürger müssen wissen, dass es bei ihrer Entscheidung nicht um den einen oder anderen Satz in der Verfassung geht oder um den Artikel X oder Y. Sie müssen wissen, dass es um ein grundsätzliches Ja oder Nein geht zum Fortgang der europäischen Einigung, um das Dabeisein-Wollen oder das Nicht-Dabeisein-Wollen. Das muss sehr klar sein.
Das Interview führte Andrea Krüger, tagesschau.de
Beitrag für die Verbandszeitschrift "STÄDTE- und GEMEINDERAT“, NRW (März 2004)
Ausgabe März 2004
von Klaus Hänsch, MdEPIn der kommenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments steht die Europäische Union vor epochalen Herausforderungen.
Die Osterweiterung muß verkraftet werden. Die historisch einmalige Erfolgsgeschichte von 50 Jahren Frieden und Stabilität im Westen Europas muß in die Vereinigung ganz Europas übergeleitet werden. Das bedarf der Eingewöhnung, Geduld und gegenseitigen Verständnisses. Es wird nicht ohne Schwierigkeiten abgehen. Eine Reform der Strukturfonds wird notwendig. Wir, aus Nordrhein-Westfalen, werden im Europäischen Parlament dafür kämpfen müssen, daß der unvermeidliche Rückgang europäischer Förderung schrittweise und ohne Brüche erfolgt.
Eine neue Weltordnung bildet sich heraus. Einzeln ist jeder europäische Staat nur Spielmaterial für andere Mächte - nur gemeinsam sind sie Mitspieler. Die Europäer müssen ihren Platz in der veränderten Welt finden. Europa muß seine wirtschaftlichen und politischen Interessen in der Welt besser vertreten können.
Das geeinte Europa muss Handlungsfähigkeit beweisen bei der Lösung der großen Aufgaben der Zeit: für wirtschaftliches Wachstum und Arbeit, Umweltschutz in Europa und in der Welt, bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus in Europa.
Der Entwurf der Verfassung für Europa sollte der erweiterten Europäischen Union eine neue Basis geben. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten konnten sich jedoch auf der Regierungskonferenz im Dezember 2003 über den Verfassungsentwurf nicht einigen. Sie haben eine Chance vertan. Das neugewählte Europäische Parlament darf nicht zulassen, daß die Verfassung in den Archiven der Geschichte verschwindet. Sie muß beschlossen und in Kraft gesetzt werden. Das ist nicht zuletzt auch im Interesse der Länder und Kommunen.
Der Verfassungsentwurf hebt an mehreren Stellen die hohe Bedeutung der Gemeinden für den Aufbau und das gute Funktionieren Europas hervor. Zum erstenmal in der Geschichte der Europäischen Union wird die „lokale und regionale Selbstverwaltung" ausdrücklich anerkannt, geachtet und geschützt. Die Organisation öffentlicher Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene wird in all ihrer Vielfalt als Teil der nationalen Identitäten respektiert.
Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Mitgliedstaaten und Union ist präzisiert und klarer geordnet worden: Damit wird eine langjährige deutsche Forderung, vor allem aus den Bundesländern, erfüllt. Die Bürger werden künftig besser als bisher erkennen können, was die Union tun muß, was sie tun kann und was sie nicht tun darf.
Die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind eindeutiger gefaßt worden. Die Europäische Kommission muß bei jedem europäischen Gesetzesentwurf prüfen, ob er die Regionen und Kommunen verwaltungsmäßig oder finanziell übermäßig belastet. Auch die anderen europäischen Institutionen werden verpflichtet, bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen, inwieweit sich eine europäische Regelung auf die Kommunen und Regionen in der Union auswirkt. Die nationalen Parlamente und der Ausschuß der Regionen werden an der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips beteiligt.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 werden die wichtigsten seit der ersten Wahl 1979 sein. Das Europäische Parlament ist längst kein bloßes Beratungsorgan mehr. Es ist ein Gesetzgebungsparlament. Die Mehrzahl der europäischen Gesetze wird inzwischen im Europäischen Parlament mit Mehrheit entschieden. Sie reichen tief in die Politik der Mitgliedstaaten und in das Leben der Bürgerinnen und Bürger hinein, tiefer als vielen bewußt ist. Sie setzen den Rahmen für zahlreiche landespolitische und kommunale Entscheidungen. Es sind die Städte und Gemeinden, die einen großen Teil des europäischen Rechts anwenden müssen.
Schon der jetzige EG-Vertrag verpflichtet die Union, mit dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse so gestaltet sind, daß sie ihren Aufgaben nachkommen können. Daseinsvorsorge ist der klassische Fall für die konsequente Anwendung des Prinzips der Subsidiarität. Das gilt für die Definition, was zur Daseinsvorsorge gehört und für die Organisation der Daseinsvorsorge.
Eine für ganz Europa gültige Definition von "Daseinsvorsorge" gibt es nicht. Was Franzosen und Briten "service public" oder "public services" nennen, ist nicht genau das gleiche, was bei uns Daseinsvorsorge umgreift. Zwischen dem Nordkap und Sizilien, dem Berg Athos und den irischen Hochmooren ist das "Dasein" eben nicht überall gleich. Es gibt unterschiedliche historische Erfahrungen und daher verschiedene Erwartungen der Menschen. Das darf nicht einfach über einen Leisten geschlagen werden. Vor allem: Nicht die EU-Kommission sollte definieren, was solche Dienste sind und wie die Grundsätze und Bedingungen für ihr Funktionieren aussehen, sondern das Europäische Parlament und der Ministerrat - als EU-Gesetzgeber. Die Kommission sollte allenfalls die Mißbrauchskontrolle ausüben . Der Verfassungsentwurf schafft dafür die Grundlage.
Für die europäische Gesetzgebung wie für die Wettbewerbskontrolle im Bereich Daseinsvorsorge müssen fünf einfache Grundregeln gelten:
1. Wir müssen immer wieder prüfen, ob das, was wir als Daseinsvorsorge ausgeben,
wirklich Daseinsvorsorge ist. Wer schlanker wird, wird meist auch fitter. Das gilt auch für die Daseinsvorsorge in der kommunalen Selbstverwaltung.
2. Wo Leistungen der Daseinsvorsorge durch den Markt besser erfüllt werden können, sollten wir uns seiner bedienen - wir dürfen ihn aber nicht herrschen lassen. Und wo private Dienstleister die gleichen Leistungen erbringen können wie öffentliche, sollten wir es ihnen gestatten. Unter der Voraussetzung, daß Stetigkeit, Verläßlichkeit, Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit gesichert sind - jederzeit und für jedermann.
3. Wo der Markt und Private nicht leisten können oder wollen, was wir im Interesse der Bürger und der Allgemeinheit brauchen, muß der Staat, das Land, die Gemeinde diese Leistungen erbringen - und muß sie, wenn nötig, auch durch Subventionen absichern dürfen. Die öffentliche Hand muß nicht alles selbst machen. Aber sie bleibt dafür verantwortlich, daß Daseinsvorsorge überhaupt geleistet wird.
4. Die Standards von Daseinsvorsorgeleistungen werden von den Städten und Gemeinden bestimmt. Sie müssen das Recht behalten, durch bindende Qualitätsauflagen (Universaldienstverpflichtungen) dafür zu sorgen, daß die Post auch auf dem Land zugestellt wird, daß Armut nicht von Information und Kommunikation abschneidet, daß Trinkwasser trinkbar bleibt usw.
5. Es gibt Bereiche der Daseinsvorsorge - der sozialen zumal -, die mit dem Markt nichts zu tun haben dürfen. Wenn wir alle Lebensbereiche kommerzialisieren, dann diskreditieren und zerstören wir freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeiten: Bei der Schwangerenberatung, Suchtbetreuung und Resozialisierung und bei vielem mehr, aber auch bei der Katastrophenvorsorge oder in Bildungseinrichtungen hat EU-Wettbewerbsrecht nichts zu suchen. Es geht niemanden in der EU etwas an, wie wir in Nordrhein-Westfalen, in Duisburg oder in Dortmund unsere Altenpflege organisieren.
Die Gemeinden müssen - das ist die Grundlage ihrer Existenz - den Bürgern eine Grundversorgung mit Dienstleistungen garantieren. Das wollen wir bewahren - nicht in allen hergebrachten Formen, auch nicht im hergebrachten Umfang, aber in der Substanz. Die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt und mit ihrem Kreis geht verloren, wenn die Grundversorgung nicht mehr durch ihre demokratisch gewählten Repräsentanten gesichert und gestaltet wird. Eine tragende Säule der politischen Kultur in Deutschland würde ins Wanken geraten: die kommunale Selbstverwaltung.
In Europa geht es wie in Deutschland um mehr als nur um die künftige Organisation und Definition öffentlich-rechtlicher Aufgabenerfüllung. Es geht um die Grundstruktur der gesellschaftlichen Ordnung, in der wir in der Europäischen Union leben wollen. Wieviel unseres gesellschaftlichen Lebens wollen wir dem Markt und seinen Gesetzen überlassen? Die Antwort auf diese Frage richtet sich nicht nach Zuständigkeiten, sondern nach politischen Einstellungen. Und über die wird gestritten und durch Wahlen entschieden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.
"In Defense of the European Constitution" (2.2.2004)
von Klaus Hänsch; erschienen in: PSOE Publikationen, 2.2.2004
Die Regierungen der Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten haben sich auf dem Gipfel von Brüssel im Dezember 2003 nicht auf die vom Konvent entworfene Verfassung geeinigt. Sie haben sich nicht auf der Höhe ihrer europäischen Verantwortung gezeigt und eine große Chance vertan. Europa darf jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen.Die epochalen Herausforderungen, die nach einer europäischen Verfassung verlangen, bestehen weiter: Die Union muß die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten verkraften und in die Vereinigung ganz Europas überleiten. Die Bürgerinnen und Bürger müssen besser verstehen können, warum wir Europa einigen und wie ihre Europäische Union funktioniert. Dazu braucht die Europäische Union eine klare, wertgebundene Ordnung. Sie braucht demokratische Institutionen und Verfahren. Es muß klar sein, wer, wann, was und mit welcher Legitimität in Brüssel und Straßburg entscheidet. Die Welt und ihre neuen Herausforderungen warten nicht. Europa ist keine Weltmacht, aber es muß fähig werden, die Verantwortung einer Weltmacht zu übernehmen. Nur gemeinsam können sich die Europäer in der sich neu herausbildenden Weltordnung behaupten.
Um diese Aufgaben zu bewältigen, braucht die Union eine Verfassung. Konzepte wie "Kerneuropa", "Europa der zwei Geschwindigkeiten", "Avantgarde" und andere sind für sie kein Ersatz. Sie werden aus Europa eine Union der Ränke und Rankünen machen. Sie führen in eine patchwork-Union, die die Bürger verwirrt und Europa disqualifiziert.
Die Union braucht nicht irgendeine Verfassung, sondern die Verfassung, die der Konvent entworfen hat. Der Verfassungsentwurf hat Unzulänglichkeiten und Ungenauigkeiten. Aber er ragt an Klarheit, Kohärenz und Konsequenz weit über die gegenwärtigen Verträge hinaus. Niemand konnte erwarten, daß die Regierungen den Entwurf des Konvents Wort für Wort übernehmen würden. Aber er ist die Grundlage für die Verhandlungen geworden. Durch seine Ausgewogenheit und sein Gleichgewicht bietet er in allen wesentlichen Elementen die Lösung an.
Das haben auch die Regierungen erkannt.
Den größten Teil des Entwurfs haben sie nahezu unverändert und kaum umstritten "durchgewunken": Das Konzept einer "Verfassung" - vor zwei Jahren in einigen Mitgliedstaaten noch ein Unwort. Die Neuformulierung eines Grundlagenteils - von manchen zu Beginn als unverantwortliches Abenteuer angesehen. Die Aufhebung der unsinnigen Pfeilerstruktur der Verträge und die Rechtspersönlichkeit für die Union - über Jahre ohne Aussicht auf Erfolg gefordert. Die Aufnahme der Charta der europäischen Grundrechte als integralen, rechtsverbindlichen Teil in die Verfassung - bis zuletzt ein Unterfangen, das in einigen Mitgliedstaaten auf erhebliche, politisch-kulturell verständliche Vorbehalte stieß. Die Straffung und Vereinfachung der Entscheidungsverfahren in der Union. Die Gesetzgebung der Union für bestimmte Bereiche der inneren Sicherheit und des Rechts. Das volle Gesetzgebungsrecht des Europäischen Parlaments auf gleicher Stufe mit dem Ministerrat als Regel - ein Quantensprung für die parlamentarische Demokratie in Europa. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Verfassung in den Archiven der Geschichte verschwindet.
Wir brauchen die Verfassung noch vor den Europawahlen. Damit geben wir den Wählerinnen und Wählern ein Zeichen der Hoffnung. Wir müssen das Momentum nutzen, das durch die erfolgreiche Arbeit des europäischen Verfassungskonvents und die erste Phase der Regierungskonferenz bis Neapel geschaffen wurde. Durch einen Aufschub bis in den Herbst wird nichts leichter und alles komplizierter. Das Europäische Parlament wird erst Ende des Jahres wieder voll arbeitsfähig. Die Einsetzung einer neuen EU-Kommission und die Besetzung der Ressorts schaffen eine komplizierte Lage. Vom Herbst an würden die Verhandlungen über die neue finanzielle Vorausschau und die Verfassung parallel laufen - und sich gegenseitig belasten. In den großen Konflikten wie im Irak, im Nahen Osten, in Afghanistan muß Europa Entscheidungen treffen. Nationale Wahlen in mehreren Mitgliedstaaten können die politischen Mehrheiten verändern und den schon gefundenen Konsens in Frage stellen. Alles das spricht dafür, die Verfassung noch vor den europäischen Wahlen zu beschließen.
Wir unterstützen die irische Ratspräsidentschaft darin, in den kommenden Wochen eine Einigung zwischen den Regierungen über die offenen Punkte der Verfassung herbeizuführen. Aber auch wenn wir auf Tempo drängen, müssen wir uns bewußt sein, daß die Regierungen nicht ein zweites Mal scheitern dürfen. Es ist wie im Weitsprung: Wir müssen Anlauf und Schrittfolge so einrichten, daß wir den Absprungbalken treffen. Bei einem weiteren Fehlversuch wäre die europäische Verfassung aus dem Wettbewerb. Das wäre der Anfang vom Ende der Einheit Europas.
Auszüge aus dem Interview von Erika Mann, SPD MdEP, mit Klaus Hänsch am 10.12.2003 in Brüssel (10.12.2003)
EM: Welche Erfahrungen hast Du als Vertreter des Europäischen Parlaments im Konvent gemacht?
KH: Der Konvent war eine einmalig positive Erfahrung in der europäischen Politik. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben, dass sich für die Reform eines internationalen Vertrages Abgeordnete aus nationalen Parlamenten, dem Europäischen Parlament, Regierungsvertreter und Kommissare zusammenfinden und zu einem konsensualen Ergebnis kommen. Dass ich im Präsidium dieses Konvents an der Verfassung mitschreiben konnte, gehört zu den Höhepunkten meines politischen Lebens.
EM: Wie hast Du dich selbst wahrgenommen in Deiner Rolle als Parlamentsvertreter in der Regierungskonferenz?
KH: Was mir selber nicht so klar war und ich jetzt erst gelernt habe, ist, dass bei den bisherigen Regierungskonferenzen die Vertreter des Parlaments nur Beobachter waren. Auf der Ministerebene sind sie ab und zu mal zum Essen eingeladen worden. Jetzt sind wir als "Vertreter" des EP von Anfang bis Ende an den Sitzungen auf der Ministerebene beteiligt. In der Art und Weise, wie wir uns beteiligen können, ist kein Unterschied spürbar zu Ministern oder der EU-Kommission. Die einzige Einschränkung ist, dass wir nicht abstimmen können. Aber wir können alles was wir für nötig halten, was unsere Interessen berührt oder Lösungen für Probleme der Regierungen völlig gleichberechtigt und gleichbeachtet vortragen.
EM: Wenn man sich Europa anschaut, haben wir derzeit viele konservativ regierte Staaten und einige sozialdemokratisch regierte Länder. Gab es in der Regierungskonferenz einen Unterschied, wie verhandelt wird, wie die Vision Europas gesehen wird?
KH: Ein ganz klares Nein. Alle sind zuerst Regierungschef ihres Staates und nicht Sozialdemokrat oder Christdemokrat. Das einzige ist, dass man sich bei den Sozialdemokraten wie auch bei der EVP vor Gipfeltreffen mit den Parteifreunden trifft und dort schon Dinge besprechen kann. Das verändert zwar nicht die Position aber es verändert das Verständnis für die Positionen der anderen, weil dies dann in einem freundschaftlicherem Rahmen als inden formellen Sitzungen geschieht.
EM: Welche Entwicklung hat das EP seit 1979 durchgemacht?
KH: Wer das seit der ersten Direktwahl mitgemacht hat, ist
überwältigt von dem, was aus dem Europäischen Parlament geworden ist.
Als ich vor 25 Jahren anfing, hatten wir weder Sitzungssäle noch Büros,
wir mussten unsere Mäntel auf die Sitzungsstühle legen, wir hatten keine
Telefone, jedenfalls nicht ausreichend für die Zahl der Abgeordneten.
So haben wir angefangen! Wir hatten als einziges handhabbares
Entscheidungsrecht die Mitentscheidung über den Haushalt. Der heutige
Zustand ist wie Tag und Nacht im Vergleich zu damals. Das EP ist
Mitgesetzgeber in der EU und die Abstriche, die es da noch gibt, werden
wir durch die Verfassung noch beseitigen. Das EP ist ein Ziel von
Lobbyisten aus allen Bereichen geworden. Das ist ein Indiz dafür, dass
es wichtig ist, was hier geschieht.
Man kann es persönlich auch so
sehen: Als ich anfing, waren wir Kolleginnen und Kollegen gegen 10 Uhr
im Parlament und konnten uns gegen 17 bis 18 Uhr gemütlich zum
Abendessen begeben und zwischendurch gab es ein paar Telefonate. Noch
als ich Präsident war und um 8 Uhr morgens ins Parlament ging, war ich
fast der erste; wenn ich abends um 21 Uhr das Parlament verließ meist
der letzte. Wenn ich heute um 8 Uhr ins Parlament komme, ist da schon
Betrieb und wenn ich abends um 21 Uhr gehe immer noch. Das ist ein Beleg
dafür, dass das, was wir tun, wie wir arbeiten, wie wir wahrgenommen
werden, sich enorm verbessert hat. Und nun kommt der typische
Parlamentarier und sagt: Es könnte noch besser werden.
EM: Gibt es ein Theaterstück oder eine Oper, die Dich in letzter Zeit besonders beeindruckt hat?
KH: Ich habe vor einiger Zeit "Tristan und Isolde" in einer Aufführung der Berliner Staatsoper gesehen, und ich war entsetzt, dass ich erst so spät in meinem Leben dazu gekommen bin.
EM: Gibt es eine Leitfigur, an der Du Dich orientierst?
KH: Wenn ich mich selbst einschätze, bin ich Eklektiker, d.h. ich bin
ganz gut darin zu sammeln, zu beobachten, wie andere sich möglichst
erfolgreich natürlich verhalten und dann zu gucken, was ich davon
adaptieren kann. Da war ich zum Beispiel ganz am Anfang des Europäischen
Parlaments mit einer Besuchergruppe im Rathaus von Straßburg, als
gerade auch der damalige Europaabgeordnete und Kaisersohn Otto von
Habsburg mit einer Besuchergruppe dort war. Und da habe ich ihm
zugesehen wie er sich, offensichtlich trainiert von Jugend an, *dem
Volk* gegenüber verhielt. Wie freundlich und ohne sich zu
kompromittieren er auf die Menschen zuging.
Das gilt auch für
politischere Situationen: Das Verhalten in Fachgesprächen, auch in
Reden. Als Pressesprecher von Johannes Rau habe ich zum Beispiel
gelernt, zu Beginn das Thema etwas aufzulockern. Ich beherrsche das
nicht mit rauschender Meisterschaft, aber hin und wieder gelingt es mir.
So habe ich schon frühzeitig versucht mir bei anderen etwas abzugucken,
aber nie das ganze Verhalten oder die gesamte Position einer Person.
EM: Ein Vorwurf, dem sich Politiker oft ausgesetzt sehen, ist, dass sie zu weit von der Basis entfernt seien. Wie stehst Du dazu?
KH: Ich habe mehr Kontakt mit sogenannten normalen Menschen als viele in anderen Berufen und ich bekomme an der so genannten Basis mehr erzählt als viele andere. Ein Beispiel: Anfang 1999 als gerade die Diskussion um das 630-Mark-Gesetz diskutiert wurde, habe ich eine Grubenfahrt gemacht. Da fährt man so nebeneinander in der Lore und kommt ins Gespräch. Nach der Fahrt wusste ich, dass das nichts wird mit unseren Vorstellungen, weil die mir sagten: „Also meine Frau, die will auch was nebenbei machen. Und wenn das alles jetzt so kommt, dann lohnt sich das für uns nicht mehr." Die Menschen schildern es aus ihrer Situation. Da muss man nicht jeden Satz nehmen, wie er gesagt wird, aber man muss in die Sätze und Worte hineinhören.
Hänsch: „Bei Scheitern drohen Auflösungserscheinungen“ (10.12.2003)
Frage: Krankt die Verfassungsdebatte an der falschen Reihenfolge: In Nizza hat man die EU-Erweiterung fixiert, ohne zu wissen, wie das neue Europa funktionieren soll?
Hänsch: Es ging in Nizza darum, dass die Erweiterung der EU überhaupt beschlossen werden konnte. Das hat alle Regierungen letztlich dazu bewogen, einen Vertrag zu unterschreiben, der sich nicht um die Zukunftsfähigkeit der Institutionen in einer Gemeinschaft mit 25 oder 27 Mitgliedsstaaten kümmerte. Damals wurde die Beantwortung zentraler Fragen vertagt. Wer daraus einen Vorwurf ableiten möchte, muss ihn an die gesamte EU richten.
Frage: Polen und Spanien nehmen den faulen Kompromiss von Nizza wörtlich und reklamieren für sich das dort verabredete Stimmengewicht. Hat man ihnen nicht gesagt, dass der Vertrag mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern geschlossen wurde?
Hänsch: Es geht doch nicht um gekreuzte Finger! Es musste in Nizza jedem klar sein, dass der dort geschlossene Vertrag nicht das letzte Wort sein kann, wenn Europa handlungsfähig bleiben will.
Frage: Verstehen Sie die besonderen Verlustängste Polens, das in der Geschichte oft genug über den Tisch gezogen wurde?
Hänsch: Niemand will Polen über den Tisch ziehen. Es soll nur entsprechend seiner Bevölkerungszahl gewichtet werden. Das gilt für alle. In Nizza war das leider nicht der Fall. Da hat man Spanien und Polen, die beide rund 40 Millionen Einwohner zählen, jeweils 27 Stimmen im Ministerrat zugestanden, Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern lediglich 29 Stimmen. Das ist ein Ungleichgewicht, das der Gemeinschaft auf Dauer nicht gut bekommt.
Frage: Der Streit um die Stimmen erweist sich als Hauptkonflikt. Welche Kompromissmöglichkeiten sehen Sie?
Hänsch: Das Prinzip der doppelten Mehrheit bei künftigen Abstimmungen, also des fairen Ausgleichs zwischen der Mehrheit der Staaten und der Mehrheit der Bevölkerungen, muss gewahrt bleiben. Bei der Definition, was eine Mehrheit ist, sehe ich Spielräume: So kann darüber verhandelt werden, ob man für Entscheidungen 50 Prozent der EU-Staaten benötigt, die zugleich 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, oder umgekehrt. Die Feinabstimmung ist hier diskutierbar, nicht aber das Prinzip.
Frage: Muss die Verfassung denn unbedingt an diesem Wochenende stehen?
Hänsch: Durch längeres Beraten wird nichts besser. 2004 haben wir Europawahl, eine neue EU-Kommission tritt an, die europäischen Finanzverhandlungen beginnen - im Umfeld dieser Termine dürfte die Einigung noch schwerer fallen.
Frage: Außenminister Fischer hat bei einem Scheitern der Verhandlungen vor einem „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" gewarnt. Was bedeutet das?
Hänsch: Diese Europäische Union hätte ihre Zukunft verspielt. Die Solidarität der Gemeinschaft ginge verloren. In jedem Politikbereich von der Verteidigung bis zum Umweltschutz würden sich einzelne Staaten auf eigene Faust zu Allianzen verbünden und vorangehen, während andere zurückbleiben müssten. Es wäre die Auflösung der EU in einen Klub der Grüppchen.Interview von Klaus Hänsch im ZDF-Morgenmagazin zur Regierungskonferenz über den Verfassungsentwurf für die Europäischen Union (08.12.2003)
MdEP/SPD Dr. Klaus H ä n s c h zur Debatte über den Entwurf der Europäischen Verfassung
Frage (Juliane Hielscher): In dieser Woche entscheidet sich, welche Verfassung sich das künftige Europa gibt... Der EU-Konvent hatte schon einen Kompromiss entworfen... Je mehr Einwohner ein Land hat, desto mehr Einfluss sollte es auch haben. Das meinen Italiener und Deutsche. Die Spanier fühlen sich aber dadurch benachteiligt und lehnen den Entwurf des Konvents in dieser Frage ab. Sehen Sie da überhaupt noch eine Kompromissmöglichkeit?
Antwort: Ich glaube, dass es die Möglichkeit zu einem Kompromiss gibt, wenn man das Prinzip wahrt, dass in einer Union der Bürger und der Staaten zunächst einmal eine Mehrheit der Staaten zu Stande kommen muss, die aber dann auch eine Mehrheit der Bevölkerung in der Europäischen Union vertreten müssen. Das sind die beiden Stellschrauben, an denen man drehen kann, wenn das Prinzip dieser doppelten Mehrheit erhalten bleibt und wenn man nicht die Schwelle für das Zustandekommen von Entscheidungen, die vor einigen Jahren in Nizza auf dem Gipfel gefunden worden ist, wieder erhöht.
Frage: ... Die kleinen Staaten wollen jeweils einen eigenen stimmberechtigten Kommissar. Das wären dann künftig 25 Kommissare. Der Konventsentwurf sieht aber nur 15 in einem Rotationsprinzip vor. Wie sind hier die Signale? Ist es möglicherweise ein weiterer Stolperstein für die künftige Verfassung?
Antwort: Das ist ein Stolperstein, aber ich glaube, den kann man überschreiten. Die Kommission wird nicht 15, sondern mehr Kommissare haben. Die Luxemburger haben eine sehr gute Kompromissformel vorgelegt, indem sie gesagt haben, lasst uns 18 stimmberechtigte Kommissare nehmen - und nur 18 -, und alle zwei Perioden, das heißt dann alle zwei mal fünf Jahre rotieren die 25, oder dann auch mehr, Staaten in die Kommissionen hinein... Alle zwei Perioden (wird dann) jeder Staat, auch die großen, auf einen Kommissar verzichten müssen...
Frage: Schröder und Berlusconi haben aber gestern noch einmal (darüber) gesprochen und sich in beiden Fragen eindeutig unbeweglich gezeigt. Das hört sich ein bisschen so an, als ob die Regierungskonferenz schon vorbei wäre, bevor sie überhaupt angefangen hat, oder?
Antwort: ... Ich gehe davon aus, dass eine Reihe von Fragen heute mit den Außenministern so vorgeklärt werden können, dass die Regierungschefs am Wochenende nur noch Ja oder Nein sagen müssen und dass zwei oder drei kritische Fragen, darunter die mit der Mehrheit im Ministerrat und auch die der Zahl der Kommissare, am Sonnabend dieser Woche beschlossen werden, denn wenn man bis Sonnabend keine Lösung findet, dann findet man sie auch in zwei Monaten nicht. Die Probleme sind klar, die Lösungsmöglichkeiten liegen auf dem Tisch. Jetzt muss man sich entscheiden.
Frage: Konventspräsident Giscard d' Estaing hatte auch schon einmal gesagt, lieber keine Verfassung als eine schlechte Verfassung. Das wäre ja auch immer noch eine Option. Wäre das so schlimm, wenn Europa künftig keine Verfassung hätte...?
Antwort: Das wäre schlimm, genauso schlimm, wie eine schlechte Verfassung, weil das Vertrauen der Menschen in die Reformfähigkeit der Europäischen Union dann verloren ginge. Wir müssen jetzt, wo sich die Europäische Union nun auf 25 und danach auch noch weiter erweitern wird, dafür sorgen, dass sie eine feste, neue, solide Grundlage bekommt. Der Verfassungsentwurf des Konvents ist das. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass dieser Entwurf in seinen Grundelementen erhalten bleiben wird und dass dann ab Dezember die Europäische Union eine zunächst unterschriebene Verfassung hat, die dann allerdings, und das ist ja die allerhöchste Hürde, in allen Mitgliedstaaten akzeptiert ... (und) nach deren verfassungsmäßigen Regeln ratifiziert werden muss. Das wird noch zwei Jahre dauern.
Der Zeitplan kann noch eingehalten werden (21.11.2003)
In drei Wochen soll beim Gipfel in Brüssel die EU-Verfassung verabschiedet werden. Ist das zu schaffen?
Dieser
Zeitplan kann eingehalten werden. Die Regierungskonferenz diskutiert ja
nicht mehr den gesamten Verfassungsentwurf. Die Debatte konzentriert
sich auf ein paar Punkte, von denen einige allerdings wichtig sind. Wenn
man dafür bis Mitte Dezember keine Lösung gefunden hat, wird man sich
auch in einer Verlängerung nicht einigen.
Wo liegen die Knackpunkte?
Das beginnt mit der
Präambel, in der der Gottesbezug umstritten ist. Diskussionen gibt es
außerdem über die künftige Zahl der Kommissare und über die
Stimmengewichtung im Ministerrat. Das sind die wichtigsten Punkte, über
die noch Einigkeit herbeigeführt werden muss.
Haben die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bei den laufenden
Verhandlungen die Lehren aus jenem Geschacher von Nizza gezogen, an
dessen Ende ein Vertrag stand, der den Ansprüchen nicht genügte?
Es
gibt auch dieses Mal einige, die darauf warten, dass das Verfahren
wieder genauso läuft wie in Nizza. Andere haben dazugelernt,
beispielsweise die deutsche und die französische Regierung, aber auch
die Belgier, Niederländer, die Dänen und Luxemburger. Auch die
italienische Präsidentschaft bemüht sich sehr, es anders zu machen als
seinerzeit die Franzosen.
Und wer stellt sich quer?
Dazu gehören ganz sicher Spanien und Polen, aber auch Österreich.
Stichwort Polen. Da steht immer noch die Drohung im Raum, die
gesamte Verfassung gegebenenfalls scheitern zu lassen. Ist das ernst zu
nehmen?
Natürlich muss das ernst genommen werden. Ich gehe aber
davon aus, dass Polen sich nicht nur auf seine nationale, sondern auch
auf seine europäische Verantwortung besinnen wird, die es mit dem
Beitritt zur EU übernimmt.
Wie erklären Sie sich diese starre Haltung der Polen?
Ich
habe dafür zwei Erklärungen. Zum einen haben wir es in Polen mit einer
schwierigen innenpolitischen Situation zu tun. Dort gibt es ein größeres
Lager von populistischen Nationalisten, dem man möglichst wenig
Angriffsfläche bieten möchte. Außerdem ist anscheinend auch ein Teil der
politischen Führung Polens noch nicht in der EU angekommen.
Wie kommt Polen, wie kommt die EU aus dieser Lage heraus?
Ich
fürchte, dass sich die Polen bei der Frage der Stimmengewichtung
dermaßen tief eingegraben haben, dass sie da ohne Gesichtsverlust kaum
noch herauskommen. Mit einer solchen Haltung kann man keine europäische
Politik machen. Um es auf den Punkt zu bringen: Während die Spanier in
der Stimmen-Frage mit ihrer Position spielen, glauben die Polen daran.
Der deutschen Bundesregierung wird indes von Kritikern
vorgeworfen, sie agiere in der Regierungskonferenz zu defensiv,
präsentiere keine eigenen Forderungen. Muss Deutschland offensiver
werden?
Nein, die Bundesregierung verhält sich zurzeit richtig.
Noch ist es ja nicht soweit, dass die Regierungskonferenz das
Kompromisspaket des Konvents tatsächlich wieder aufschnüren will.
Solange das nicht der Fall ist, verhält sich die deutsche Regierung
klug, wenn sie dabei bleibt, dass sie am Konventsentwurf festhalten
will. Jetzt mit eigenen Forderungen zu kommen, würde die Glaubwürdigkeit
der deutschen Position erschüttern.
Weisweinkommissar - Hänsch warnt vor Änderungen am Verfassungsentwurf (16.10.2003)
- Brüssel Donnerstag 16. Oktober 2003
Der deutsche EU-Abgeordnete in der Verfassungskonferenz, Klaus Hänsch, hat die Staats- und Regierungschefs zum Festhalten am Verfassungsentwurf des Konvents aufgerufen.
Hänsch sagte der Nachrichtenagentur Reuters vor
Beginn des EU-Gipfels vom Donnerstag in Brüssel, das Parlament lehne
Änderungen am Entwurf ab. Deutlich sprach sich der frühere Präsident des
Europaparlaments gegen Kompromisse bei der Stimmgewichtung im
Ministerrat aus. Die Regierungschefs beraten darüber am
Donnerstagvormittag erstmals.
Vor allem Polen und Spanien lehnen den
Entwurf des Konvents ab, der auf eine doppelte Mehrheit von EU-Staaten
und 60 Prozent der Bevölkerung abstellt. "Wichtig aus Parlamentssicht
ist, dass es beim Prinzip der doppelten Mehrheit bleibt", sagte der
SPD-Europaabgeordnete, der einer der beiden Parlamentsvertreter in der
Regierungskonferenz ist.
Die italienische Ratspräsidentschaft will
die Verhandlungen über die Verfassung bis Dezember abschließen, hat aber
auch eine Verzögerung bis Januar in die irische Präsidentschaft hinein
nicht ausgeschlossen.
Hänsch bekräftigte seine Kritik am
Verhandlungsverlauf in der Regierungskonferenz. Statt miteinander zu
reden, hätten die Außenminister in ihren ersten beiden Gesprächsrunden
nur ihre Positionen wiederholt. Auch Gespräche beim Essen -
normalerweise ein Forum für informellere Gespräche - liefen formell ab.
Die Minister läsen ihre Positionen vor.
Das Parlament unterstütze die
Länder, die den vom Konvent erarbeiteten Verfassungsentwurf nicht mehr
aufschnüren wollten, sagte Hänsch, der als einziger Deutscher auch dem
Konventspräsidium angehört hatte. Jede Änderung drohe die Kohärenz des
Verfassungsentwurfs zu zerstören.
WEISSWEIN-KOMMISSAR FÜR KLEINE LÄNDER?
Entschieden
warnte er vor einer Vergrößerung der EU-Kommission, wie dies zahlreiche
Länder unter Wortführerschaft Österreichs fordern. Diese Forderung sei
gerade für kleinere Länder kontraproduktiv: "Sie bezahlen ihr Stimmrecht
mit Einfluss", sagte Hänsch. Es gebe nicht so viele wichtige Ressorts
in der Kommission, dass Kommissare aus 25 bis 27 Staaten mit einem
versorgt werden könnten. Wenn sich die Forderung nach einem
vollberechtigten Kommissar für jedes Land durchsetze, dann würden am
Ende die großen Länder alle wichtigen Ressorts besetzen. "Die anderen
würden abgefunden mit einem Ressort etwa für Weißwein." Der
Konventsentwurf sehe dagegen eine gleichberechtigte Rotation auf die
wichtigen Posten vor.
Hänsch lehnte den Wunsch der Europäischen Zentralbank ab, die Preisstabilität an prominenter Stelle im ersten Verfassungsartikel festzuschreiben.
"Ich habe nicht den Eindruck, dass sich der EZB-Wunsch durchsetzt", sagte Hänsch. Preisstabilität sei bereits drei Mal in der Verfassung erwähnt. Sie noch ein viertes Mal in die Verfassung zu schreiben, sei nicht sinnvoll und mache die Verfassung unübersichtlicher, sagte er. Hänsch hatte im Konvent auch die Arbeitsgruppe zur Wirtschafts- und Währungspolitik geleitet.
Sanktionen gegen Berlusconi wären wirkungslos (02.07.2003)
DLRB: Herr Hänsch, ist jemand wie Silvio Berlusconi das beste Argument für einen hauptamtlichen EU-Präsidenten?
Hänsch: Für mich schon. Der Mann kommt durch die übliche
halbjährliche Rotation der Ratsvorsitze in dieses Amt. Hätten wir einen
hauptamtlichen, gewählten Ratsvorsitzenden, dann würde sicherlich nicht
Berlusconi heute hier im Europäischen Parlament auftreten.
DLRB: Die EU ist ja auch eine Wertegemeinschaft. Entspricht
das, was Berlusconi da in Italien veranstaltet, den gemeinsamen Werten?
Hänsch: Das ist fraglich. Zumindest müssen wir festhalten, dass
die Italiener diesen Mann gewählt haben. Er verfügt ja über eine solide
Mehrheit bei den letzten Parlamentswahlen in Italien, und das muss man
schon respektieren. Da hat sich ein Volk einen Ministerpräsidenten
gewählt, von dem wir allerdings sagen, dass da eine Machtkonzentration
in Italien zusammengeballt worden ist, die eigentlich den normalen
Verhältnissen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht
entspricht. Nun muss man allerdings auch hinzufügen, dass Berlusconi auf
europäischer Ebene über die Machtmittel, die er in Italien verfügt,
nicht verfügen kann. Also können wir das im Europaparlament, denke ich,
aber auch in den anderen Institutionen der Europäischen Union etwas
entspannter sehen. Italien ist nicht ganz Europa.
DLRB: Das ist ja die Frage, die man sich jetzt stellt. Also kann
er tatsächlich die EU für seine Zwecke missbrauchen? Sie sagen, Nein.
Andere sagen, auch aus dem Grund nicht, weil ja schon die
Schwerfälligkeit des Brüsseler Apparats vor ist, also dass, bevor er
überhaupt etwas erreichen könnte, die sechs Monate auch schon wieder rum
wären.
Hänsch: Na ja, so kann man mit leicht ironischem Einschlag
natürlich auch die Schwerfälligkeit des Europäischen Apparates, sage ich
mal, nutzen. Aber das ist schon wahr, die Gewichte und Gegengewichte,
die zu jeder demokratischen Organisation gehören, funktionieren auf
europäischer Ebene eben doch noch, und das bedeutet, Berlusconi wird
sicherlich sein europäisches Amt für innenpolitische Zwecke, für
innenpolitische Propaganda nutzen wollen. Es wird sich zeigen, wie weit
das gelingt. Aber die Machtverhältnisse auf europäischer Ebene wird er
nicht verändern.
DLRB: Die EU gibt sich ja insgesamt im Fall Berlusconi sehr
gelassen. Das ist eine völlig andere Haltung, als wir das vor mehr als
drei Jahre erlebt haben, als Österreich sozusagen unter Quarantäne
gestellt worden war, wegen Jörg Haider natürlich und der
Regierungsbeteiligung seiner FPÖ. Jörg Haider war nicht
Regierungsmitglied, während Silvio Berlusconi Regierungschef ist. Ist
das nicht doch ein bisschen unverhältnismäßig?
Hänsch: Na ja, die Europäische Union einschließlich ihrer Staats-
und Regierungschefs ist ein lernfähiges System, und die Aktionen und
Sanktionen, die damals gegen Österreich vereinbart worden sind, haben
sich ja - reden wir offen und klar darüber - als Fehlschlag erwiesen.
Das würde sich auch im Fall Berlusconi so zeigen, abgesehen davon, dass
es Unterschiede gibt zwischen der Berlusconischen Formation und der
Haiderschen. Trotzdem denke ich - das galt für Österreich und das gilt
auch für Berlusconi -, man kann Vertrauen in die demokratischen Kräfte
Österreich haben. Es hat sich ja gezeigt, dass die Haider-Formation auch
wieder zurückgeschnitten wurde durch die Wähler, und das Gleiche wird
auch in Italien geschehen. Ich glaube, dass dies das bessere Mittel ist
als auf Sanktionen zu setzen.
DLRB: Dennoch: Wäre es nicht angebracht, die Kritik auch ein
bisschen lauter zu formulieren an Berlusconi, an den Immunitätsgesetzen,
ja am Aushebeln auch der Gewaltenteilung?
Hänsch: Ich denke, dass das Europäische Parlament richtig
handelt, wenn es heute mit Berlusconi nicht über italienische Fragen
diskutiert, sondern über die Fragen, in denen sich Europapolitische
Versäumnisse, Europapolitische Fehler und Unklarheiten in der
italienischen Regierungspolitik zeigen, und da gibt es ja genug. Da ist
die Frage zum Beispiel, warum blockiert Italien immer noch das
Zustandekommen eines europäischen Haftbefehls, das vor anderthalb Jahren
beschlossen worden ist? Wie sieht es aus mit der Beteiligung und
Unterstützung Italiens an einer europäischen Medienpolitik unter
Garantie der Pluralität europäischer Medien? Wie sieht es aus mit der
Frage der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsurteilen, die ja kommen
muss in einem Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts? All das
sind die Fragen, bei denen sich Europapolitische Diskrepanzen zwischen
Italien und der Europäischen Union aufzeigen, und darüber muss die
Debatte geführt werden, denn er ist ja hier nicht in erster Linie als
italienischer Regierungschef, sondern er ist hier als Vorsitzender des
Europäischen Rates.
DLRB: Und als solcher wird er sich dem Europaparlament heute auch vorstellen. Wie werden Sie ihn denn empfangen?
Hänsch: Ich denke, er wird einen kühlen Empfang und eine heiße Debatte zu erwarten haben.
DLRB: Es geht das Gerücht, dass es möglicherweise auch Aktionen gibt von kleineren Fraktionen.
Hänsch: Es wird sicherlich die eine oder andere Aktion oder demonstratives Verhalten von Kolleginnen und Kollegen aus kleineren Fraktionen geben. Es wird auf der anderen Seite die offene und demonstrative Unterstützung der EVP-Fraktion mit deutschen christlichen Demokraten an der Spitze geben. Also wir haben eine offene, aber auch, denke ich, würdige Debatte zu erwarten.
Gastbeitrag über GASP und Verfassungskonvent für die Rheinische Post (10.05.2003)
Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Wir mögen es akzeptieren oder verdrängen: Was die Europäer gemeinsam tun, beeinflusst Ressourcentransfers und Entwicklungschancen, Stabilität und Recht überall in der Welt - und was sie nicht zustande bringen, auch.
Die letzten Monate haben es wieder einmal gezeigt: Einzeln sind die europäischen Staaten Spielmaterial für andere Mächte. Mitspieler sind sie nur gemeinsam. Wirtschaftlich spielt Europa schon lange in der Weltliga - politisch immer noch in der Regionalliga. Im Handel, beim Klima, bei der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs führt kein Weg an der EU vorbei. In der Außen- und Sicherheitspolitik dagegen herrscht babylonisches Sprachengewirr oder betretenes Schweigen.
Für die Rolle Europas in einem System globaler Sicherheit haben die Mitgliedstaaten der EU kein gemeinsames Konzept. Schlimmer: Sie haben sich nicht einmal darum bemüht. Es hat bis zum 27.2.2003 gedauert, bis die Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal formell die Krise der europäischen Irak-Politik auf der Tagesordnung eines EU-Gipfels hatten. Eine Europäische Union, die in weltpolitischen Krisen und in Entscheidungen über Krieg und Frieden an die Seitenlinie tritt, weckt Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit.
Europa kann, wie so häufig in den vergangenen 50 Jahren, aus einer Krise heraus einen großen Schritt nach vorn tun. Das Treffen der Außenminister auf Rhodos lässt bereits den Vorsatz erkennen: Nie wieder Winter und Frühjahr 2003! Und der Verfassungskonvent bleibt dabei, dass aus der Europäischen Union auch eine Sicherheits- und Verteidigungsunion werden muss.
Erstens: Die EU soll einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rats bekommen, der in der Lage ist, die Positionen der europäischen Staats- und Regierungschefs in der Außen- und Sicherheitspolitik zu koordinieren. Und ein europäischer "Außenminister" als Vizepräsident der EU-Kommission soll diese Politik nach außen vertreten und ausführen können.
Zweitens: Die Europäer haben gemeinsame Interessen, aber sie erkennen sie nicht. Jedes Land gründet seine Position auf national gefertigte Analysen, unterfüttert sie mit nationalen historischen Erfahrungen. Nur durch ein gemeinsames, multinational besetztes Analyse- und Strategiezentrum wird es aufhören, dass Europa zwar häufig die besseren Argumente, aber nie ein besseres Konzept hat.
Drittens: Die EU braucht krisenfestere Entscheidungsmechanismen. Auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muß künftig mit Mehrheit entschieden werden. Chirac und Schröder haben einen entsprechenden Vorschlag an den Konvent gerichtet. Er darf dort nicht untergehen.
Viertens: Das Verhalten der osteuropäischen Neumitglieder hat es im Vorfeld des Irak-Krieges auf den Punkt gebracht: Ihnen bietet die Bündnisgarantie der USA mehr Sicherheit für ihre Zukunft als die Struktur- und Agrarfondsgarantien der EU. In die EU-Verfassung muss eine Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand hinein, wenigstens eine Solidaritätsklausel.
Die Mitgliedstaaten der EU müssen ihr militärisches Instrumentarium im Blick auf die neuen Bedrohungen schärfen. Sie sollten das gemeinsam tun. Aber wenn nicht gleich alle 25 dazu bereit sind, müssen eben einige beginnen. Darauf zielt der Vorschlag Belgiens, Frankreichs, Luxemburgs und Deutschlands zu einer europäischen Verteidigungsunion an den Verfassungskonvent.
Illusionen hat der Konvent nicht: Den politischen Willen zur Gemeinsamkeit kann keine EU-Verfassung ersetzen. Aber sie kann bessere Voraussetzungen dafür schaffen, daß er zustande kommt. Das geht nicht per Beschluss, das ist ein Prozess. Er braucht Zeit, die muss man ihm lassen. Sie steht allerdings nicht unbegrenzt zur Verfügung. Eine neue Weltordnung bildet sich heraus. Jetzt - nicht erst in zehn Jahren.
Wir einigen Europa nicht gegen die USA, sondern zur Wahrung der Interessen und zur Behauptung der Lebensweise der Europäer in der veränderten Welt. Wenn wir uns jetzt nicht aufmachen, tritt Europa aus der Weltgeschichte aus. Erst politisch, dann wirtschaftlich. Einzeln werden die europäischen Völker an den Rand der Welt gedrängt. Die Verfassung wird daran gemessen werden, ob sie ihnen die Möglichkeit gibt, die Welt gemeinsam mitzugestalten.
"Welche ökonomischen Aspekte sollten in der Europäischen Verfassung berücksichtigt werden?" im ifo Schnelldienst (31.03.2003)
Von Klaus Hänsch, MdEP *
Die Verfassung macht keine europäische Wirtschaftspolitik - sie gibt ihr den ordnungspolitischen Rahmen. Er liegt in wesentlichen Elementen vor. Der Konvent zur Zukunft Europas will und kann die Europäische Union nicht neu erfinden. Deshalb wird er sich auf die Neujustierung der Räder beschränken, auf denen das europäische Gefährt in den vergangenen fünfzig Jahren vorangekommen ist.
Zollunion, Außenhandel, Währung (in der EURO-Zone), freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie der Wettbewerb im Binnenmarkt sind vergemeinschaftete Politikbereiche. Zum Besitzstand ("acquis") der Union gehört, dass in diesen Bereichen nur sie rechtsetzend tätig werden darf. Der Entwurf des Artikels 11 der künftigen Verfassung ordnet sie deshalb den "ausschließlichen" Kompetenzen der Union zu.
Bei der Gesetzgebung für die Landwirtschaft, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die transeuropäischen Netze, die Sozialpolitik, die Umwelt- und Verkehrspolitik u.a., aber auch für die übrige Gesetzgebung im Binnenmarkt haben die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Rechtssetzungskompetenz auf die Union übertragen. Solange die Union davon keinen Gebrauch macht, können sie selbst gesetzgeberisch tätig werden. Das bleibt auch künftig so. Die Verfassung wird im Entwurf ihres Artikels 12 über die geteilten Zuständigkeiten nur klarer darauf verweisen.
In der Beschäftigungs- und Industriepolitik werden die Mitgliedstaaten die ausschließliche Zuständigkeit behalten. Die Union soll lediglich "unterstützende Maßnahmen" ergreifen können, bekommt damit aber immerhin eine Koordinierungs-, Ergänzungs- oder Unterstützungsfunktion.
Die Konsequenzen aus der einheitlichen Währung für die Wirtschaftspolitiken der Union und ihrer Mitgliedstaaten war das Kernthema der vom Verfassungskonvent eingesetzten von mir geleiteten Arbeitsgruppe "Economic governance". Sie hat vorgeschlagen, die bisher geltende Kompetenzordnung im Grundsatz nicht zu verändern: Die Währungspolitik im EURO-Raum bleibt in der ausschließlichen Zuständigkeit der Union. Statut, Struktur und Auftrag der EZB werden nicht verändert. Insbesondere bleibt es bei der politischen Unabhängigkeit und dem Vorrang der Preisstabilität vor anderen Zielen wie u.a. hohes Beschäftigungsniveau, beständiges Wachstum, hohes Maß an sozialem Schutz und einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit.
Wenn die Währungspolitik zentral geführt wird, die Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Beschäftigungspolitik und natürlich vor allem die Haushaltspolitik weiterhin im Grundsatz in der Hand der EU-Mitgliedstaaten liegen, muss die Verfassung der EU eine tragfähige Verbindung herstellen, die verhindert, dass einerseits die Stabilität der Währung durch gegenläufige Wirtschaftspolitiken einzelner Mitgliedstaaten untergraben und andererseits die wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Handlungsräume der Mitgliedstaaten durch die Politik von Union und Zentralbank obsolet werden. Also müssen die Grundzüge der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitiken sowie die Steuer- und Budgetpolitiken der Mitgliedstaaten enger und effektiver koordiniert werden.
Über eine solche Koordinierungsfunktion verfügt die Union bereits heute. Sie nimmt sie auf der Grundlage von Artikel 99 des EG-Vertrags wahr, nach dem die "Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft" jährlich erstellt bzw. fortgeschrieben werden. Es handelt sich um die Erstellung der Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien, 2000 beschlossen vom Europäischen Rat in Lissabon. Dieses Instrument ist jedoch für eine Union von 25 Mitgliedstaaten nicht schlagkräftig, effizient und umfassend und vor allem nicht verbindlich genug.
Durch diese Leitlinien "koordinieren" die Mitgliedstaaten sich selbst, die Europäische Kommission gibt nur Empfehlungen. Das ist nützlich, aber unzureichend, um in einer großen Union Gemeinsamkeit herbeizuführen. Als Vertreterin des europäischen Gesamtinteresses sollte die EU-Kommission ein formelles Vorschlagsrecht, wie es in anderen Politikbereichen die Regel ist, bekommen. Damit könnte die Koordinierung im Kreis von 25 und mehr Mitgliedstaaten leichter erreicht werden. Denn Vorschläge der Kommission können im Rat nur einstimmig geändert werden. Der Einwand, dass die Kommission prinzipiell kein formelles Vorschlagsrecht haben könne, wo die Politik-Kompetenz bei den Regierungen der Mitgliedstaaten bleibt, ist nicht stichhaltig. Schließlich liegt die Koordinierungskompetenz bei der Union.
Bei der Einhaltung dieser Leitlinien und dem entsprechenden Monitoring muss die Kommission eine stärkere Rolle erhalten. So sollte sie im Rahmen des Frühwarnsystems die Kompetenz erhalten, autonom, d.h. ohne Ratsbeschluss, die Alarmglocke zu läutern, wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten von den Leitlinien abweichen. Das Europäische Parlament, das bisher lediglich "informiert" werden muss, sollte in jedem Fall, zumindest förmlich, "konsultiert" werden. Die Einbeziehung der Sozialpartner in Form von Anhörung und Konsultationen halte ich politisch für wichtig und notwendig. In der Verfassung muss das jedoch nicht stehen.
Für Politiken, wie z.B. die Verbindung von sozial-, wirtschafts- und bildungspolitischen Aspekten, der Ökonomie des Wissens usw., für die es bisher noch keine vertragliche Regelung gibt, hat der Europäische Rat in Lissabon zur ad hoc-Koordinierung eine "offene Koordinierungsmethode" vereinbart. Sie ist ein erfolgreiches, weil flexibles Instrument zur Koordinierung auf einen begrenzten Gebiet und für einen begrenzten Zeitraum, wenn alle Mitgliedstaaten dies wünschen. Darüber hinaus bietet sie eine gute Möglichkeit, die Sozialpartner und die gesellschaftlichen Gruppen informell einzubeziehen. Durch die Verfassung muss allerdings gesichert werden, daß diese Methode bestehende Unionspolitiken und -verfahren nicht aushebelt, umgeht oder konterkariert.
Die Koordinierung der nationalen Haushaltspolitiken geschieht gegenwärtig über den "Stabilitäts- und Wachstumspakt" auf der Grundlage von Artikel 104 des EG-Vertrags. Die Notwendigkeit einer solchen Koordinierung muß wegen der gemeinsamen Währung Verfassungsrang bekommen, der Stabilitäts- und Wachstumspakt selbst allerdings nicht. Stabilitätsziele und die Mittel zu ihrer Erreichung sind auch in den Mitgliedstaaten nicht auf Verfassungsrang gehoben. Verfassungsrechtlich gestärkt werden sollten jedoch die Kompetenzen der Kommission auf das Monitoring des Stabilitätszieles.
Ein Binnenmarkt mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten braucht ein Mindestmaß an "Steuerharmonisierung", um zu funktionieren. Die bisherige Kompetenzverteilung für die Steuerpolitik gemäß den Artikeln 93, 94 und 175 des EG-Vertrags soll beibehalten werden. Allerdings sollte in einer 25er Union sichergestellt werden, dass die Steuerharmonisierung nicht weiterhin durch das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat blockiert werden kann. Oder schlimmer noch, dass ein Mitgliedstaat, wie kürzlich geschehen, seine Zustimmung zu notwendigen Regelungen bei der Kapitalertragssteuer abhängig macht von der Zuerkennung höherer Milchquoten.
Die Arbeitsgruppe "Economic governance" hat allerdings klar gestellt, dass Harmonisierung nicht zu einheitlichen Steuern in allen Bereichen und von Helsinki bis Lissabon führen darf. Steuerwettbewerb bleibt möglich und sogar erwünscht. Mehrheitsentscheidungen sollten also auf die Festlegung von Mindeststandards und Bemessungsgrundlagen und auf die Annäherung, nicht auf die Vereinheitlichung der Steuersätze begrenzt werden. Und sie sollten auch nur dort möglich sein, wo es um das Funktionieren des Binnenmarktes und um die Bekämpfung von unfairem Steuerwettbewerb geht. Die Vermögensteuern und die privaten Einkommensteuern sollen nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe "Economic governance" von einer Harmonisierung ausdrücklich ausgeschlossen sein.
Neben solchen grundsätzlichen Fragen müssen durch die Verfassung zwei weitere institutionelle Probleme geklärt werden: die besondere Zusammenarbeit der EURO-Staaten und die Außenvertretung des EURO.
Bisher gibt es einen informellen, aber regelmäßigen "Gedankenaustausch", also zwischen den EURO-Mitgliedstaaten, der Kommission und der EZB, zur koordinierten Vorbereitung bestimmter Ratsentscheidungen in der sogenannten "Eurogruppe". Er ist notwendig und gewünscht. An ihm sollte festgehalten werden. Ob die Union künftig eine gesonderte Ratsformation für die EURO-Mitgliedstaaten braucht, um Entscheidungen zu fällen, die sie allein betreffen, muss noch geklärt werden. Bisher hat sich dieses Problem weder institutionell noch materiell gestellt. Zwölf von 15 Mitgliedstaaten sind EURO-Länder und eine eigene Wirtschaftspolitik für den EURO-Raum besteht nicht. Nach der Erweiterung der EU 2004 auf 25 und 2007 auf 27 Mitgliedstaaten wird etwa die Hälfte der Mitgliedstaaten zwar vorübergehend, aber doch für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren, nicht zu den EURO-Ländern gehören. Zur Behandlung von Fragen, Politiken und Entscheidungen, die nur die EURO-Länder betreffen, muss möglicherweise ein spezieller Ministerrat geschaffen werden. Dieses Gremium wäre im Unterschied zur bisherigen "Eurogruppe" den üblichen Verfahren unterworfen und garantierte die notwendige Transparenz der Entscheidungen.
Die Außenvertretung des EURO, im weiteren Sinne ebenfalls ein Koordinierungsinstrument, ist auf der Rechtsgrundlage von Art. 111 Abs. 4 EG-Vertrag nicht befriedigend geregelt. Je nach dem, ob es sich um den Internationalen Währungsfonds, die Gruppe der Acht oder die Weltbank handelt, wird die Union vom Vorsitz der Eurogruppe, der Kommission und der EZB nach unterschiedlichen Formeln repräsentiert. So nimmt z.B. der Kommissionspräsident an der Sitzung der Staats- und Regierungschefs der G8 aus eigenem Recht teil, während die Kommission bei den Sitzungen der G8-Finanzminister nur Teil der Ratsdelegation ist. Das führt trotz des guten Willens aller Beteiligten zu Einbußen bei der kontinuierlichen und effizienten Vertretung europäischer Interessen.
Ich halte es für notwendig, daß die Außenvertretung des EURO von der Kommission, unterstützt durch den Präsidenten der EZB für die Union wahrgenommen wird. Dem scheinen zur Zeit die Satzungen solcher internationaler Organisationen entgegen zu stehen sowie eine Reihe politischer Bedenken bei den Mitgliedstaaten der EU. Aber für die Handelspolitik der Union sind schließlich auch sehr praktikable Lösungen gefunden worden. Es ist also durchaus möglich, der Kommission in internationalen Gremien und Institutionen, die ursprünglich nur für souveräne Staaten konzipiert wurden, die Sprecherrolle der Union zuzuweisen.
Der Konvent wird als Konsequenz aus der Einführung der gemeinsamen Währung nur in einigen Bereichen der Wirtschaftspolitik verfahrensmäßige und institutionelle Stellschrauben neu einstellen, um bei Beibehaltung der bisherigen Kompetenzverteilung eine verbesserte Koordinierung nationaler Politikbereiche auf Unionsebene zu sichern. Die Grundlage dafür soll der vom Präsidium des Konvents vorgeschlagene Artikel 13 im institutionellen Teil der Verfassung sein. Im operationellen Teil müssten dann die bisherigen Artikel des EG-Vertrags angepasst werden.
Der Auftrag des Europäischen Rats von Laeken an den Konvent zur Zukunft Europas lautet, die Union demokratischer, transparenter und effizienter zu machen. Er zielt nicht darauf, die Politiken der Union neu zu definieren oder zu ändern. Im Konvent geht es um angemessene verfassungsrechtliche Grundlagen, nicht um eine "richtige" oder "bessere" Wirtschaftspolitik. Die Zuständigkeiten der Union im Bereich Marktregulierung, Wettbewerb, Währung u.a. sind bereits heute schon sehr umfassend. Sie reichen auch in die Bereiche Soziales, Beschäftigung, Haushalt, Steuern hinein. Sie dort nennenswert zu verstärken, würde nicht nur die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten in untragbarer Weise einschränken. Der Union müsste dann zugleich ein Haushalt mit einem Volumen zugestanden werden, das weit über die heutigen und künftig vorstellbaren Obergrenzen hinausgeht. Dafür wäre im Konvent ein Konsens mit Sicherheit nicht zu erreichen.
* Klaus Hänsch ist Mitglied des Präsidiums des Konvents zur Zukunft Europas
"Der Konvent zeigt mutigen Realismus". Artikel für den Vorwärts (März 2003)
Von Klaus Hänsch, MdEP (SPD) und Mitglied des Präsidiums des Verfassungskonvents
Gibt es demnächst einen Präsidenten der EU? Wird der Präsident der EU-Kommission künftig vom Europäischen Parlament gewählt? Wie kommt die Union zu einer wirklich gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik? Dafür gibt es bislang viele Vorstellungen, aber noch keine konkreten Verfassungsartikel. Die Positionen liegen noch weit auseinander - übrigens auch bei den europäischen Sozialdemokraten im Konvent.
Dennoch ist eine Einigung auch in diesen schwierigen Fragen möglich. Das zeigt ein Blick auf die bisher geleistete Arbeit des Konvents: Am Beginn stieß der Begriff "Verfassung" noch weithin auf Ablehnung - heute ist klar, dass es eine solche sein wird. Zunächst wollten viele sich mit einer neuen Zusammenstellung alter Vertragsartikel begnügen - heute schreiben wir an einem neuen, zusammenhängenden, verständlichen Text. Ende 2000 war der Gipfel von Nizza noch daran gescheitert, die Charta der Grundrechte rechtsverbindlich zu machen - heute wird sie Teil der Verfassung. Zehn Jahre lang war es nicht durchsetzbar, daß alle EU-Gesetze von Europäischem Parlament und Ministerrat gleichberechtigt beschlossen werden und dass der Rat dabei mit Mehrheit abstimmt - heute zeichnet sich ab, dass die Verfassung beides zur Regel machen wird.
Jetzt hat das Präsidium des Konvents die ersten sechzehn Artikel der Verfassung vorgelegt. Sie beschreiben die Grundlagen, Werte, Ziele und Befugnisse der künftigen Union. Damit ist der Konvent in die Schlussphase seiner Beratungen eingetreten.
Es wird eine Unionsverfassung, keine Bundesverfassung. Sie vereinigt Elemente sowohl eines Staatenbundes, in dem die Politiken der Mitgliedstaaten koordiniert werden, als auch eines Bundesstaates, in dem in bestimmten Bereichen Organe mit Mehrheit gemeinsames und bindendes Recht setzen. Ein "Superstaat" wird also nicht aus der Union - aber sie bleibt auch nicht nur ein großer Markt .
Die Verfassung muss sagen, wozu sich die Union zusammenschließt. Zuerst und noch immer: den Frieden zwischen den Völkern in Europa sichern und aus Europa einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts machen. Aber zu den Zielen der Union gehören auch die Gleichstellung von Frauen und Männern, Vollbeschäftigung statt nur "hohes Beschäftigungsniveau", wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Umweltschutz und sozialer Schutz auf hohem Niveau. Natürlich gehört auch "nachhaltige Entwicklung" dazu. Sie soll nicht nur auf wirtschaftlichem Wachstum, sondern gleichermaßen auf sozialer Gerechtigkeit beruhen. Die SPE-Mitglieder im Konvent wollen die soziale und ökologische Dimension noch verstärken.
Um die Ziele zu erreichen, übertragen die Mitgliedstaaten bestimmte Befugnisse auf die Union. Sie geben ihr damit Gesetzgebungs- und Entscheidungsmacht. Solche Macht muss begrenzt werden, ihre Ausübung muss kontrollierbar sein. Das geschieht, erstens, durch die zwingende Beachtung des Prinzips der Subsidiarität, künftig kontrolliert auch durch die nationalen Parlamente. Und, zweitens, durch eine eindeutige Beschreibung und Ordnung der EU-Kompetenzen, die klarer ist als die heutige. Die EU-Verfassung ordnet sie in drei Kategorien. Damit folgt sie weitgehend den deutschen Forderungen, vor allem denen aus den Ländern.
In der ersten Kategorie kann allein die EU durch Ministerrat, Parlament und Kommission beschließen und handeln. Das ist, zum Beispiel, beim Wettbewerbsrecht im Binnenmarkt oder beim Außenhandel der Fall.
In der zweiten Kategorie "teilen" sich Mitgliedstaaten und EU die Zuständigkeit zur Gesetzgebung. Hier kann jeder Mitgliedstaat so lange und so weitreichend eigene Gesetze machen, wie die EU nicht selbst tätig wird. Das gilt, zum Beispiel, für Binnenmarkt, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Sozialpolitik, Verkehr und weitere Bereiche der Politik.
In der dritten Kategorie kann die Union nur zur Unterstützung der Politik der Mitgliedstaaten tätig werden. Hier darf sie koordinieren, aber nicht harmonisieren. Etwa in Bereichen wie Kultur, Sport, Katastrophenschutz u.a. Im übrigen bleiben alle Zuständigkeiten, die durch die Verfassung nicht ausdrücklich auf die EU übertragen sind, in der Hand jedes einzelnen Mitgliedstaates.
Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac haben in ihrem gemeinsamen Vorschlag bereits wichtige Forderungen aus den Konventsberatungen aufgenommen. Das erhöht die Chance für einen erfolgreichen Abschluss der Arbeiten bis Mitte Juni. Das Ergebnis wird ein Verfassungsentwurf von mutigem Realismus sein.
Introduction to the publication of AEGEE (Association des Etats Généraux de Etudiants de l'Europe) (Februar 2003)
by Klaus Hänsch
Member of the Presidium of the Convention on the future of Europe
I congratulate AEGEE and all the participants in the project "Universities to debate Europe" for their great interest and valuable contribution to the grande debate on the future of Europe that has started with the Convention in March 2002. From the very beginning it was part of the mandate and mission to change the ways how decisions on Europe's future are taken: No longer behind closed doors and in the secrecy of an intergovernmental conference, but in an open and free debate of a Convention, bringing together 105 representatives of the European and national parliaments, governments as well as the European Commission and involving on an equal footing also the representatives of the applicant countries. For the first time Europeans of east and west are drafting their common future. That is a revolution in itself and a powerful means to prepare the European Union for the challenges that lie ahead. And we are aware that we can only succeed with the support of the European public, in particular the young people, as it is their future we are talking about.
With the structure for the European constitution on the table and the draft of the first set of articles presented by the Presidium, the Convention has entered its most important phase. The next weeks will be decisive to forge a consensus on the values and objectives of the Union, the instruments to implement and the institutions to act. Important points are already cleared: We are heading for a constitution, for one comprehensive text, for a Union able to act on the international stage, for the incorporation of the Charter of fundamental rights, for a streamlining of procedures, for more powers of the European Parliament, for a broadening of democratic legitimacy. But as many important issues are still open - and before closing the last chapter nothing is settled definitely. Many uncertainties remain. Encouraging you, the students of European Universities, to continue your interest in and active support of the Convention work during the weeks and months ahead, it seems to me therefore important to remind you of the background of our endeavours and the challenges that are at stake.
There are three obvious reasons for reforms:
First is enlargement: For half a century the European Union has been vital for peace, stability and prosperity in Western Europe. Now, with the accession of twelve applicant countries from Eastern and Southern Europe at the horizon of 2004 / 2007, we are preparing the reunification of our continent. A Union of 25 and more cannot continue to function with institutions modelled for a Community of Six.
Enlargement is not just about the addition of some new Member States, but about the transformation of the Union - politically and institutionally. A bold new design is necessary.
Second: The Union is not a world power, but it has the responsibilities of a world power whether we like it or not. Its present structure does not enable it to meet those responsibilities. The Union's institutions were shaped for a European Economic Community, which could duck under the political umbrella of the US in the Cold War, not for enabling her to shoulder global responsibility as a global player. A rotating six months Council Presidency, a so called "Troika" of foreign ministers, the Commission President, the Commissioner for Foreign Affairs and the High Representative for the Common Foreign and Security Policy of the Union continue to kick at each other's heels. That is not a recipe for leadership in world affairs. That leaves the world wondering, who is in fact speaking for Europe? A Union that in a crisis remains unseen at the sidelines raises doubts about its future. The Union's Foreign, Security and Defence policies will only gain ground, substance and respect if there is clear cut responsibility at the helm enabling the Union to know what to say - and to do what it says.
Third: Over the years the Union has lost credibility among its citizens. There are many reasons for this. One particular reason is that people cannot understand who in Europe is doing what and with which legitimacy. They must at least have a chance to understand who decides on what, when and with what authority in Strasbourg and Brussels. Transparency and legitimacy are at the core of democracy. It is vital to restore these principles.
But reforms of the Union are not only driven by deficiencies - they are as much and even more the legitimate consequence of its achievements. Looking back at the progress made within the last decade, European integration has proven to be - notwithstanding its good many faults and halts - a success story, unparalleled in European history.
Since 2001 citizens in twelve member states have the common European currency in their wallets and pockets. The introduction of the EURO represents an undeniable success in the history of European integration. As monetary policy is centralised with the Union, but economic, social, budgetary and fiscal policies will remain decentralised with the member states, the Union needs a more effective co-ordination of these policies among the partners in the eurozone.
After the 11th of September 2001 it is even more evident than it has been before that freedom, security and justice can only be guaranteed by common efforts. The huge programme to strengthen and harmonise laws on asylum, immigration and combating international crime and terrorism needs to be speeded up and submitted to parliamentary control.
The European Council of Cologne in 1999 has decided to establish a European rapid reaction force. Until the end of this year 60.000 soldiers of the member states will be ready to be deployed in missions of the Union for crisis management, peacekeeping and peace enforcing.
With the introduction of the EURO, the creation of an "area of freedom, security and justice", and the project of a European security and defence policy, the Union is participating in the core of the classical European nation state's sovereignty: the currency, the judiciary and the military. A Union of democracies with the power to decide in those areas has to step down from diplomacy to democracy. It must overhaul its proceedings and institutions. It needs a constitution.
It is the mission of the Convention to lay the ground for that. In this we are accompanied by great expectations.
Will we succeed? I am confident.
I am confident about the future of the European Union because of its past. Since the very beginning, at every step towards more European integration, we were told by Eurosceptics that such a project was doomed to failure. Bouts of pessimism about Europe did not halt its progress. On the way from crisis to compromise and from compromise to crisis, all divisions and uncertainties have in the end been overcome.
In the middle of the 20th century, the founding fathers of the European Community had the vision and the courage to overcome the centuries-old antagonism between France and Germany and to initiate European unity in the West. At the beginning of the new century it is our generation that has the opportunity, unique in history, to unite the whole of Europe and to provide it with a constitution based on the common values of freedom, equality and justice.
"More Europe for More People" (engl.) Artikel vorgesehen zur Veröffentlichung in der Publikation der PSOE (20.11.2002)
Klaus Hänsch[*]
For half a century the European Union has been vital for peace, stability and prosperity in Western Europe. We are preparing the reunification of our continent by enlarging the Union to the East and South. We want it to pursue its historic vocation on a new coherent and solid basis: A Federation of European States and Peoples.
The Convention presents European Socialists and Social Democrats with a unique opportunity to participate in shaping Europe's future. Europe's horizons must stretch beyond purely economic issues. Its policy ambitions must not be blown about by the winds of the free market. European Socialists and Social Democrats want to give substance to the European social model that balances competition and solidarity and that is founded on the principles of freedom and justice, peace and stability. We want to move the European Union forward in defending and developing its unique model of a European society, able to respond to the challenges of a globalised world in the 21st century and contributing to a just world order.
We want the Convention to present a coherent draft of a European constitution. We want this constitution for a European Federation of States and Peoples, legitimated by the democratic will of our citizens and based on our common values. The Charter of Fundamental Rights sums up those values and constitutes the most detailed expression of human dignity, civic, economic, as well as social and political rights to which we remain strongly attached. For this reason, we want the Charter to be integrated into the future Constitution, its binding legal character being guaranteed.
Europe must not be an obscure project for technocrats and political élites. It should involve everyone who lives in the Union, whatever his or her positions in life. The future of Europe must be based on the local, regional and national levels, stimulated by competition, buttressed by co-operation and united by solidarity. We want the Union to be transparent, efficient and giving clear answers to our citizens as to what Europe can and must do in the interest of Europeans. Further European integration depends on much greater transparency and democratic accountability in European decision-making. That means reforming existing EU structures.
A better economic, social and environmental governance
We say "yes" to a market economy but "no" to a market society. The market is not in itself either fair or efficient. In order to work properly, the market needs equitable rules and high level norms which respect amongst other things social protection, workers' rights, environmental protection, consumers' rights and equality of chances between the regions. The Socialist Group in the European Parliament pushes to redrafting the objectives laid down in articles 2 to 4 of the existing Treaties, in order to provide for an adaptation and re-ordering of the Union's objectives. The social dimension must be an integral part of the missions of the Union, laid down in the constitution.
Of course social protection will have to reflect the different traditions in our countries. But there is common ground for a European framework of sustainable development, full employment, innovation and social cohesion. We want to promote the European model of society by strengthening the existing social provisions. We want to strengthen the part of the social partners including their role as co-regulators and by providing for a legal basis for dialogue with civil society.
The introduction of the Euro represents an undeniable success in the history of European integration. That success will only be sustainable, if Monetary Union is balanced by enhanced Political and Social Union. Monetary policy is centralised with the Union, but economic, social, budgetary and fiscal policies will remain decentralised with the Member States. That is why Europe in these areas needs a more effective co-ordination of the policies of the Union's Member states. Closer co-operation and a more effective economic and social governance will help to exploit the economic potential of the Union with a view to achieving full employment and economic and social cohesion.
The Broad Economic Policy Guidelines, the procedure of multilateral surveillance and the introduction of the Lisbon strategy on co-ordination of economic, social, employment and sustainable development policies are not sufficient to put an end to the crucial lack of equilibrium between monetary policy and economic and social co-ordination at European level. They should be combined, streamlined and transformed into broad guidelines for economic, employment and social convergence policy. On the basis of a proposal from the Commission, they should be approved by qualified majority in the Council in association with the European Parliament.
The strengthening of the economic, social and environmental dimensions implies greater attention to the coherence of policies carried out in these areas. We favour growth based on the responsible and efficient use of natural resources, respecting the environment, and according to modes of production, which do not harm public health and provide sustainability. The missions and competencies of the Union must allow for policies to attain a high level of protection by the Union in relation to public health while recognising the responsibilities of the Member States in these areas.
An area of freedom, security and justice
The fight against terrorism and organised crime, in all its forms, is one of our major concerns. European Socialists and Social Democrats want the Union to be an area of freedom, security and justice. We need a European programme strengthening internal security while guaranteeing respect for individual rights and freedoms. Europol should be given an institutional status that is appropriate and coherent with that of Eurojust. And we must increase efficiency by the creation of a European prosecutor specifically empowered to prosecute fraud against the financial interests of the Union.
This means that, as a matter of urgency, we must get rid of the pillar structure within the Treaties. We want to consolidate judicial and police co-operation in criminal matters as well as judicial co-operation in civil matters within the Community framework. Making the rules easier for citizens to understand must also apply to the policies of the Union in relation to freedom, security and justice.
A Union which is strong in the world
The European Union is not a world power, but it has the responsibilities of a world power. It has the duty to contribute to the maintenance of peace and democracy and to the respect of human rights and to development throughout the world. And it must also be able to face the global challenges of sustainable social and economic progress, environmental protection and the fight against poverty as well as terrorism and organised crime. We want to make Europe's voice heard, and strengthen Europe's place in the world.
The actual decision-making system and the competencies of the Union do not respond to its challenges and its responsibility in the world. We want the Union's structures and instruments to be improved in order to build a coherent and effective foreign policy. The existing duplication between Council and Commission should be eliminated. Qualified majority voting must be extended to all areas of the Common Foreign and Security Policy, only military action excluded. The Union must strengthen its active presence on the international scene and facilitate its representation in all international organisations.
A Union closer to its citizens
The framework of the Union's actual decision-making system was built on successive and superimposed strata. The result is unintelligible. A clearer and more precise division of competencies between the European Union and its Member States will benefit the understanding of the citizen of who does what and how. The system of competencies must be capable of evolving and adapting to social changes. The application of the principles of subsidiarity and proportionality must be guaranteed ex ante through political supervision, ex post by the European Court of Justice.
The institution, which needs reform most urgently, is the Council of Ministers. Qualified majority vote as a rule should be extended to all legislative matters except matters of constitutional character. And qualified majority vote means a "double majority" of states and population. The system of the presidencies of the Council should be revised in order to give them more continuity and visibility. The Council's role should be divided in its functions as an executive and legislative a body.
All legislation and the budget of the Union will have to be decided by Council and Parliament in co-decision. The President of the Commission must be elected by the European Parliament in order to strengthen the democratic legitimacy, authority and effectiveness of the Commission. We want to see a strong Commission that can fulfil its role as a European government, in particular through the reform of the internal structure of the Commission and by reasserting the Commission's exclusive right of initiative.
For all nominations of constitutional importance - nomination of the judges of the Court of Justice, the High Representative of the CFSP, nominations to the Central Bank, to the Court of Auditors and to Europol - the European Parliament must give its assent in order to enhance the democratic legitimacy of these bodies.
We Socialists and Social Democrats in the European Parliament fought long before the Nice European Council for the setting up of a Convention as an alternative to the traditional method of Treaty revision. The results of the work of the Convention must constitute the fundamental basis for the decisions of the 2003/2004 Intergovernmental Conference. That will only be the case, if the Convention presents its results on the basis not of unanimity but of a broad consensus. Due to the results of national elections in a majority of Member States and to the European Parliament, European Socialists and Social Democrats have no majority in the European Convention. To reach our political goals, we need allies and must be prepared for compromises. But, on the basis of the Constitution, we will continue to fight for a Union offering more Europe for more people.
[*] The author is Member of the European Parliament (SPE/SPD), former President of the European Parliament and Member of the Presidium of the Convention on the Future of Europe.
"Welche Verfassung braucht Europa?" Artikel für die Frankfurter Hefte (Mai 2002)
von Klaus Hänsch, MdEP*
Braucht die Europäische Union überhaupt eine Verfassung? Schließlich ist sie kein Staat. Und, erweitert um weitere zehn bis fünfzehn Staaten, wird sie auch nicht zu einem werden. Es gibt kein europäisches Volk und es wird auch keines geben. Zu einer europäischen Öffentlichkeit, die über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg kommuniziert, gibt es bislang nur Ansätze, und die Sprachbarrieren werden verhindern, daß sie jemals mit den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten vergleichbar wird.
Aber das gibt es: Fünfzehn Staaten haben sich aus freien Stücken einem Vertrag angeschlossen, nach dem sie einen Teil ihrer nationalen Souveränität gemeinsam durch europäische Organe ausüben. Sie haben sie mit Machtbefugnissen ausgestattet, die weit über das klassischen zwischenstaatlichen Einrichtungen zugestandene Maß hinausgehen. In den Mitgliedstaaten gilt, häufig unerkannt oder verschleiert, dennoch unmittelbar durch EU-Organe mit Mehrheit beschlossenes europäisches Recht. Und es gilt auch in den Staaten, deren Abgeordnete im Europäischen Parlament und deren Vertreter im Ministerrat ihm nicht zugestimmt haben. Selbst Verfassungsbestimmungen unterwerfen sie den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Das Europäische Parlament erzwingt 1999 den Rücktritt der Kommission und löst damit nach den Regeln der Verträge eine "Regierungskrise" aus, die nach diesen Regeln auch wieder gelöst wird.
Wenn unter "Verfassung" konstitutive und bindende Regeln der Machtlegitimierung und Machtlimitierung verstanden werden, ist die Frage, ob die Europäische Union eine Verfassung braucht, beantwortet: Sie hat eine. Die EU-Verträge sind nach den Worten des Europäischen Gerichtshofs, "obgleich in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft".
Braucht die Union auch keine "Verfassung", weil sie eine hat, so hat sie doch nicht die, welche sie braucht. Nicht nur die wachsende Zahl der Mitgliedstaaten oder die Durchforstung des im Laufe der Jahre undurchdringlich gewordenen Kompetenzendickichts verlangen, daß sich die Union in eine angemessene Verfassung bringt. Auch ihre Erfolge erfordern eine Reform von Verfassungsrang. In den letzten fünf Jahren ist die Union politisch im Galopp, institutionell dagegen nur im Kriechgang vorangekommen. Mit der gemeinsamen Währung, einer gemeinsamen Rechts-, Asyl- und Einwanderungspolitik und der Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe greift sie nun auch in die klassischen Hoheitsbereiche der Nationalstaaten ein.
Der EURO verlangt mehr als die Begrenzung übermäßiger Defizite. Die gemeinsame Währung erzwingt eine effektivere Koordination der Haushalts-, Steuer- und Konjunkturpolitik in den Mitgliedstaaten und begrenzt deren Entscheidungsspielräume. Entscheidend ist nicht, ob das durch eine "Wirtschaftsregierung" geschieht wie es Frankreich vorschwebt oder ob das Wort vermieden wird wie es Deutschland vorzieht, sondern daß sich die Union die Autorität und einen effektiven Mechanismus zur Durchsetzung einer der gesamten EURO-Zone angemessenen Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik gibt.
Die Vergemeinschaftung der Währung wirft die Frage nach der politischen Verfassung der Europäischen Union mit neuer Schärfe auf. Die Konstruktion Europas darf nicht nur dem Markt Raum schaffen. Sie muß ihm auch eine Ordnung nach dem demokratisch ermittelten Willen der Gesellschaft geben, in der die Bürger vor den destruktiven Kräften des Marktes geschützt werden und der Unterschied zwischen den Gewinnern und Verlierern am Markt nicht unerträglich groß wird. Das war zu allen Zeiten ein konstitutives Element einer freien und gerechten Gesellschaft. Es muß, jenseits des Nationalstaats, auch eines der Europäischen Union sein. Die Europäische Union kann nicht beim EURO stehen bleiben.
Die Rechte der Bürger sind in den Mittelpunkt der europäischen Einigung gerückt. Die Europäische Union hat eine europäische Charta der Grundrechte erarbeitet - eine Magna Charta europäischen Rechts. Durch sie ist nun auch auf der Ebene der Union neben die Freiheit und die Gleichheit, nun auch die dritte Säule der politischen Kultur Europas gestellt: die Solidarität. Zur Schaffung des europäischen "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" arbeitet die Union an einem Programm der Rechtsangleichung und Rechtskooperation, das sensible Bereiche der bürgerlichen Freiheiten berührt. Ein Teil von ihnen hat in allen Mitgliedstaaten Verfassungsrang. Den müssen sie auch auf europäischer Ebene bekommen.
Die Union ist keine Weltmacht, aber sie trägt die Verantwortung einer solchen. In ihrer heutigen institutionellen Struktur ist sie dieser Verantwortung nicht gewachsen. Der Angriff auf die USA am 11. September 2001 hat die EU in die Weltpolitik geworfen. Wenn die Union in weltpolitischen Krisen für die Bürger unsichtbar bleibt, nährt sie Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit.
Noch treten sich in der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der halbjährlich wechselnder Ratspräsident, eine sogenannte Troika der Außenminister, der Kommissionspräsident, ein weiterer Kommissar und der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gegenseitig auf die Füße. So ist die Union nicht führungsfähig. Spätestens wenn die europäische Eingreiftruppe einsatzfähig ist, muß ein Kopf dafür sorgen, daß die Union weiß, was sie will und tut, was sie sagt.
Fünfhundert Jahre lang sind die Europäer in die Welt hinausgegangen. Jetzt kommt die Welt zu ihnen zurück. Die wachsende Weltbevölkerung, die zunehmende materielle Armut des größeren Teils der Menschheit; Hunger und Seuchen, Umweltzerstörung und Krieg; ethnische, religiöse, soziale Konflikte in anderen Teilen der Welt lassen Europa nicht unberührt. Überläßt die Union ihr Verhalten weiterhin unkoordiniert dem Zufall oder der nationalen Prestigekonkurrenz, bleibt sie nicht nur hinter ihren Möglichkeiten, sondern auch hinter ihren Interessen zurück. Das eine wie das andere ist verantwortungslos, also gefährlich. Die Europäische Union muß fähig werden, globale Verantwortung zu tragen.
Die Europäische Union ist immer wichtiger geworden, aber das Interesse der Menschen an ihr hat ständig abgenommen. Im Verlauf der europäischen Einigung ist den Bürgerinnen und Bürgern die Orientierung verloren gegangen. Sie können nicht nachvollziehen, wer, wann, was und mit welcher Legitimität in Brüssel und Straßburg beschließt. Das ist in der Demokratie nicht bloß ein ästhetischer Mangel, sondern ein substantieller Fehler. Weil Institutionen für die Bürger fern, fremd und undurchschaubar scheinen, können sie nicht a priori auf dem gleichen good will bauen wie in den Nationalstaaten. Deshalb führen politische Krisen und Kräche in der Europäischen Union, häufig auch schon einzelne falsche und unverständliche Entscheidungen, immer gleich dazu, daß über den Einzelfall das Ganze in Frage gestellt wird.
Die Europäische Union kann nur nach dem Prinzip der Subsidiarität funktionieren. Aber "Subsidiarität" und "Bürgernähe" sind nur Geschwister. Die eine ist nicht der Klon der anderen. Einerseits ist die Union bürgernah, wenn es den Bürgern nicht zu nahe tritt. Wenn sie sich zurücknimmt, wird die Zustimmung zunehmen. Andererseits muß sie die Bürger erkennen lassen, wozu sie da ist, statt sich ständig dafür zu entschuldigen, daß es sie gibt. Statt immer darüber zu reden, was die Union nicht tun darf, wäre es besser, dafür zu sorgen, daß sie das tun kann, was die Bürger von ihr erwarten.
Dafür braucht die EU eine neue, präzisere Ordnung ihrer Zuständigkeiten. Kompetenzfragen sind auch Demokratiefragen. Ob ein Kompetenzkatalog für die Union den Mitgliedstaaten Sicherheit gegen den schleichenden Kompetenztransfer nach Brüssel bietet, ist eher fraglich. Die deutschen Länder, die ihn fordern, sollten sich daran erinnern, daß die fünfzig Jahre Verfassungspraxis in Deutschland aus dem Vorrang der Länder in der Gesetzgebung trotz Kompetenzkatalog im Grundgesetz praktisch einen Vorrang des Bundes gemacht haben.
Eine Rückverlagerung bestimmter EU-Kompetenzen auf die nationale Ebene ist zwar kein Tabu, wird aber kaum Gehör finden. Kommen solche Vorschläge aus Deutschland, stehen sie zudem unter dem Generalverdacht, es gehe den Deutschen nicht um weniger Kompetenzen, sondern um weniger Geld für die EU. Eher sollte Wolfgang Clements Vorschlag ausgelotet werden, die EU-Kompetenzen nach "ausschließlichen Kompetenzen", "Grundsatzkompetenzen" und "Ergänzungskompetenzen" neu zu ordnen. Und in jedem Fall kann die Dichte und Durchgriffstiefe von EU-Regelungen begrenzt werden.
In jedem Fall muß die Urzuständigkeit, die "Kompetenz-Kompetenz", bei den Mitgliedstaaten bleiben. Die Union darf immer nur in den Bereichen tätig werden, die ihr die Mitgliedstaaten ausdrücklich übertragen haben. Hier, und nur hier, macht ein Beharren auf Einstimmigkeit Sinn. Es ist auch die Garantie für den Fortbestand des deutschen Föderalismus.
Die Konsequenzen aus der Vergemeinschaftung der Währungen ziehen, die Union außen- und sicherheitspolitisch führbar machen, die politische Verantwortlichkeit ihrer Personen und Institutionen sichtbar werden lassen und die Akzeptanz ihrer Entscheidungen vergrößern - und das alles in einer Union von mehr als 25 Mitgliedstaaten: das sind die zentralen Themen des Konvents zur Zukunft Europas. Eine große Mehrheit ist bereit zu einem kohärenten, weitreichenden Vorschlag. Er sollte die Substanz einer "Verfassung" haben.
Begriffe wie "Verfassung", "Föderalismus" usw. sind allerdings entsprechend der jeweiligen politischen Kultur unterschiedlich besetzt und wecken unterschiedliche Assoziationen - und damit auch irrationale Widerstände. Wenn der Konvent zur Zukunft Europas sich in Diskussionen über Definitionen, Modelle und Methoden verliert, ist er verloren. Besser folgt er dem "kategorischen Imperativ", daß jeder seiner Vorschläge immer auch elementarer Bestandteil einer europäischen Verfassung sein könnte:
- Die Essenz der heutigen Verträge in einem "Grundlagenvertrag" über Zielsetzung, Organisation und Funktionsweise der Union zu konzentrieren, hätte konstitutionelle Qualität.
- Ein kurzer Satz im neuen Vertrag: "Die EU-Gesetze und die Einnahmen und Ausgaben der Union werden von Parlament und Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen", beseitigte "nur" die bisherige Flickschusterei bei den Rechten und Entscheidungsverfahren von Rat und Parlament und wäre doch ein konstitutioneller Quantensprung. Alle "normale" EU-Gesetzgebung bekäme eine doppelte Legitimation: die einer Mehrheit der Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Regierungen im Ministerrat, und die einer Mehrheit im direkt gewählten Europäischen Parlament.
- Die Kommission darf nicht länger nur der Hut der Brüsseler Administration sein. Sie muß zu ihrem Kopf werden. Wenn der Kommissionspräsident vom Parlament gewählt und die Zahl der Kommissare den Aufgaben der Kommission statt der Zahl der Mitgliedstaaten angepaßt würde, wäre die europäische Exekutive politisch identifizierbar und ihre Handlungsfähigkeit gestärkt. Ob das dann "Regierung" genannt wird, ist unerheblich.
- Es gibt nicht nur ein Defizit an Demokratie auf der Ebene der EU. Es gibt auch eines an politischer Führung. Das liegt in erster Linie am Rat. Er vor allem braucht eine substantielle Reform. Ein maltesischer Staatspräsident in der Rolle eines obersten EU-Repräsentanten bei Putin, Bush oder Jiang Zemin macht die Europäischen Union zu Absurdistan. Die hektische Halbjahresrotation der Präsidentschaften muß mit dem Ziel größerer Stetigkeit und Sichtbarkeit abgeschafft werden. In seinen exekutiven und intergouvernementalen Koordinierungsaufgaben wie in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Haushalts- und Steuerpolitik muß der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können. Dafür müssen die Stimmen der Mitgliedstaaten so gewichtet und die für Entscheidungen erforderliche Mehrheit so definiert werden, daß Blockaden durch einen einzelnen Staat ebenso ausgeschlossen sind wie die Bildung von Blöcken: Groß gegen Klein, Nord gegen Süd, Arm gegen Reich - und jeweils umgekehrt.
Die Union braucht eine eigene Konstruktion der Demokratie: die einer "Vielvölker-Demokratie", in der sich die Legitimation nicht aus dem Willen eines Volkes, sondern aus dem mehrerer Völker hergeleitet ist. Und die einer "Mehr-Ebenen-Demokratie", in der nationale Regierungen über den Rat an der europäischen Gesetzgebung beteiligt sind und durch ihn zugleich exekutive Aufgaben wahrnehmen und intergouvernementale Entscheidungen treffen. Die Union wird auch künftig eine Mischung von föderalen und konföderalen Elementen, gemeinschaftlichen und intergouvernementalen Entscheidungsverfahren sein. Ihre Mitgliedstaaten werden immer mehr sein, als nur die Länder einer "Bundesrepublik Europa". Weder die Bundesrepublik Deutschland noch die USA, nicht einmal die Schweiz können als Blaupausen für die künftige Konstruktion Europas dienen. Sie wird eigenartig und einzigartig bleiben.
* Klaus Hänsch ist Mitglied im Präsidium des "Konvents zur Zukunft Europas" und ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments
"Herausforderung und Chance", Artikel für die taz (Februar 2002)
Klaus Hänsch, MdEP*
Die Einsetzung des Konvents ist für sich allein schon eine kleine Revolution: Zum ersten Mal wird eine Vertragsreform auch durch europäische und nationale Parlamentarier vorbereitet. Das hat strategische Bedeutung für die weitere Entwicklung der Europäischen Union. Der Konvent kann zum ersten Schritt von der intergouvernementalen Methode in die Gemeinschaftsmethode bei der Änderung der Verträge werden.
Erfolg und Scheitern liegen nahe beieinander. Kommt der Konvent nur zu vagen Empfehlungen an die nächste Regierungskonferenz oder zur Formulierung von ein paar Änderungsanträgen zum Vertrag von Nizza, ist er überflüssig. Legt er den Staats- und Regierungschefs zwei oder drei alternative Optionen vor, weiß die europäische Öffentlichkeit nicht, was er will, und die Regierungskonferenz tut, was sie will. Der Konvent muß sich zu einem einzigen, kohärenten Vorschlag von kühnem Realismus durchringen. Wird dieser Vertragsentwurf von einem breiten Konsens getragen, bekommt er ein politisches Gewicht, das die Regierungen kaum ignorieren können.
Mit einem Versuch, Kopfgeburten wie "Kerneuropa", "Avantgarde", "verschiedene Geschwindigkeiten" usw. Leben einzuhauchen oder sie gar zu Strukturelementen der EU zu machen, würde der Konvent sich blockieren. Seine Arbeit muß auf einen Konsens zwischen den Fünfzehn, nicht auf die Spaltung der Union ausgerichtet bleiben.
Der Konvent braucht das Rad nicht neu zu erfinden. Das EU-spezifische System der "checks and balances" hat sich fünfzig Jahre lang bewährt. Es gehört nicht über Bord geworfen, aber für die erweiterte EU neu justiert:
- Ein schlichter Satz im neuen Vertrag: "Die EU-Gesetze und die Einnahmen und Ausgaben der Union werden von Parlament und Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen", beseitigte die bisherige Flickschusterei bei den Rechten des Parlaments und bei den Entscheidungsverfahren des Rates. Das wäre ein Quantensprung zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der EU und zur Transparenz ihrer Entscheidungsverfahren.
- Die politische Verantwortlichkeit der Kommission und ihres Präsidenten muß gestärkt werden, gewiß. Aber manche Reformidee führt auch in die Irre: etwa die einer direkten Wahl des Kommissionspräsidenten. Man stelle sich vor, im deutschen Fernsehen versuchen ein portugiesischer, ein schwedischer, ein italienischer usw. Direktkandidat (oder eine Direktkandidatin), zwangsläufig mit den Stimmen ihrer Dolmetscher, sich gegeneinander zu profilieren. Das wird ein Stück zum Wegzappen und das Gegenteil von Bürgernähe. Der Kommissionspräsident muß von der Mehrheit des Europäischen Parlaments gewählt werden. Plebiszitäre Elemente passen nicht in eine "Föderation der Nationalstaaten".
- Der Rat vor allem muß nicht nur handlungsfähig bleiben, sondern endlich führungsfähig werden: Dafür müssen seine exekutiven Funktionen sowie seine Koordinierungsaufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Haushalts- und Steuerpolitik von seinen legislativen Aufgaben getrennt werden. Für beides wird das Erfordernis der Einstimmigkeit abgeschafft. Als Legislativorgan wird der Rat zur Staatenkammer und tagt öffentlich.
- Die Währungsunion erzwingt eine engere Koordination der nationalen Haushalts- und Steuerpolitiken. Der EURO verlangt mehr als die Begrenzung übermäßiger Defizite. Die EU braucht Mechanismen zur Durchsetzung einer der gesamten EURO-Zone angemessenen Wirtschaftspolitik.
- Kompetenzfragen sind auch Demokratiefragen. Deshalb müssen die Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Union präzisiert und neu geordnet werden. Dabei hat eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene wenig Chancen. Wenn zudem solche Vorschläge aus Deutschland kommen, stehen sie unter dem Generalverdacht, es gehe den Deutschen nicht um weniger Kompetenzen, sondern um weniger Geld für die EU. Aber Wolfgang Clements Vorschlag, die EU-Kompetenzen nach "ausschließlichen Kompetenzen", "Grundsatzkompetenzen" und "Ergänzungskompetenzen" neu zu ordnen, wäre auszuloten. Und in jedem Fall sollte die Dichte und Durchgriffstiefe von EU-Regelungen begrenzt werden.
- Gelingt es, die Essenz der bestehenden Verträge in einem "Grundlagenvertrag" über Zielsetzung, Organisation und Funktionsweise der Union zu konzentrieren, hätte das konstitutionelle Qualität.
Wird der Konvent eine "Verfassung" für die Europäische Union entwerfen? Das Europäische Parlament ist dafür. Die deutschen Vertreter im Konvent wollen es. Die einiger anderer Länder auch. Aber eben längst nicht alle. Und nicht überall entwickelt der Begriff "Verfassung" mobilisierenden Charme.
Der Konvent sollte es deshalb vermeiden, mit Begriffen zu hantieren, die von Land zu Land Unterschiedliches bedeuten. Wenn er sich in Definitionsdiskussionen verirrt, ist er verloren. Besser ist es, er folgt bei seiner Arbeit dem "kategorischen Imperativ", daß jeder seiner Vorschläge immer auch elementarer Bestandteil einer europäischen Verfassung sein könnte. Dann kann auch eine daraus werden.
Der Konvent beginnt seine Arbeit in einer Zeit, in der Europa immer wichtiger wird und die Bürger immer weniger interessiert. Sie sind zwar (noch) nicht gegen die Europäische Union, aber sie wissen nicht (mehr) so recht, warum sie dafür sein sollen. Der Konvent muß seinen Beitrag dazu leisten, daß sie wieder wissen können, wozu sich die Völker Europas in einer Union zusammenschließen.
Ihnen geht es nicht zuerst um Institutionen, so wichtig sie sein mögen. Nicht einmal um eine Politikreform in der Landwirtschaft oder bei der Strukturförderung, so notwendig sie wäre. Es geht um die wirtschaftliche, politische und, wahrlich nicht zuletzt, um die kulturelle Selbstbehauptung Europas - um die Bewahrung einer europäischen Lebensweise. Die europäische Grundrechtecharta, fest im Vertrag verankert, gibt dafür die Orientierung.
Der Konvent ist ein Wagnis. Und er hat nur eine Chance. Vertut er die, wird er eine zweite nicht bekommen. Wenn er scheitert - an der entscheidenden Regierungskonferenz 2004 oder schon vorher an sich selbst - geht in der Union mehr zu Bruch als nur der Versuch, Reformen nach einer neuen Methode vorzubereiten. Die europäischen Völker büßten ihr Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft ein. Das wäre vermutlich irreparabel. Hat er dagegen Erfolg, bekäme die Einigung Europas neuen Schwung, der die Union über die Klüfte von Erweiterung und Globalisierung, neuen Bedrohungen und unumgänglichen Politikreformen hinwegtragen wird.
* Klaus Hänsch ist Mitglied im Präsidium des Konvents, stellvertretender Vorsitzender der SPE-Fraktion und ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments
Das Maximum des Erreichbaren - Minimum des Notwendigen? Die Ergebnisse von Nizza vorgesehen zur Veröffentlichung in der Vierteljahreszeitschrift "Integration" 2/2001 (März 2001)
Klaus Hänsch
Die Europäische Union steht vor einer neuen Epoche des politischen Einigungsprozesses. Sie muß die Erweiterung der EU nach Osten nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch institutionell verkraften und nach den Umwälzungen von 1989/90 ganz Europa ein neues politisches Gesicht geben. Sie muß sich in die Lage versetzen, in der Welt die politische Verantwortung zu übernehmen, die ihrem wirtschaftlichen Gewicht entspricht. Sie muß in eine Verfassung hineinwachsen, die sie nach innen und nach außen handlungsfähiger macht, die demokratische Legitimation ihrer Beschlüsse vertieft, ihre Akzeptanz bei den Bürgern stärkt und die Solidarität zwischen ihren Völkern festigt. In Nizza, so hatten sich die Erwartungen trotz aller Dämpfungsversuche aufgeschaukelt, sollte ein Vertrag geschlossen werden, der einer Union von 27 Staaten mit 470 Millionen Menschen Gestalt gibt.
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben den Vertrag von Nizza als das Maximum des Erreichbaren bezeichnet. Das mag er sein. Er bleibt aber weniger als das Minimum des Notwendigen. Er versetzt die Union nicht in die Lage, auch nur einer der kommenden Herausforderungen gerecht zu werden. Daß er es könnte, war von vornherein nicht zu erwarten. Sogar wenn alle Forderungen des Europäischen Parlaments erfüllt worden wären, klaffte doch noch ein erheblicher Abstand zu dem, was institutionell für die Zukunft ganz Europas notwendig ist.
Der Vertrag ist weniger dafür zu kritisieren, was er zustande gebracht hat, als wie er zustande gekommen ist: Die innenpolitisch gelähmte und persönlich unzulängliche französische Präsidentschaft war ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Vor allem durch das Verhalten Chiracs kam es zu einem Konflikt zwischen "großen" und "kleinen" Mitgliedstaaten, für den es angesichts der 40-jährigen politischen Praxis im Entscheidungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft weder Anlaß noch Grund gibt. Einige Regierungschefs haben reflexhaft nationale Egoismen als nationale Interessen ausgegeben. Was in der Hektik, der Frustration und der Übermüdung einer Nacht "zusammengekloppt" wurde, ist voll von handwerklichen Fehlern und Schlampereien.
I.
Der Vertrag von Nizza bleibt hinter dem Notwendigen zurück, aber er ist kein Rückschritt. Wer Nizza mit früheren europäischen Räten vergleicht und mit dem Ergebnis unzufrieden ist, sollte nicht vergessen, daß dieses Mal genau die Probleme auf dem Verhandlungstisch lagen, die man bislang nicht lösen konnte: Die Fünfzehn haben sich auf eine neue Gewichtung der Stimmen im Ministerrat geeinigt - in Amsterdam war es darüber noch zu einem heftigen Streit gekommen. Für die EU-Kommission wurde eine neue Struktur gefunden - in Amsterdam hatte man noch vergeblich nach ihr gesucht. Das Feld für Mehrheitsentscheidungen im Rat wurde in Bereiche hinein erweitert, die in Amsterdam noch tabu waren.
Immerhin können demnächst über die schon in Amsterdam in die Mehrheitsentscheidung überführten 70 Prozent der EU-Gesetzgebung hinaus weitere etwa 15 Prozent mit qualifizierter Mehrheit im Rat beschlossen werden: Insgesamt 31 neue legislative Fälle und, was nicht weniger wichtig ist, zehn und damit fast alle Personalentscheidungen bzw. Ernennungen.
Bei der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen fehlen die Harmonisierung der Steuern und die soziale Dimension des Binnenmarktes. Das ist zweifellos ein schwerer Mangel. In der Asyl- und Einwanderungspolitik (durch Deutschland), bei der Gestaltung und Ausstattung der Struktur- und Kohäsionsfonds (durch Spanien) und in der Außenhandelspolitik (durch Frankreich) wurde der Schritt von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen durch Aufschübe und Ausnahmen verzögert und verzettelt, aber immerhin nicht vereitelt.
In diesem Zusammenhang gibt es überschießende Kritik. Spanien hat sich zwar ein Veto bei den Beschlüssen über die Struktur- und Kohäsionsfonds ab 2007 gesichert. Wer aber glaubt, damit könne Spanien sich seine Kohäsionsfondsmilliarden bis 2013 sichern, folgt dem Trugschluß, daß die nächste mittelfristige Finanzplanung wie die bis 2006 geltende für sieben Jahre beschlossen wird. Das muß sie nicht. Sie kann nach 2006 auch für einen kürzeren Zeitraum vereinbart werden. Kommt keine Einigung zustande, wird sie mit lediglich technisch angepaßten Beträgen weitergeführt. Auf alle Fälle kann sie jederzeit durch das Europäische Parlament, die Kommission oder den Rat gekündigt werden. Dann entscheiden Rat und Parlament im Rahmen des Haushaltsverfahrens jedes Jahr neu und jeweils mit Mehrheit nach den kargen Regeln des Vertrages. Diese Folgen eines Vetos wird kein spanischer Regierungschef ignorieren können.
Durch den neuen Vertrag steigt das Stimmgewicht der großen Mitgliedstaaten im Rat. Das ist wegen der vielen kleinen, die mit der Osterweiterung dazukommen werden und vor dem Hintergrund der zugunsten der kleinen Länder veränderten Struktur der EU-Kommission schon nötig. Die Schlechterstellung Tschechiens und Ungarns gegenüber Belgien und Portugal wird ohne Frage beim Abschluß der Beitrittsverträge korrigiert werden - zumal es sich wahrscheinlich ohnehin nur um "Tippfehler" handelt, wie Präsident Chirac eine ähnliche (gerade noch korrigierte) Ungleichbehandlung Polens entschuldigte (am 12.12.2000 im Plenum des Europäischen Parlaments). Die zeitweise grotesk irreale, lächerlich absurde Diskussion darüber, ob Deutschland drei, eine oder keine Stimme mehr als Frankreich haben darf, wird auf die Dauer nicht verdecken, daß die Stimmengleichheit mit Frankreich im Rat an dem besonderen Gewicht Deutschlands in der Europäischen Union wahrlich nichts ändert.
Was an Stimmen und Staaten zusammenkommen muß, um im Rat die qualifizierte Mehrheit zu erreichen, wird durch Nizza zwar komplizierter beschrieben und damit undurchsichtiger. Aber in der Substanz unterscheidet es sich nur geringfügig von den heute geltenden Regeln. Um die qualifizierte Mehrheit zu erreichen, muß künftig mindestens die Hälfte der Mitgliedstaaten im Boot sein. Das ist auch heute schon so. Mehrheiten im Rat sind zwar nicht, wie ursprünglich gewollt, leichter zustande zu bringen, aber es wird selbst mit 20 oder 25 Mitgliedstaaten auch nicht schwerer - es sei denn, man unterstellt bei den beitretenden Staaten einen geschlossenen Willen zur Blockade.
Erst wenn der 27. Mitgliedstaat beitritt, wird Mehrheitsbildung (geringfügig) erschwert und werden Blockaden (geringfügig) erleichtert. Dann wird die qualifizierte Mehrheit definitiv von 71,3 Prozent auf 73,4 Prozent bzw. 73,9 Prozent steigen. Wann es zu der anvisierten EU-27 kommen wird, ist ungewiß. Ob das in Nizza entworfene, in keinem Detail stimmige Szenario, überhaupt jemals eintreten wird, ist es ebenso. Übrigens: In Nizza ist das Blockadepotential eines einzigen Staates gewachsen, nämlich Deutschlands. Gewachsen ist damit auch die europäische Verantwortung Deutschlands.
Der EU-Kommission wurde eine Strukturreform verordnet: Die großen Mitgliedstaaten verzichten ab 2005 auf ihren zweiten EU-Kommissar. Es gilt das Prinzip "ein Kommissar pro Mitgliedstaat". Also wird durch den Beitritt der ersten fünf neuen Staaten die gegenwärtige Zahl der Kommissare nicht überschritten. Erst danach kann sie auf 26 steigen. Mit dem Beitritt des 27. Mitgliedstaats wird das Prinzip "ein Kommissar pro Mitgliedstaat" wieder aufgehoben und ein Rotationsprinzip eingeführt - durch einstimmigen Ratsbeschluß und nicht durch eine neue Regierungskonferenz. Eine Ratifikationshürde kann also nicht mehr aufgebaut werden. Geschwächt geht die Kommission aus dieser Reform jedenfalls nicht hervor. Ihre Rolle bei der Einleitung der Verstärkten Zusammenarbeit ist gestärkt. Ihre Durchführungsbefugnisse werden nicht durch eine neue Komitologie an die Kette gelegt. Ihr Initiativrecht ist ungeschmälert.
Innerhalb der Kommission, die vernünftigerweise ein Kollegium bleibt, ist die Stellung des Präsidenten gestärkt worden. Er kann zum Chef einer europäischen Regierung werden - nicht, indem er sich dazu erklärt, sondern indem er es ist und das Europäische Parlament es ihn werden läßt. Er muß für dieses Amt nicht mehr einstimmig benannt werden. Damit macht Nizza- wenn man es denn politisch will - den Weg frei für Spitzenkandidaturen bei der nächsten Europawahl. Eine Fortgeltung der Einstimmigkeit bei der Benennung hätte künftig bestenfalls virtuelle europaweite Spitzenkandidaturen zugelassen.
Das Europäische Parlament ist erneut gestärkt worden: Es erhält endlich das Klagerecht zur abstrakten Normenkontrolle vor dem EuGH. Damit zieht es in diesem Bereich mit Rat und Kommission gleich. Sein Mitentscheidungsrecht in den Fällen der Gesetzgebung, in denen der Rat mit Mehrheit entscheiden kann, wurde erneut ausgeweitet.
Das Prinzip, daß überall dort, wo der Rat mit Mehrheit gesetzgeberisch entscheiden kann, das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht hat, ist zweifellos durchlöchert. Aber wer genauer hinsieht, erkennt, daß es sich dabei in den neuen Fällen- mit der Ausnahme der Haushaltsordnung - um Randbereiche der Rechtsetzung oder um Personalentscheidungen handelt, die in den meisten Mitgliedstaaten auch keiner parlamentarischen Entscheidung unterliegen. In Nizza ist es wieder nicht gelungen, die Mehrheitsentscheidung im Rat in der gemeinsamen Agrarpolitik an die Mitentscheidung des Parlaments zu binden. Das ist allerdings keine neue Lücke, sondern eine, die schon in Amsterdam nicht geschlossen werden konnte.
Die Verteilung der Mandate im Europäischen Parlament ist zugunsten der bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten geändert worden. Deutschland wird auch nach der Erweiterung weiterhin über 99 Mandate verfügen. Alle anderen Mitgliedstaaten (außer Luxemburg) verlieren Sitze, die kleineren - relativ gerechnet - mehr. Das ist ein kleiner, aber nicht unwichtiger Schritt auf dem Weg zu einer geringeren Verzerrung der Repräsentation im Europäischen Parlament. Daß dabei die festgesetzte Höchstgrenze von 700 Sitzen - eine ohnehin fiktive Größe - überschritten wird, kann man beckmesserisch beklagen, sollte sich aber daran erinnern, daß diese Grenzüberschreitung auch in den Vorschlägen des Parlaments enthalten war. Ohne eigene tiefgreifende Reformen wird das Parlament ohnehin weder mit 732 noch mit 700 Abgeordneten arbeitsfähig sein.
Die Vision, durch eine Erleichterung beim Zustandekommen einer "Verstärkten Zusammenarbeit" eine Avantgarde, Pioniergruppe oder ein Gravitationszentrum zu institutionalisieren, ist in Nizza auf Bonsai-Größe zurechtgestutzt worden. Künftig genügt zwar, daß sich acht Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich zur Verstärkten Zusammenarbeit zusammenfinden und der Rat kann sie mit Mehrheit beschließen. Aber daß sie bisher nicht zustande gekommen ist, lag nicht an einem zu hohen Quorum oder an einer Vetodrohung, sondern am mangelnden politischen Willen und an fehlender politischer Substanz. Daran ändert sich durch Nizza nichts: Schon will der französische Staatspräsident an seinen Vorschlag einer europäischen Pioniergruppe unter deutsch-französischer Führung nicht mehr erinnert werden. (FAZ v. 31.1.2001)
Verstärkte Zusammenarbeit ist nur erlaubt, wenn sie die Ziele, die Grundsätze, den acquis der Union nicht verändert, in ihre ausschließlichen Zuständigkeiten nicht eingreift, nicht außerhalb der Befugnisse von EU und EG stattfindet, den Binnenmarkt und die Kohäsion nicht beeinträchtigt, den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten nicht beschränkt und den Wettbewerb nicht verzerrt. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kann jeweils ein Mitgliedstaat verhindern, daß sie zustande kommt. Verteidigung und Fragen mit militärischen Bezügen sind ohnehin ausgeschlossen. Und überhaupt darf Verstärkte Zusammenarbeit nur der letzte Ausweg sein, wenn die Ziele des Vertrages mit den darin festgelegten Verfahren nicht erreicht werden können. Nizza hat der Verstärkten Zusammenarbeit nicht nur alle avantgardistischen Zähne gezogen, sondern sie auch noch in institutionelle Ketten gelegt. Das macht sie unschädlich und zugleich unwirksam.
Verstärkte Zusammenarbeit kann zur Stärkung der im Vertrag von Maastricht anvisierten "Wirtschaftsunion" führen, unter der Voraussetzung allerdings, daß alle EURO-Staaten um der Stabilität des EURO und der Glaubwürdigkeit der Währungsunion willen daran teilnehmen, keiner weniger, aber auch keiner mehr. Auch in anderen Bereichen ist Vorsicht geboten. Die Gruppe von Mitgliedstaaten, die zum Beispiel im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes verstärkt zusammenarbeiten kann und will, wäre anders zusammengesetzt als in der Verkehrspolitik, und diese wieder anders als bei der Gestaltung von Arbeitnehmerrechten usw.
Als Ausnahme kann durch Verstärkte Zusammenarbeit hier oder da ein integrativer Sog entstehen, der die EU voranbringt. Als Strukturprinzip macht sie aus der EU eine patch-work-Union, untergräbt die Legitimation der gemeinsamen Organe, zerstört die Einheit des gemeinschaftlichen Rechts, stärkt die nationalen Bürokratien und verwirrt die europäischen Bürger. Nur das, was von einer Avantgarde oder Pioniergruppe erwartet wird, nämlich einen Beitrag zur föderalen Vertiefung der Union zu liefern, kann sie nicht. Sie hat keine vertragsändernde Wirkung - nicht einmal vertragsentwickelnde.
II.
Mit drei Beschlüssen sind in Nizza sogar Weichen in die Zukunft gestellt worden:
1. Die Staats- und Regierungschefs haben sich ausdrücklich darauf festgelegt, daß die EU nach der Ratifizierung des Nizza-Vertrages, also Anfang 2003 erweiterungsfähig ist. Präziser wären sie gewesen, wenn sie die Union für erweiterungsbereit erklärt hätten. Klar ist jedenfalls durch diesen Beschluß, daß die Erweiterung zumindest bis nach 2005 hinausgeschoben wird, wenn die Ratifikation in einem Mitgliedsstaat scheitert.
Ein negatives Votum durch das Europäische Parlament brächte den Vertrag zwar nicht zum Scheitern, würde aber in Osteuropa als Signal gegen den vorgesehenen Zeitplan oder gegen die Erweiterung selbst verstanden. Übrigens durchaus zu Recht. Zumindest außerhalb der Europäischen Union nimmt man das Parlament noch so ernst, daß man ihm zutraut, aus seinen Stellungnahmen auch Konsequenzen zu ziehen. Wenn es den Vertrag von Nizza ablehnt, weil er nicht ausreicht, den Beitritt weiterer Staaten zur Union zu bewältigen, muß es gegebenenfalls auch bereit sein, die Beitrittsverträge abzulehnen.
2. In Nizza ist nicht das letzte Wort zur Struktur und zur Funktionsweise der erweiterten Union gesprochen worden. Für 2004 wurde eine weitere Vertragsreform angesetzt. Sie soll insbesondere die Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten genauer abgrenzen und die EU-Verträge vereinfachen. Daraus kann ein konstitutioneller Prozeß werden. An ihm werden die Beitrittskandidaten beratend teilnehmen. Zum Ende hin könnten einige schon mit vollen Rechten dabei sein. Das ist das Ende der Illusion, die Union könne "fertig" sein, bevor sie sich erweitert. Die Struktur der erweiterten Union wird erst in der erweiterten Union gefunden - und durch sie.
3. Die bisher gültige Methode der Vertragsreformen ist ans Ende gekommen. Das haben die EU-Staats- und Regierungschefs in Nizza offenbar eingesehen. Der nächsten Reform soll eine breite organisierte Diskussion in der europäischen Öffentlichkeit vorangehen. Dabei könnte das Europäische Parlament eine herausragende Rolle spielen. Es möchte, daß die Reform von 2004, aufbauend auf den Erfahrungen, die bei der Ausarbeitung der Grundrechtscharta der EU mit einem Konvent aus Vertretern der Regierungen, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente gemacht wurden, ebenfalls durch einen Europäischen Konvent vorbereitet wird.
Sollte das Europäische Parlament den Nizza-Vertrag ablehnen wollen, muß es sich fragen, was es damit erreicht: Eine neue Regierungskonferenz kann das Parlaments nicht erzwingen, aber es kann durch ein "Nein" die ihm zugedachte Rolle im Nach-Nizza-Prozeß verspielen. Daß das belgische oder das italienische Parlament einem entsprechenden Votum des Europäischen Parlaments folgen und den Vertrag von Nizza nicht ratifizieren würde, hat sich längst als das erwiesen, was es immer war: eine Legende. Aber selbst wenn eine neue Regierungskonferenz zustande käme, säßen am Verhandlungstisch die gleichen Chefs mit den gleichen Problemen - also gäbe es vermutlich auch die gleichen Ergebnisse.
Je länger es dauert bis eine neue Regierungskonferenz zusammentritt, desto geringer ist die Aussicht, die Selbstverpflichtung der Union einzuhalten, von Anfang 2003 an erweiterungsfähig zu sein. Die Behauptung, eine Ablehnung des Nizza-Vertrags gefährde die Erweiterung nicht, beruht jedenfalls auf einem gefährlichen Trugschluß. Gibt es einen neuen "besseren", also über den Nizza-Kompromiß hinausgehenden Vertrag, wäre dessen Ratifikation in einigen Mitgliedstaaten (Frankreich, Dänemark, Irland) noch weniger gesichert als die des abgelehnten und die Erweiterung würde erheblich hinausgeschoben. Gibt es keinen neuen Vertrag, wäre damit einigen Mitgliedstaaten der Grund geliefert, den Beitritt neuer Staaten abzulehnen.
Auch mit einem nur konsultativen "Nein" würde sich das Europäische Parlament selbst eine Falle stellen: Die vom Parlament besonders kritisierte Stimmengewichtung und die Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat, die Zahl der Kommissare und die Zahl der Mandate im Europäischen Parlament würden bei der Erweiterung entweder einfach zahlenmäßig fortgeschrieben: Das will niemand und am wenigsten das Europäische Parlament. Oder die Mitgliedstaaten halten an der Erklärung Nr. 20 zum Vertrag von Nizza fest, machen sie zum "gemeinsamen Standpunkt" für die Beitrittsverhandlungen und schreiben genau das, weswegen das Parlament den Vertrag abgelehnt hat, in die Beitrittsverträge hinein. Konsequenterweise müßte das Europäische Parlament dann bereit sein, seine einzige Waffe, über die es gegen Nizza verfügt, wirklich einzusetzen: die Ablehnung der Beitrittsverträge. Der Glaubwürdigkeitsgrad dieser Drohung tendiert gegen Null. Für eine "Bestrafung" der Beitrittskandidaten für die Versäumnisse der Mitgliedstaaten wird es im Europäischen Parlament keine Mehrheit geben - nicht aus Feigheit, sondern aus gesamteuropäischer Verantwortung.
Bleibt der Versuch, durch ein "Nein" zum Vertrag eine "heilsame Krise" auszulösen. Einmal davon abgesehen, daß es dazu der Mitwirkung wenigstens eines nationalen Parlaments bedürfte, hätte eine mutwillig vom Zaun gebrochene Krise nach der Schaffung der Währungsunion und kurz vor der Ausgabe des EURO ganz andere Wirkungen als die Auslöser beabsichtigen und überschauen können. Der "Ruck", der dann durch Europa ginge, wäre ein nationaler, wenn nicht nationalistischer. Die Mehrheit gegen den Vertrag wäre im Europäischen Parlament ohnehin keine rein "proeuropäische". Sie bestünde zu mehr als einem Drittel aus "Antieuropäern". Während alle Regierungen und ihre jeweiligen Mehrheiten den Vertrag als das Maximum des Erreichbaren feiern (müssen), wird es selbst begabten und hochbezahlten Öffentlichkeitsarbeitern nicht gelingen, den Bürgern die Ablehnung des Vertrages von Nizza als ein "proeuropäisches Nein" zu vermitteln.
III.
Die Aushandlung des Vertrages von Nizza mag den ohnehin vorhandenen Eindruck verstärkt haben, daß mit der Union die legitimen nationalen Interessen zu kleinlichen nationalen Egoismen zerkrümeln und Europa perspektivlos auf der Stelle tritt. Tatsächlich versperrt der Gipfel von Nizza den Blick auf einen wesentlichen Teil der europäischen Realität. Zu keiner Zeit, seit ihren Anfängen in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, hat sich die europäische Integration so schnell und so tiefgreifend weiterentwickelt wie in den letzten fünf Jahren.
- Zwölf europäische Staaten haben den wohl wichtigsten Teil ihrer nationalen Souveränität, die Verfügung über das eigene Geld, auf eine supranationale Organisation übertragen. Das ist gerade dabei, seine ganze politische Tragweite zu entfalten. Der EURO wird - Nizza hin oder her - schrittweise und schmerzhaft eine engere und tiefere Koordination der Wirtschafts-, Steuer-, und Haushaltspolitiken zwischen den zwölf EURO-Staaten und eine gemeinsame Finanzaußenpolitik mit einer Gemeinschaftsvertretung in WTO und IWF erzwingen.
- Das im September 1999 im finnischen Tampere in Gang gesetzte Gesetzgebungsprogramm zur Schaffung des "Europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" ist quantitativ mit dem Programm zur Vollendung des Binnenmarkts vergleichbar, qualitativ greift es aber in sensiblere Bereiche des Rechts in den Mitgliedstaaten ein. In Nizza ist mit EUROJUST eine Koordinierungsstelle für die nationalen Staatsanwaltschaften für die effektivere Bekämpfung der organisierten grenzüberschreitenden Kriminalität geschaffen worden- das notwendige Korrelat zu EUROPOL.
- Die "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" bringt zum Ausdruck - auch wenn sie nicht rechtsverbindlicher Bestandteil der Verträge wird - daß die Union nicht nur zur Sicherung der Marktfreiheiten, sondern auch um der Freiheitsrechte der Bürger willen besteht und sie stellt neben die beiden Säulen des ethischen Grundbestands der politischen Kultur Europas - Freiheit und Gleichheit -auch die dritte: - die Solidarität. Das verpflichtet die Organe der Union, inspiriert die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und orientiert die Entwicklung des Rechts der Union und der Mitgliedstaaten.
- Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat mit Javier Solana Gesicht und Stimme bekommen. Die Aufgaben der WEU sind mit Ausnahme des Art. V auf die Union übertragen worden. Bis 2003 sollen die europäischen Krisenreaktionskräfte stehen - eine europäische Eingreiftruppe. Die Europäische Union bekommt auch eine militärische Dimension. Sie wird nicht darum herumkommen, ein Entscheidungszentrum aufzubauen, das dafür sorgt, daß sie weiß, was sie sagen will - und daß sie tut, was sie sagt. Aber auf dem Weg dorthin ist in Nizza beschlossen worden, ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee, einen Militärausschuß und einen Militärstab zu schaffen. Niemand macht sich Illusionen über das Gewicht und die Häufigkeit der nationalen Vorbehalte, die einer echten Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union noch lange entgegenstehen werden, aber die Dynamik ist nicht mehr umkehrbar.
Die Europäische Union ist dabei, in die letzten drei der klassischen Hoheitsbereiche der europäischen Nationalstaaten hineinzuwachsen: das Geld, die Justiz und das Militär. Das - und nicht nur der unzulängliche und handwerklich schlechte Vertrag von Nizza - ist das Fundament, auf dem die Union sich erweitern und weiter entwickeln wird. Es ist solider als mancher aufgeregte Kommentar über einen schwachen europäischen Gipfel vermuten läßt.
Gewiß ist alles mit politischen, zeitlichen und juristischen Vorbehalten und Sonderregelungen versehen. Und zweifellos harrt vieles noch der Umsetzung und Durchführung - und der Finanzierung. Aber auf ihrem Weg zu einer "Föderation besonderen Typs" ist die EU viel schneller und viel weiter vorangekommen als es Bürger und Medien und auch Politiker wahrgenommen haben. Diese Entwicklung und nicht nur die kommende Erweiterung erfordert eine Reform der Struktur der Institutionen und Entscheidungsprozesse in der Union über Nizza hinaus. Sie müssen den gewachsenen Aufgaben der Union angemessen werden, nicht bloß auf die wachsende Zahl von Mitgliedstaaten zugeschnitten.
Nizza markiert das Ende einer Epoche des europäischen Einigungsprozesses. Deshalb sollten das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente den Vertrag durchwinken, abhaken und sich auf die Zukunft orientieren. Die ist mit "Nach-Nizza" oder "Post-Nizza" auf einen falschen Begriff gebracht. Vor den Europäern liegt vielmehr ein völlig neuer Abschnitt. Er wird 2004 noch längst nicht zu Ende sein. In ihm muß die Europäische Union die Einigung Europas neu erfinden, ohne sich dabei zu zerstören.
Stellungnahme von Dr. Klaus Hänsch, ob in Deutschland ein Referendum zur Osterweiterung der Europäischen Union durchgeführt werden soll (10.09.2000)
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. September 2000 hat Dr. Klaus Hänsch zu der aktuellen, von EU-Kommissar Günter Verheugen angestoßenen Diskussion, ob in Deutschland ein Referendum zur Osterweiterung der Europäischen Union durchgeführt werden soll, Stellung genommen:
Wir könnten das Grundgesetz ändern und Referenden einführen. Wir sollten es aber nicht tun, um ein bestimmtes Referendum durchführen zu können. Über die Struktur unserer Demokratie darf nicht mit dem Blick auf einen Einzelfall entschieden werden.
Nachdem die Osterweiterung Gegenstand der Debatte über die Einführung des Referendums geworden ist, darf sie auf keinen Fall mehr selbst zum Gegenstand des Volksentscheids gemacht werden. Die wichtigste europapolitische Entscheidung des nächsten Jahrzehnts muß von der Abwägung der Chancen und Risiken der Osterweiterung selbst abhängen, nicht von den Positionen und Argumentationen in einer innerdeutschen Verfassungsdiskussion.
Ein Referendum über die Osterweiterung legt die Zukunft eines anderen Volkes (oder vielleicht aller Völker) im Osten Europas in die Hände des deutschen. Man stelle sich vor: Eine Mehrheit der Deutschen lehnt durch Referendum - ganz demokratisch - den Beitritt Polens zur EU ab. Und eine Mehrheit der Polen entscheidet sich - per Referendum und ganz demokratisch - für den Beitritt. Das Ergebnis: Die Mehrheit der Neinsager bekommt, was sie will, die Mehrheit der Jasager nicht.
Das ist dann kein Sieg der Demokratie mehr, sondern ein Sieg der Deutschen über die Polen. Die Völker können Regierungen und Parlamente, die Fehler gemacht haben oder gar auf Konfrontationskurs gegangen sind, wegjagen - sich selbst nicht. Also: Finger weg von dieser Art Referendum!
„Die Erweiterung der EU darf nicht zum Vehikel ihrer Verengung werden“ (06.09.2000)
In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.9.2000 konfrontiert Dr. Klaus Hänsch die europapolitischen Visionen von Joschka Fischer u. a. zur „Finalität" der europäischen Einigung mit der heutigen Realität der Europäischen Union.
„Die Erweiterung der EU darf nicht zum Vehikel ihrer Verengung werden"
Auch eine Europäische Union mit zwanzig oder mehr Mitgliedern kann handlungsfähig sein
Die Europäische Union steht vor der beispiellos schweren Aufgabe, weitere zehn, zwölf und mehr Staaten aufzunehmen, ohne sich dabei aufzulösen. In einigen EU-Mitgliedstaaten, aber längst nicht in allen, hat eine Diskussion über die Struktur einer erweiterten Union begonnen. Sie geht über "Verfassung", "Föderation", "Avantgarde", "Pioniergruppe", "Gravitationszentrum" kurz: über die "Finalität" der EU.
Die Debatte mag die "Finalität" erhellen, sie sollte die jüngste Entwicklung der EU aber nicht verdunkeln: 1998 wurde die Einführung des Euro in elf Mitgliedstaaten bestätigt. Im Dezember 1999, unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges, beschloß der Europäische Rat in Helsinki die Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe. Auf dem EU-Gipfel von Tampere wurde im Herbst 1999 beschlossen, einen "Europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu schaffen. Ende 2000 wird die Union eine Charta der Grund- und Bürgerrechte erhalten.
Die EU ist in den vergangenen fünf Jahren weiter vorangekommen, als es selbst glühende Föderalisten bemerken. Zwar ist alles mit vielen politischen, zeitlichen und juristischen Vorbehalten und Sonderregelungen versehen, aber es wurde zu fünfzehnt und auf der Basis der jeweils geltenden Verträge beschlossen. Jeder beitretende Staat wird das übernehmen müssen - und wollen.
Die gemeinsame Währung verstärkt nicht nur die Verflechtungen im Binnenmarkt, sie verringert auch die Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten in deren Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik. Das erzwingt eine noch engere Abstimmung zwischen den Euro-Staaten und verlangt innerhalb der EU und in der Vertretung nach außen nach einer politischen Autorität als Partner - nicht als "Gegengewicht" der unabhängigen Europäischen Zentralbank.
Neben dem Gemeinsamen Markt ist die Gemeinsamkeit der Bürgerrechte in den Mittelpunkt der europäischen Einigung gerückt. Der europäische Grundrechtskonvent ist dabei, den Entwurf für eine europäische Grundrechtecharta vorzulegen. Er wird zwar das Rad nicht neu erfinden, aber ihm doch einige neue Speichen einziehen. Selbst wenn der Text zunächst nicht Bestandteil des EU-Vertrages werden sollte, ist er die Magna Charta des europäischen Bürgerrechts.
Das in Tampere in Gang gesetzte Gesetzgebungsprogramm zur Schaffung des "Europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" ist quantitativ mit dem Programm zur Vollendung des Binnenmarkts vergleichbar. Qualitativ reicht das Vorhaben in viel sensiblere Bereiche der bürgerlichen Freiheiten hinein. Es darf nicht allein durch die Zusammenarbeit der Regierungen beschlossen werden. Demokratische Legitimation erfordert die Mitentscheidung durch das Europäische Parlament, richterliche Kontrolle die Unterwerfung unter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
In der Außenpolitik und in der Sicherheitspolitik hat die Europäische Union begonnen, durch Javier Solana "mit einer Stimme" zu sprechen - noch leise und stockend zwar, aber sie wird immer besser hörbar. Wenn nun sogar die Verteidigung von der Union nicht mehr unberührt bleibt, braucht diese ein Entscheidungszentrum, das dafür sorgt, daß sie weiß, was sie sagen will - und daß sie tut, was sie sagt.
Die EU wächst in die drei klassischen Hoheitsbereiche der europäischen Nationalstaaten hinein: das Geld, das Militär und die Rechte der Bürger. Daraus folgen geradezu tektonische Verschiebungen in der Verfassungsgeographie von Mitgliedstaaten und Union. Dieser Prozeß, und nicht erst die Erweiterung, erfordert eine tiefgreifende Reform der institutionellen Strukturen und der Entscheidungsprozeduren in der Union. Ob durch eine "Verfassung" oder einen Vertrag, ist zweitrangig. Wichtiger ist, daß die Reform auf die neuen Aufgaben, nicht bloß auf die höhere Mitgliederzahl zugeschnitten ist.
Auf dem Gipfel in Nizza Ende des Jahres wird über die Strukturen, die der Entwicklung der EU angemessenen wären, geschweige denn über die einer erweiterten Union, das letzte Wort nicht gesprochen. Das war zwar nie zu erwarten, ist vielen aber erst durch die Reden von Bundesaußenminister Fischer und des französischen Präsidenten Chirac deutlich geworden. Dennoch darf die Debatte über die "Finalität" der EU die aktuelle Reform des EU-Vertrages nicht von vornherein entwerten.
Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, die Neugewichtung der Stimmen im Rat und die Veränderung der Kommissionsstruktur sind nicht bloß Krümel, die in Amsterdam übriggeblieben sind, sondern macht- und balancepolitische Brocken von erheblichem Gewicht. Es stört den schwierigen Ratifikationsprozeß in einigen Mitgliedstaaten, wenn jetzt neue und noch gewichtigere aufgetischt werden. Zu Recht wollen Deutschland und Frankreich sich jetzt darauf konzentrieren, die Reform substantiell und zugleich durchsetzbar zu machen.
Durch eine neue Vertragsbestimmung, die "verstärkte Zusammenarbeit", soll in Nizza das Tor für "Avantgarden" geöffnet werden, durch das sie ausbrechen können, ohne die EU zu verlassen. Das Europäische Parlament, die EU-Kommission, Frankreich und Deutschland verlangen das. Eine wachsende Zahl von Mitgliedstaaten akzeptiert es - manche von ihnen allerdings auch, weil sie dahinter ihre Weigerung verstecken wollen, weitere Mehrheitsentscheidungen zuzulassen.
Die Hoffnung auf vorwärtsdrängende Avantgarden sollte nicht überschäumen. So neu ist "verstärkte Zusammenarbeit" nämlich nicht. Auch bisher schon kann eine Gruppe von Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich vorangehen - unter der Bedingung allerdings, daß die verstärkte Zusammenarbeit einiger von allen genehmigt wird. Das darin liegende Vetorecht soll künftig wegfallen. Nur: Am Veto eines der Mitgliedstaaten ist die verstärkte Zusammenarbeit bisher nicht gescheitert. Es gab nicht einmal den Versuch, sie zustande zu bringen.
Bei der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik haben die Mitgliedstaaten neben der EU-Kommission sogar das Initiativrecht. Da hätte eine Avantgarde aus dem Troß nach vorn stoßen können. Geschehen ist - nichts. Weniger, weil die Regierungen nicht wollen, sondern eher, weil sie nicht können. Um auf diesem Feld eine Gesetzesinitiative zustande zu bringen, fehlen den nationalen Verwaltungen eben ausreichende Kenntnisse über die unterschiedlichen Rechtsstrukturen in den Mitgliedstaaten. Allenfalls die EU-Kommission verfügt über solche Informationen. Wer die Kommission strukturell schwächt, indem er, wie Fischer, den Ministerrat zur Unionsregierung machen, oder, wie Chirac, für die "Pioniergruppe" ein "Sekretariat" schaffen will, marschiert auf alles Mögliche zu, nur nicht auf eine handlungsfähige europäische Föderation.
Wer ist überhaupt Avantgarde? Deutschland und Frankreich gehören wohl schon "eurogenetisch" dazu. Es ist nicht vorstellbar, daß ohne diese beiden in der EU etwas vorangebracht werden könnte. Andere, wie Großbritannien etwa, die skandinavischen Staaten und alle heutigen Beitrittskandidaten, scheinen von vornherein nicht als Avantgarde in Frage zu kommen. Sie gelten eher als Nachhut.
So simpel ist der europäische Alltag nicht. Bei der Umsetzung bereits beschlossener Rechtsvorschriften gehört Frankreich zur Nachhut. Luxemburg übrigens auch. Und Deutschland hält sich bislang eher unauffällig in der Mitte der Truppe. Voran gehen dagegen Länder wie Finnland, Spanien und, man glaubt es kaum, Schweden. Unbedeutende Kleinigkeiten oder Anzeichen für eine komplexere Realität in der Union?
Bei allem, was direkt oder indirekt mit der Finanz- und Währungspolitik zusammenhängt, steht fest, wer zur Avantgarde gehören muß: die Euro-Staaten und keiner weniger - also zwölf zur Zeit, aber auch keiner mehr. Sonst könnte "verstärkte Zusammenarbeit" schnell als Anschlag auf die Rechtseinheit im Euro-Raum interpretiert werden, mit fatalen Folgen für die Stabilität der gemeinsamen Währung.
Im Umwelt- und Verbraucherschutz würde die Avantgarde sich anders zusammensetzen als in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und dort wieder anders als in der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit. Als Ausnahme kann die "verstärkte Zusammenarbeit" die EU durchaus voranbringen. Zum Strukturprinzip erhoben gefährdet sie die Einheit des Rechts, stärkt die Bürokraten und verwirrt die Bürger.
Was die EU mit Blick auf ihren heutigen Zustand wie auf die kommende Erweiterung am nötigsten braucht, die Reform der Entscheidungsstrukturen, ist mit "verstärkter Zusammenarbeit" nicht zu erreichen. Sie kann nur nach den Regeln der EU genutzt werden, nicht zu deren Veränderung. Sie taugt zur partiellen Verdichtung der Politik, nicht zur Vertiefung der Integration. Eine "institutionelle" Avantgarde, die den politischen Willen zu einer Föderation aufbrächte, müßte sich als fester "Kern" durch einen Vertrag im Vertrag konstituieren.
Die Reform von Nizza wird die Grundlage zumindest für die ersten Beitritte sein. Die EU hat sich verpflichtet, Ende 2002 erweiterungsfähig zu sein. Bräche sie ihr Wort, würde sich bei den Beitrittskandidaten der Verdacht zur Gewißheit verdichten, daß die EU vor ihnen immer neue Hürden aufbaut. Das hätte unkalkulierbare Folgen für die Glaubwürdigkeit der EU und die politische Stabilität im europäischen Osten.
Die Arbeit an einer weiteren Vertragsreform oder gar an einer Verfassung kann nicht beginnen, bevor die Reform von Nizza in allen Mitgliedstaaten ratifiziert ist - also nicht vor Ende 2002, und sie kann nicht in wenigen Monaten beendet sein. Die ersten Beitritte dürfen aber nicht hinausgeschoben werden, bis die große Reform oder gar eine Verfassung beschlossen ist. Also werden über Fischers, Chiracs und anderer Vorschläge nicht mehr nur fünfzehn, sondern schon zwanzig und mehr Staaten verhandeln. Die Struktur der erweiterten EU wird erst in der erweiterten Union gefunden - und durch sie. Das Szenario wird dann ein ganz anderes sein als das, in dem jetzt über die Finalität diskutiert wird.
Wer es für unrealistisch, ja ausgeschlossen hält, daß eine EU mit zwanzig und mehr Staaten sich eine handlungsfähige und demokratische Struktur geben kann, zugleich aber am Ziel einer europäischen Verfassung, Föderation oder einem "Vertrag im Vertrag" festhält, erwartet im Grunde, daß der Wind der Erweiterung die Spreu vom Weizen trennen wird. Er setzt, unausgesprochen, vielleicht auch unbewußt, auf das "Schöpferische" einer großen Krise.
Die Union kommt nicht umher, eine Struktur zu entwerfen, die die ganze erweiterte Union handlungsfähig macht und ihr Handeln demokratisch legitimiert. Erstens durch eine Stärkung und Straffung aller Organe der EU (nicht durch die Schaffung neuer). Zweitens durch eine Verschlankung und Präzisierung der Aufgaben der EU und ihre Konzentration auf die Garantie der Marktfreiheiten, die Stabilität des Geldes, die Sicherung der Bürgerfreiheiten nach innen und die Vertretung der gemeinsamen Interessen nach außen. Wenn die Union an Mitgliedern zunimmt, muß sie ihr Aufgaben einschränken. Drittens, statt immer neue Einladungen auszusprechen, sollte sie für ihre Peripherie attraktive Formen der Zusammenarbeit anbieten. Deutsches Interesse ist es, die Union mit allen ihren Mitgliedstaaten zusammenzuhalten. Wird die Erweiterung zum Vehikel für die Verengung der EU, verfehlt sie ihr erklärtes Ziel, Demokratie, Wohlstand, Freiheit und Frieden für das ganze Europa dauerhaft zu sichern.