Einheit und Eigenstaatlichkeit

Einheit und Eigenstaatlichkeit

Einheit und Eigenständigkeit

 

Das Ziel der Einigung war ein kriegsfreies Europa, ein krisenfreies wurde nicht versprochen. Krisen gab es von Beginn an. Bis zum Vertrag von Lissabon 2009 waren es Aufbaukrisen, die durch Kompromisse über die Beschleunigung oder Verlangsamung, die Stärkung oder Neuorientierung des Integrationsprozesses bewältigt oder überstanden wurden. Die Bürger fühlten sich kaum betroffen. Im Grunde waren sie es auch nicht, jedenfalls nicht unmittelbar.

 

Die aktuellen Krisen, ob Euro, Flüchtlinge, dschihadistischer Terror in Europa oder Kriege in der unmittelbaren Nachbarschaft, sind existenzieller. Sie betreffen die Bürger direkt und sie treffen auf eine angeschlagene Union. Neben die vielen, die sich um die Zukunft der europäischen Einigung sorgen und ihrer Unzufriedenheit mit der aktuellen Krisenpolitik in Brüssel wie in den Hauptstädten der Union Ausdruck geben, sind manche mit einem  romantisch-reaktionären Verständnis von Volk, Staat und Europa und  voyeuristisch-klammheimlicher Freude an Zerfall und Untergang getreten. Während Untergangsszenarien Konjunktur  haben, beweist die Union zunächst einmal eine erstaunliche Krisentauglichkeit.

 

I.

Dem Euro wurde im Juli 2012 aus Wissenschaft und Wallstreet noch eine Lebensdauer von „drei bis sechs Monaten" gegeben. Er werde die Union zerreißen, hieß es. Manch einer wartet noch darauf, dass er Recht behält. Tatsächlich „merkelte" sich in einem Stakkato von EU-Gipfeln eine Art „magisches Viereck" aus Zeitkauf, Bankenrettung, Reformdruck und Sparzwang heraus. Gemessen daran, dass die Euro-Regierungen einen Konsens finden und von ihren Parlamenten Rückendeckung bekommen mussten, kamen in kaum zu erwartendem Tempo Beschlüsse von erheblicher Tragweite zustande.

 

Die versäumte finanzpolitische Koordination zwischen den Euro-Staaten wurde via Rettungsschirm, Bankenunion, Fiskalpakt und Re-Regulierung enger und verbindlicher. Ob das ohne Wirtschaftsregierung auf die Dauer funktioniert steht dahin. Die EZB agierte, in der Wissenschaft umstritten und  von höchsten Gerichten kritisch beobachtet, an der Grenze ihres Mandats und hielt die gemeinsame Währung am Leben sowie den Euro stabil. Die Mitgliedstaaten gingen Risiken ein und sprangen den Schuldnerländern in einem Maße bei, das bei der Einführung der Einheitswährung kaum jemand für möglich und zulässig gehalten hatte. Europäische Solidarität, dieses Amalgam aus Verpflichtungen, Abhängigkeiten und Zusammenhalt, erwies sich als belastbar.

 

Natürlich waren Alternativen denkbar - strategische und operative, klare und obskure. Die klarste wäre gewesen, den Euro nicht zu „retten". Der EU-Binnenmarkt wäre auch ohne die Einführung einer gemeinsamen Währung ausgekommen. Nachdem sie aber nun einmal geschaffen war, hätte die Nicht- oder Teilrettung mehr als nur ein „Experiment" beendet. Den Rückbau zu den vielen kleinen Währungen und einer großen D-Mark hätte die Union nicht überlebt. Das ist nicht beweisbar, aber darauf durfte es verantwortliche Politik nicht ankommen lassen. In jedem Fall ist die Vorstellung lebensfremd, der Ausstieg aus dem Euro oder eine andere Rettungspolitik hätten die Bürger wieder für die Union erwärmt.

 

Die sozialen, finanziellen und  institutionellen Lasten der Eurorettung werden das nächste Jahrzehnt bestimmen. Die Krise schwelt noch.  Die Gefahr heftiger politischer und sozialer Verwerfungen in den Krisenstaaten ist nicht gebannt, die Beseitigung  der immensen Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern noch immer nicht in das Zentrum einer Politik zur Förderung wirtschaftliche Dynamik gerückt. Wie jedes andere politische Gebilde auch, muss die Union dazu beitragen, dass die Unterschiede zwischen den Lebensverhältnissen ihrer Bürger nicht zu groß werden. Sie wird unter dem Kreuz des Südens nicht zusammenbrechen.

 

Die Eurokrise hatte es - auch - mit verschiedenen wirtschafts- und finanzpolitischen Mentalitäten in der Union zu tun. Die Flüchtlingskrise trifft auf unterschiedliche  kulturelle und  ethnische Identitäten und Integrationserfahrungen der europäischen Völker: Ehemalige Kolonialmächte mit hohem Einwanderungsanteil aus bestimmten Weltregionen. Mittel- und osteuropäische Staaten mit zum Teil bedeutenden Minderheiten aus unmittelbar benachbarten Völkern. Mittelmeeranrainer mit schon jahrelang strapazierter Aufnahmebereitschaft. Und nicht zuletzt Deutschland, das mit  seiner überragenden wirtschaftlichen und sozialen Stärke in der Union zum Attraktionskern für Asyl, Flucht und Zuwanderung geworden ist.

Es sollte die praktizierte Willkommenskultur des Herbstes 2015, so gut und Sympathie hervorrufend sie war, aber nicht zum Goldstandard europäischer Werte hochstilisieren. Moralische Überheblichkeit ist für  die Europäer nun einmal schwerer zu ertragen als ökonomische Überlegenheit. Politik, Wirtschaft und Medien haben den Flüchtlingsstrom hierzulande eine Zeitlang zu Arbeitskräftenachschub und Rentensicherung verzwergt und fast gleichzeitig europäische Solidarität eingefordert. Dass sich einige Länder im Blick auf ihre eigene Identität sperrten, macht aus ihnen noch keine europäischen Parias.

In der Schengen/Dublin-Union ist eine Politik der offenen Außengrenzen nicht tragfähig. Die Union ist sich einig, dass sie nicht alle aufnehmen kann und nicht jeden aufnehmen will, bleibt aber uneins darüber, wie viele und wen. Sie muss es akzeptieren, dass einige Mitgliedstaaten und Mazedonien zur Eindämmung des Zustroms  Maßnahmen ergreifen, die vor wenigen Monaten noch als inhuman, unmöglich und untauglich galten: Zäune, Auffanglager, NATO-gestützte Grenzpolizei und fragile, wertebelastende Vereinbarungen mit dem demokratisch fragwürdigen Regime in der Türkei. Sie wird sich langsam bewusst, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen im Nahen Osten und in Afrika zur geopolitischen Jahrhundertaufgabe für das ganze Europa geworden ist. Eine Union im Zerfall kann sie nicht bewältigen.

Russland, die der Union unmittelbar benachbarte Großmacht, denkt und handelt in Einflusssphären. Nun sei die Geopolitik zurück, heißt es. Tatsächlich  war  sie nie weg. Aber im Nebel der „Friedensdividende" nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Union  übersehen, dass ihre östliche Nachbarschafts-  und Assoziierungspolitik (nicht zu vergessen die durchaus zwielichtige Ostpolitik der NATO) in Moskau den Eindruck erweckte, sie betrachte den nichtrussischen postsowjetischen Raum als ihr Einflussgebiet. Das rechtfertigt weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim noch die militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine.

 

In dem Schock darüber wollten einige Mitgliedstaaten mit papierenem Protest und „business as usual", andere mit Krimrückholrhetorik und Waffenlieferungen reagieren. Eine solche Spaltung in der europäischen Politik würde Putin als Kollateralgewinn seiner Aggressionspolitik gern einstreichen. Und so ist es überhaupt nicht unlogisch, dass die politischen Kräfte in der Union, die sie gern zerfallen sähen, auch auf die russische Karte setzen. Dagegen fand die Union mit dem Blick auf die historisch verständlichen Sorgen ihrer osteuropäischen Mitglieder einvernehmlich zu einer Kombination aus sanktionsbewehrter Warnung und permanenter Gesprächsbereitschaft. Verbunden mit der militärischen  Abschreckungsgestik der NATO setzte sie ihre Strategie unter deutsch-französischer Führung mit mehr Entschlossenheit und Zusammenhalt durch als in Moskau (und in Washington) erwartet wurde. Ein viel zu gering bewerteter Beweis ihrer Krisentauglichkeit.

 

Berauscht vom Gelingen der Osterweiterung erklärte die EU-Kommission 2007 die Erweiterung auch für die Zukunft zur „wirksamsten politischen Maßnahme". Zehn Jahre später ist die Strategie, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung im Umfeld der Union durch Erweiterung herzustellen und zu stabilisieren, am Ende. Sie bedroht inzwischen den Zusammenhalt der Union selbst. Je größer die Union wird, desto weiter entfernt sie sich von ihren Bürgern. Sie kann die Türkei (auch ohne Erdogan) als Mitgliedstaat nicht verkraften und darf der Ukraine keine Beitrittshoffnungen machen. Die niederländische Volksabstimmung gegen den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine setzt ein deutliches Warnzeichen, erst recht im Blick auf weitere Beitritte. Mit der Ausdehnung  in den euroasiatischen Raum hinein, gewinnt die Union an Größe und verliert an Gewicht. Sie wird zu einen geopolitischen „Raum" und damit zum Spielfeld für andere Mächte.

 

Zum ersten Mal hat sich ein Mitgliedstaat entschieden, die Union zu verlassen. Der Brexit ist für die Union ein historisch bedeutender, politisch schmerzhafter und wirtschaftlich schädlicher Schnitt, aber keine existenzielle Krise. Schließlich macht das Vereinigte Königreich von einer Option Gebrauch, die der EU-Vertrag seit 2009 ausdrücklich einräumt. Folglich sollte die Union mit dem Inselstaat ohne Ranküne, aber auch ohne Rabatt ausschließlich mit dem Ziel verhandeln, den Schaden des Austritts so gering wie möglich zu halten.

 

Partnerschaft à la Schweiz oder Norwegen oder auf andere Weise ist möglich und sinnvoll, ein Umbau der Union nach britischen Vorstellungen ist es nicht. Ein besonderer Zugang zum EU-Binnenmarkt? Ja, aber ohne das Prinzip der Freizügigkeit auszuhöhlen. Sitz und Stimme am Ratstisch und im Parlament?  Nein, denn wer draußen ist, kann drinnen nicht mitentscheiden. Wenn die Union da nicht klare Kante zeigt, wird sie in der Achtung ihrer Bürger weiter sinken.

 

Erst  wenn  sie die Trennungsverhandlungen zu Bleibeverhandlungen mutieren lässt, stürzt der Brexit die Union in eine existenzielle Krise. Dann werden auch andere Länder versuchen, mit Austrittsdrohungen für sich Sondermitgliedschaften auszuhandeln. Gegen den Austrittspopulismus oder die Zerfallserwartungen in Frankreich, Italien, den Niederlanden hilft keine Lobpreisung der Union, auch kein statuiertes Exempel, aber der kühl berechnende Blick auf die realen Folgen eines Austritts.

 

II.

Großbritannien kann die Union verlassen, ohne sie zu zerstören. Andere könnten es auch. Deutschland könnte es nicht. Frankreich übrigens auch nicht. Deutschlands Beteiligung an der Organisation der europäischen Einigung  ist ein Verfassungsauftrag (Art.23, 1 GG), gehört somit zum Kern der nationalen Identität und zur deutschen Staatsräson. Als ökonomischer und politischer Hauptnutznießer und wegen der europäischen Geographie und der Geschichte unseres Landes kann es gar nicht anders, als den europäischen Weg mit Vorrang zu begehen und die Union zusammenzuhalten.

 

Der Austritt des Vereinigten Königreichs hat die Uneinigkeit  zwischen den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten über die künftige Gestalt der Union nicht verringert, aber den Eifer vergrößert, allerlei Schubladen zu öffnen und in alten (und bislang immer gescheiterten) Plänen für Umbau, Anbau oder Neubau der Union zu stöbern. Zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit  und Verbreiterung der Legitimation können sie nur wenig beitragen, aber viel zur Zermürbung der Akzeptanz durch jahrelange Beschäftigung mit sich selbst.

 

Die Rückverlagerung von Zuständigkeiten aus Brüssel in die nationalen Hauptstädte ist leicht gefordert und, wenn es etwa um Tourismus, Sport oder die eine oder andere Einzelheit geht, auch machbar. Aber darüber hinaus wird es schnell kompliziert und schwierig. Zwar hängt nicht alles mit allem zusammen, aber fast alles mit dem Binnenmarkt. Wenn den Bürgern ein Rückgewinn an nationaler  Gestaltungsfreiheit nicht nur vorgegaukelt werden soll, müsste in seine Verknüpfungen mit dem Schutz von Umwelt, Verbrauchern, Gesundheit und Sozialem tief  hineingeschnitten werden. Konsensfähig  ist das nicht. Natürlich könnte die Union von ihren Zuständigkeiten zurückhaltender Gebrauch machen, sollte aber dabei für die Verbesserung ihres Ansehens nicht zu viel erwarten. Als die Union vor acht Jahren den Gurken die Krümmungsfreiheit zurückgab, blieb der Jubel der Bürger überschaubar. Das würde bei den Ölkännchen, Glühbirnen oder Staubsaugern und anderen vermeintlichen oder tatsächlichen Belästigungen, nicht anders sein.

 

Dem  Mantra der Freunde wie der Skeptiker der Union zufolge soll „Europa" die „kleinen" Probleme den Mitgliedstaaten überlassen und sich auf  die Lösung der „großen", grenzüberschreitenden konzentrieren. Zu denen würden aber auch Entscheidungen über die Nutzung der Kernenergie und den Energiemix, die Organisation und Finanzierung der großen Solidarsysteme für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, Kernbereich der sozialen Gerechtigkeit in einer europaweit eng verflochtenen Wirtschaft, sowie Verteidigung und Armee gehören. Diese Vorstellung sträubt selbst mutigen Unionsfreunden die Nackenhaare.

 

Die Letztentscheidung  über  CETA, eine nun wirklich große Frage der Außenhandelspolitik und in der ausschließlichen Zuständigkeit der Union, lassen sich Europäisches Parlament und Rat entwinden und sehen zu, wie ein einziges der 27 nationalen Parlamente das Abkommen für die ganze Union zu Fall bringen kann. Das widerspricht nicht nur dem großen Mantra, sondern verwischt, wieder einmal,  auch politische Verantwortlichkeit in der Union.

 

Die Demokratie ist historisch eng mit dem Nationalstaat verbunden.

Trotz der Stärkung des Europäischen Parlaments  in den vergangenen 20 Jahren nimmt die Mehrheit der Bürger die Union als Einschränkung ihrer nationalen Demokratien wahr. Sie fühlen sich eben im Bekannten eher zuhause. Das ist kein Grund, der Union ein parlamentarisch-demokratisches System à la Bundesstaat zu verpassen. Vor allem dann, wenn es eine, überdies verwackelte Kopie des deutschen ist. Das nämlich wird von Franzosen, Italienern, Polen oder Schweden keineswegs besser verstanden als das gegenwärtige der Union. Sie ist die erste  und bislang einzige transstaatliche  Demokratie der Welt und muss versuchen, ihr eigenes System zu vervollkommnen.

 

Dessen ungeachtet ist die Union längst ein legitimes Feld für gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedstaaten über ordnungspolitische Vorstellungen wie Liberalismus und Protektionismus oder Markt und Gerechtigkeit geworden. Solange die jeweiligen nationalen Mehrheiten die Vorstellungen von der Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele nicht zu einer Legitimationsfrage an die Union dogmatisieren, kann sie das aushalten.

 

Die Union auf ein „Kerneuropa" schrumpfen? Das ist eine alte Idee, die außerhalb Deutschlands kaum Freunde hat. Zu Recht. Der Kern ist eine Chimäre, die sich, mal größer, mal kleiner, je nach Politikfeld, Währung, Binnenmarkt, Verteidigung, Justiz oder Soziales etc., anders zusammensetzt. Statt  die Union in „Kern und Peripherie" zu spalten, sollten die Staaten, die es können und wollen, lieber nach dem Prinzip „Differenzieren und Vorangehen" innerhalb der Union zusammenarbeiten.

 

Auch die Neugründung der Union ist kein neuer Gedanke. Die Zeit für einen europäischen Konvent und einen neuen Vertrag wird kommen - am Ende eines langen Prozesses, nicht an seinem Anfang. Ein neuer Vertrag dürfte nicht nur  eine andere Konstruktion schaffen wollen, sondern müsste auch mit einem großen gesellschaftspolitischen Projekt verbunden sein, das die europäischen Völker fasziniert und mitnimmt, und der Einigung  Europas über Macht und Markt hinaus ein neues Wozu weist.

 

III.

Ob Umbau oder Rückbau, Schrumpfung oder Neugründung - alle Mitgliedstaaten wollen eine „handlungsfähigere" Union. Zugleich wollen sie die dafür  notwendigen Vertragsänderungen so klein halten, dass für deren Ratifizierung Volkabstimmungen vermieden werden. Mit Grund, denn an einem einzigen negativen Votum würde erneut das ganze Projekt scheitern. Und die Bürger wollen mehrheitlich - vielleicht - eine „demokratischere" Union (wie immer sie aussehen mag), aber gewiss keinen Diskurs über neue Vertragskonstruktionen, die ihnen mit Grund herzlich egal sind.

 

Keine neue Vertragsbestimmung könnte das anämische  Wirtschaftswachstum beleben, die Flüchtlingsdramen mildern, die Koordinierung der Wirtschafts- Finanz- und Arbeitsmarktpolitiken stärken, Steueroasen austrocknen, Verteilungsgerechtigkeit europaweit herstellen, die Wettbewerbsfähigkeit auf den globalen Märkten verbessern, die Zusammenarbeit für die innere und äußere Sicherheit von Vorbehalten und Eifersuchten befreien. Die Union sollte ihrem Konstruktivismus eine Pause gönnen und sie durch höhere  Stringenz und Konsequenz der gemeinsamen Politik zur Festigung der angeschlagenen Union nutzen.

 

Einheitliche Währung, Kontrolle der Außengrenzen, gemeinsame Sicherheit, Demokratie - geht das ohne Staat? Trägt die in der Vergangenheit so erfolgreiche Union bei all ihrer erwiesenen, wenngleich immer prekären Krisentauglichkeit von Anfang an den Keim des Zerfalls in sich? Muss sie die Schwelle zur Staatlichkeit überschreiten, um nicht zu zerfallen? Oder wäre gerade das der Schritt in den Zerfall, weil sie auf die Rückkehr des Nationalen trifft?

 

Von Europa her gesehen, war das Nationale nie weg. Die Union stammt nicht von einem anderen Stern und  fällt nicht aus der Zeit. Sie wurde von Nationalstaaten gegründet und von ihnen zu dem gemacht, was und wie sie heute ist. Einen Bundesstaat haben sie nicht aus ihr gemacht. Sie haben sich nie nur als die „Länder" einer Art „Bundesrepublik Europa" gesehen. Auch nicht nur als  „Gliedstaaten" einer „immer engeren Union". Aber sie haben mit ihr, nimmt man alles nur in allem, eine Organisation geschaffen, die Einheit und Eigenständigkeit der Völker und Staaten in Europa in einem nie gekannten Gleichgewicht des Friedens hält.

 

Eine entsprechende Klarstellung, die der Union das Odium des „Zweitbesten" nähme, wäre keine Abkehr vom Leitbild der europäischen Einigung. Schließlich hatten alle ihre bedeutenden Protagonisten zwar ein ungefähres föderales Ziel vor Augen, aber keiner arbeitete darauf hin, die Verfassungen aus den Angeln zu heben und den Untergang der Staatlichkeit ihrer Länder herbeizuführen. Sie dachten alle national und gerade deshalb trieben sie die Einigung Europas voran.

 

Das Nationale stand damals allerdings für den Mut zu Neuem, Freiheit und Wettbewerb, Versöhnung und Einigung der Staaten und Völker. Und wen es emotional nicht mitriss, ließ es mit wohlwollendem Desinteresse geschehen. Das Neonationale heute verbindet sich vielfach mit der Angst vor der Zukunft, dem Grimm und Groll gegen das Fremde, die Zumutungen der Moderne, und hält die Flucht in die Sackgasse des Nationalen für einen Ausweg.

 

Überdruss an den Beengungen durch Verhandlungen und Verpflichtungen, den vielen Abwägungen und Rücksichten bei der Suche nach Kompromiss und Konsens führt in eine diffus-unverhohlene  Verachtung des nationalen wie des europäischen „Systems". Aus dem gleichen Überdruss ließen Christopher Clarks „Schlafwandler" 1914 die alte Ordnung zerfallen und zogen dem, was sie für einen Schrecken ohne Ende hielten, ein Ende mit Schrecken vor. Was damals Feigheit vor den Mühen der Gegenwart und Blindheit für die Offenheit der Zukunft war, ist es heute auch.

 

Die historisch einzigartige stabile Ordnung Europas auf der Grundlage der Freiwilligkeit und des Friedens, des Rechts und der Demokratie trägt diese Offenheit in sich. Ihr Zerfall ist nicht fatal. Sie hat die politische Kultur des Kontinents bereits tiefer geprägt als es weithin bewusst ist. Die Zentrifugalkraft der aktuellen Krisenhäufung wird die Union verformen, ist aber ist nicht stark genug, sie zu zerreißen. Das können die Europäer nur selbst. Keiner der offenbaren oder verdeckten Mängel und Fehler und auch nicht alle zusammen, zwingt sie dazu, das europäische Haus zerfallen zu lassen oder es abzureißen. Sie würden viel verlieren, auch sich selbst. Sie werden es nicht tun.

 

 

Der Text wurde am 29. August in der FAZ-„Die Gegenwart" leicht redigiert veröffentlicht.